Читать книгу Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama - Franziska Schößler - Страница 7
II. Forschungsbericht
ОглавлениеDie Forschung zum bürgerlichen Trauerspiel ist umfangreich, beschränkt sich jedoch, der üblichen Gattungsdefinition entsprechend, auf das 18. Jahrhundert; im letzten Kapitel der Darlegung von Christian Rochow, der ökonomische Aspekte sowie die disziplinatorischen Effekte dieser Gattung berücksichtigt (Rochow 1999, u.a. 11), wird der Niedergang der Gattung im ausgehenden 18. Jahrhundert thematisiert. Insgesamt sind es im Wesentlichen drei Kontroversen, die im Zusammenhang mit dem bürgerlichen Trauerspiel ausgetragen werden.
Auswahlkriterien Trauerspiel und Empfindsamkeit
In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre steht vornehmlich das Verhältnis von bürgerlichem Drama und Empfindsamkeit zur Debatte. Einschlägig ist die Studie von Lothar Pikulik, der den Klassenbezug des bürgerlichen Trauerspiels in Abrede stellt und die Empfindsamkeit für „eine im Kern unbürgerliche Erscheinung“ hält (Pikulik 1966, 170), die klassenungebundene, allgemeinmenschliche Werte propagiert. Er hält fest, dass die Ursache des Trauerspiels „nicht, wie es der Name der neuen Gattung dem Leser des 19. und 20. Jahrhunderts irreführender Weise nahe legt, eine Erstarkung des bürgerlichen Selbstbewußtseins“ (Pikulik 1966, 170) sei. Sauder hingegen betont die enge Verbindung von ‘erstarkendem Bürgertum’ und Empfindsamkeit (Sauder 1980). Diskutiert wird in der Forschung also, wie das Verhältnis von literarischer Produktion und gesellschaftlicher Realität zu beschreiben sei, ob es sich bei dem bürgerlichen Trauerspiel um einen Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit handle oder um eine innerästhetische Innovation.
Literatursoziologische Ansätze
Vornehmlich in den zahlreichen sozialgeschichtlichen, literatur-soziologischen wie marxistisch ausgerichteten Studien wird der enge Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen betont, so in den Untersuchungen von Georg Lukács (1961), Arnold Hauser (1953, 87f.), Peter Szondi (1973), Wolfgang Schaer (1963) und Peter Weber (1970) – die in der DDR entstandene Arbeit Webers knüpft an die von Franz Mehring begründete sozialistische Lessing-Forschung an und betont die gesellschaftspolitische Orientierung des bürgerlichen Trauerspiels. Allerdings wird das Verhältnis von Gesellschaft und Literatur in diesen Arbeiten unterschiedlich bewertet. Nimmt Lukács z.B. an, dass das bürgerliche Trauerspiel das erste Drama sei, „welches aus bewußtem Klassengegensatz erwachsen ist; das erste, dessen Ziel es war, der Gefühls- und Denkweise einer um Freiheit und Macht kämpfenden Klasse, ihrer Beziehung zu den andern Klassen, Ausdruck zu geben“ (Lukács 1961, 277), so vertritt Szondi die Auffassung, dass dieser Klassengegensatz nicht unmittelbar in den Dramen ausgetragen wird, sondern in poetologische Innovationen übersetzt wird; „zwischen dem historisch-sozialen Prozeß, dem Aufstieg des Bürgertums, und seinem Ausdruck im Drama [bestehe] ein sehr viel weniger direktes Verhältnis“, als Lukács postuliere (Szondi 1973, 19). Diese Grundannahme einer eher indirekten, ästhetisch vermittelten Verbindung von Drama und gesellschaftlicher Wirklichkeit gilt auch für diejenigen Studien, die die in den Dramen entwickelte und problematisierte Familienkonzeption in den Blick nehmen (Saße 1988); Jürgen Jacobs z.B. konzentriert sich auf die Figur des Vaters als moralisches, emotionales und rechtliches Zentrum und beschreibt seine paradoxale Stellung zwischen Emotionalität und Autorität (Jacobs 1984).
Patriarchale Familienkonstellationen
Sörensen liest die Trauerspielproduktionen als Reflexionen auf eine problematische patriarchale Familiengeschichte: Wenn das „organische Gebilde“ der patriarchalen Familie an einer Stelle gestört wird, „wird man nach Chr. Wolff sehen, ‘wie das eine unordentliche immer mehr unordentliches nach sich ziehet, nicht allein bey der Person, die es thut, sondern auch bey den übrigen’ (§ 202). Die bürgerlichen Trauerspiele und die Familiendramen des 18. Jahrhunderts muten wie Exemplifizierungen dieser Worte an, denn fast immer nimmt hier der Konflikt seinen Ausgangspunkt in einer Störung der familialen Ordnung.“ (Sörensen 1984, 17) Neuerdings wird diese Familienkonstellation unter gender-Aspekten behandelt. Die Untersuchung von Susanne Komfort-Hein beispielsweise legt ihren Fokus auf die Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern, die sich in den Dramen abzeichnen und die Ständegrenzen zu substituieren beginnen (1995).
