Читать книгу Katzmann und das verschwundene Kind - Franziska Steinhauer - Страница 6
EINS
Оглавление«ABER DAS IST DOCH nicht möglich!» Verzweifelt warf die blonde Frau beide Hände hoch in die Luft und ließ sie dann, als habe sie plötzlich alle Kraft verlassen, wieder in den Schoß fallen.
«Wir geben uns alle erdenkliche Mühe», versicherte Kommissar Fritz Ganter und wiegte seinen schweren Kopf bekümmert von einer Seite zur anderen. «Jeder Polizist draußen auf der Straße weiß inzwischen Bescheid. Alle halten Ausschau nach Trude. Wir haben mit ihren Freundinnen gesprochen, mit der Lehrerin, aber niemand konnte uns weiterhelfen.»
Fritz Ganter, untersetzt und von ausgesprochen unsportlichem Naturell, beobachtete betroffen, wie sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Natürlich konnte er, selbst Vater einer Tochter, ihren Kummer nachfühlen. Es war nicht leicht zu begreifen, wie ein blonder Engel auf dem Weg zur Schule verschwinden konnte, als sei er vom Erdboden verschluckt worden.
Er verstand es auch nicht.
Sein wie für die Ewigkeit gezogener Scheitel rötete sich leicht, und unter dem mit Pomade fixierten Kurzhaarschnitt bildete sich trotz der Kälte im Bureau ein Film feinster Schweißtröpfchen. Als Frau Winterstein vor wenigen Tagen angab, ihre Tochter sei von der Schule nicht nach Hause gekommen, hatte er sich nicht ausmalen können, wie sich dieser Fall entwickeln würde. Kein Problem, war sein erster Gedanke, bis zum Abend bringen wir die Kleine nach Hause zurück. Doch das Mädchen fand sich nicht wieder ein. Das wirklich Irritierende war aber, dass niemand das Kind gesehen hatte. Weder am Tag seines Verschwindens noch danach. Nicht einmal die neugierige und überaus schwatzhafte Frau Janker, die im Parterre direkt gegenüber der Schule wohnte und wirklich alles mitbekam, was in der Straße vor sich ging.
Es gab nur drei Möglichkeiten. Erstens: Das Kind war tot. Der weiße, zarte Körper lag irgendwo leblos mit einer blutroten Wunde quer über den Hals. Doch daran mochte Fritz Ganter gar nicht denken. Die andere Möglichkeit, so schien ihm, war auch nicht viel besser: Das schmächtige Kind in der Hand eines Wüstlings, der es in irgendeinem Keller gefangenhielt. Auch eine dritte Variante konnte er nicht ausschließen. Entgegen der Darstellung der Mutter war es möglich, dass es sich bei dem Mädchen um eines von der abenteuerlustigen Sorte handelte. Konnte es also sein, dass niemand sie gesehen hatte, weil sie das selbst so wollte? War der Augenstern der Mutter schlicht durchgebrannt?
«Sie können doch hier nicht so untätig rumsitzen, während irgendjemand meinen Liebling verschleppt hat! Von allein wird Trude kaum an Ihren Schreibtisch kommen. Suchen Sie mein Kind! Sie tun doch überhaupt nichts! Am Ende ist sie gestürzt und liegt irgendwo, hilflos!»
Fritz Ganter beschloss, stoische Ruhe zu bewahren. Natürlich hatten sie den Weg zur Schule abgesucht - großräumig. Unter jedem Busch und hinter jedem Baum suchten Polizisten und Freunde der Wintersteins, doch das Kind wurde nicht gefunden.
«Sie wissen, dass wir …» Weiter kam er nicht.
Rüde fiel ihm die Mutter ins Wort: «Dann tun Sie mehr! Trude ist ein wohlerzogenes Mädchen. Sie geht nicht mit Fremden mit. Sie bemühen sich gar nicht, meine Kleine zu finden!»
Ganter hielt für zehn Sekunden den Atem an - eine Methode, die sich bewährt hatte. Was wusste diese elegante Dame schon von Polizeiarbeit? Er musterte ihre verhärmten, sorgenvollen Züge, und plötzlich war sein Zorn verraucht. Sie tat ihm leid. Wenn er ihr erzählte, wo er schon überall nach der Kleinen gesucht hatte - die Augen würden ihr übergehen! Erst gestern eine Razzia im Puff von Madame Antoinette. Im Hinterzimmer hatten sie einige Dresdner Größen beim illegalen Glücksspiel ertappt, von Trude aber keine Spur gefunden.
«Frau Winterstein, ich verstehe Ihre Aufregung. Es ist natürlich schrecklich, wenn die kleine Tochter nicht nach Hause kommt. Sie können mir glauben, wir versuchen alles, um Trude zu finden.» Beinahe hätte er hinzugefügt: Und wenn wir jeden Stein umdrehen müssen. Es gelang ihm allerdings in letzter Sekunde, sich auf die Lippen zu beißen und den Fauxpas zu verhindern. Diese flapsige Redewendung wäre von der hysterischen Mutter womöglich so ausgelegt worden, dass die Polizei gar nicht mehr daran glaube, Trude lebend zu finden. Denn wer unter einem Stein liegt, ist in der Regel tot.
In die Augen der Mutter schlich sich ein bösartiger Ausdruck. Ganter, der ein sorgfältiger Beobachter war, bemerkte es sofort. Er ahnte, was nun unweigerlich kommen musste.
«Wenn die Suche nach meinem Liebling Sie derart überfordert, werde ich mit Ihrem Vorgesetzten reden, damit er Sie von dieser Aufgabe entbindet!», intonierte sie schrill.
Ganter wartete eine geschlagene Minute, bevor er freundlich erklärte: «Das hat Ihr Arbeitgeber bereits getan. Nach diesem Gespräch wurde ich von meinem Vorgesetzten ausdrücklich für meine bisher geleistete Arbeit in dem Fall gelobt. Niemand denkt daran, mich abzuziehen. Frau Winterstein, der Schmerz über das unerklärliche Verschwinden Ihrer Tochter verstellt Ihnen den Blick!»
Falls er erwartet hatte, sie sei nun entsprechend zerknirscht oder gar beschämt, sah er sich enttäuscht. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen offener Hass sprühte.
«Vor mir werden Sie erst wieder Ruhe haben, wenn Sie meine Trude gesund bei mir abgeliefert haben!», zischte sie bebend Und Ganter befürchtete, dass es genau so sein würde. Doch in dem Augenblick, als Frau Winterstein die Bureautür mit Schwung hinter sich zuknallte, hatte er eine Idee: Konrad! Der würde ihm sicher helfen.