Revision der literarischen Tradition
Die Gegenposition zu dieser Forschungstradition geht von der Frage aus, ob die Gattung nicht jenseits von sozial-gesellschaftlichen Prozessen als literaturimmanente Innovation zu beschreiben sei. Richard Daunicht (1963) z.B. dementiert den zentralen Einfluss gesellschaftlicher Verhältnisse; Horst Steinmetz betont den engen Zusammenhang von bürgerlichem Trauerspiel und heroischer Tragödie (1987, u.a. 71) und führt das partielle ästhetische Misslingen der neuen Gattung auf diesen Bezug zur heroischen Tragödie zurück. „So ist es eben der tragische Duktus, der das bürgerliche Trauerspiel als Kunstwerk ins Zwielicht geraten läßt.“ (Steinmetz 1987, 72) Rosmarie Zeller rekonstruiert vor dem Hintergrund eines semiotischen Ansatzes die innerliterarischen Veränderungen gattungsästhetischer Normen (1988), und Gisbert Ter-Nedden fokussiert die Übernahme klassischer Tragödienmuster in Lessings psychologisierenden Dramen (1986).
Trivialdramen
Zudem wird wiederholt darüber diskutiert, welche Dramen dieser Gattung zuzurechnen seien (Alt 1994, 13). In seinem einschlägigen und überaus instruktiven Einführungsband erstellt Karl S. Guthke eine Typologie derjenigen Motive und Personen, die insbesondere in den ‘trivialen’ Versionen der Gattung zu finden sind. Geschildert wird gemeinhin ein Familienkreis; der versuchte Eintritt in die galante, große Welt löst meist die Tragödie aus. Im Zentrum steht nicht selten ein junges Mädchen, dessen Liebhaber in der Regel empfindsam und tugendhaft ist; breit ausgemalte Sterbeszenen sind beliebt, ebenso tableauartige Schlussauftritte (Guthke 1994, 62f.). Seiner Typologie schließt Guthke eine Liste der im 18. Jahrhundert als bürgerliche Trauerspiele bezeichneten Dramen an (1994, 66f.).
Höhenkammdramen
Guthke weist darauf hin, dass die Konzentration auf eine geringe Anzahl an Höhenkammdramen problematisch sei, hält jedoch apologetisch fest: „So unreflektiert dieser traditionelle Konsensus ist – eine als Handbuch gedachte Darstellung hat keine Wahl, als sich ihm prinzipiell, wenn auch nicht unkritisch, anzuschließen.“ (Guthke 1994, 3) Gleiches gilt für die vorliegende Untersuchung. Die Konzentration auf einige wenige Kanondramen, wie sie in der Forschung vielfach herrscht, kritisiert Cornelia Mönch mit Nachdruck. Sie stellt eine Liste derjenigen Autoren und Autorinnen zusammen, die die Gattung weiter fassen und damit für ihre Studie vorbildlich sind (1993, 52); zu diesen zählt Mönch z.B. Karl Eibl (1984). Mönch betont die Diversität der rezeptionsästhetischen Modelle, die die bürgerlichen Trauerspiele umsetzen; J. G. B. Pfeils Lucie Woodvil, ein Drama, das Lessings Erstling Miß Sara Sampson in vielem gleicht, ist beispielsweise nach dem moraldidaktischen Muster der poetischen Gerechtigkeit konstruiert, nach dem das Laster bestraft, die Tugend belohnt wird. Lessing hingegen folgt in Miß Sara Sampson einer Mitleidsdramaturgie, die den Nexus von Unglück und Verdienst/Tugend verlangt (Mönch 1993, 44). Mönch analysiert eine 225 Titel umfassende Dramenliste, die Christian Heinrich Schmid 1798 zusammengestellt hat. Aus diesen zum Großteil vergessenen Stücken extrapoliert Mönch eine Typologie, die sie gegen die kanonisierten Texte des bürgerlichen Trauerspiels abgrenzt. Die Untersuchung von Brenner zu Lessing, die vor allem bislang eher vernachlässigte literaturkritische und religionspolemische Schriften des Autors untersucht, schließt sich Mönchs Kritik an, stellt entsprechend Lessings Vorreiterrolle im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels in Frage und verweist auf die zahlreichen trivialdramatischen Produktionen (Brenner 2000, 222; zu Lessings Verständnis von ‘Religion‘ vgl. Feil 2013).
Soziales Drama und neues Volksstück
Auch die Forschung zum sozialen Drama, das teilweise mit dem Gattungsbegriff des neuen Volksstücks zusammenfällt, ist umfangreich, wie die Metzler-Einführung von Thomas Schmitz dokumentiert (Schmitz 1990). Zum Kanon dieser Untersuchungen gehören meist die Stücke von Fleißer, Brecht, Horváth, Kroetz, Turrini, Sperr etc., Autoren, die in der instruktiven Studie über das Volksstück von Hugo Aust, Peter Haida und Jürgen Hein ebenso behandelt werden (Aust, Haida, Hein 1989, 282f.) wie in der Untersuchung von Eva Kormann (1990); diese Dissertation leistet eine Bestandsaufnahme der Autoren und Autorinnen der 1970er Jahre und ist vor dem Hintergrund des Informationsvergabemodells von Pfister angelegt. Zu nennen wären zudem die Arbeiten von Peter Schaarschmidt (1973), Walter Dimter (1973) und Herbert Herzmann (1997). Herzmann beschäftigt sich vor allem mit dem Altwiener Volksstück, dessen Tradition er bis zu Dramen wie z.B. Jelineks Burgtheater. Eine Posse mit Gesang fortgesetzt sieht. Ursula Hassel (2001) verfolgt ebenfalls die Linie, die vom bürgerlichen Trauerspiel zum Wiener Volkstheater und kritischen Volksstück führt, wie auch ihre Aufsatzsammlung, die sie zusammen mit Herbert Herzmann herausgegeben hat (1992). Torsten Bügner behandelt Kroetz, Sperr, Fassbinder sowie Wolfgang Bauer und betont den Einfluss des Fernseh-Volksstücks auf das Drama von Kroetz und Sperr (1986, 63f.); Hajo Kurzenberger legt eine Studie zum Volksstück vor, in der er Horváth im Kontext von Handke behandelt (Kurzenberger 1974, 70f.). In diesen Studien wird also vielfach die Gattungslinie vom Altwiener Volksstück zum neuen der 1920/1930er Jahre und der 1970/1980er Jahre verfolgt, wie beispielsweise auch in der Aufsatzsammlung von Jürgen Hein (1973). In der vorliegenden Untersuchung werden vor allem diejenigen Dramen des neueren Volksstückes vorgestellt, die in einem engen Bezug zur Tradition des bürgerlichen Trauerspiels stehen, also Kroetz’ Hebbel-Adaption Maria Magdalena sowie Fassbinders Drama Bremer Freiheit, das mit „bürgerliches Trauerspiel“ untertitelt ist.
Soziales Drama und bürgerliche Lebensform
Die Darstellung von Elise Dosenheimer, die das soziale Drama zum Thema hat und einen Bogen von Lessing zu Sternheim spannt, kann in gewissem Sinne als vorbildlich für die vorliegende Einführung gelten. Denn auch Dosenheimer versteht die diversen dramatischen Gattungen – das bürgerliche Trauerspiel, das soziale Drama des Jungen Deutschland, das naturalistische und expressionistische soziale Drama – als Ausdrucksformen eines gemeinsamen sozialen Anliegens sowie einer genuin bürgerlichen Lebensform. In einem eröffnenden Kapitel beschreibt sie das Leistungsethos des Bürgertums sowie seine rationalistisch-puritanischen Überzeugungen als Bedingungen, die die bürgerliche Tragödie ermöglichen: „Es handelt sich also bei der Geburt einer bürgerlichen Tragödie um zwei Erfordernisse: nicht nur um ein Bürgertum, das einen Gehalt für sie bieten konnte, sondern auch um eine Theorie, die ihm das Recht auf tragische Symbolisierung zusprach, die es tragisch ‘hoffähig’ machte.“ (Dosenheimer 1949, 15) Allerdings können die Interpretationen, die Dosenheimer vorlegt, als veraltet gelten.
Das Ringen um kulturelle Repräsentanz
Die vorliegende Einführung versucht also aus einer Perspektive, die Literatur als kulturellen Ausdruck bürgerlicher (Macht-)Verhältnisse deutet, die traditionellen Gattungsgrenzen durchlässiger zu machen. Wird die Frage gestellt: „Wer ist tauglich, zu leiden?“, „Wer ist tragikfähig?“, so lassen sich bürgerliches Trauerspiel und soziales Drama als verwandte Spielarten behandeln; es lässt sich eine gemeinsame Geschichte der Deklassierung und des Ringens um (ästhetischen) Ausdruck, um kulturelle Repräsentanz, rekonstruieren.