Читать книгу Katzmann und das verschwundene Kind - Franziska Steinhauer - Страница 8
DREI
ОглавлениеDrahtmitteilung unseres Dresdenkorrespondenten Konrad Katzmann vom 1. November 1918, exklusiv für die Leipziger Volkszeitung:
Grünes Gewölbe wird geschlossen
Sie möchten das Grüne Gewölbe besuchen? Es den Kindern zeigen? Dann bleibt für einen Besuch in der Schatzkammer Sachsens nicht mehr viel Zeit. Das Grüne Gewölbe schließt ab 9. November 1918 seine Türen. Wegen des chronischen Kohlemangels sei es nicht mehr möglich, die Räumlichkeiten ausreichend zu beheizen. Daher sehe man sich gezwungen, diese drastische Maßnahme zu ergreifen. Der Kurator wies darauf hin, die Schließung sei auch eine Reaktion auf eine Reihe von versuchten Diebstählen durch Besucher. Um den einmaligen Schatz nicht zu gefährden, sei es sinnvoll, der Öffentlichkeit bis auf weiteres den Zutritt nicht mehr zu gestatten. Wie lange diese Regelung gelten wird, ist noch nicht endgültig entschieden.
NACH KURZEM, ABER HEFTIGEM KAMPF mit Schlüssel und Schloss gelang es Katzmann, mit zitternder Hand die Tür zu öffnen, in der anderen hielt er den noch immer schlafenden Hund.
Die Wohnung war kalt. Sein Atem bildete kleine Kondenswölkchen. Rasch schob er Kohle in den Ofen und heizte ein. Er pellte den Hund aus den verschiedenen Bekleidungsschichten hervor und setzte den Kleinen auf einer Decke ab, bevor er sich eilig der nassen Sachen entledigte.
«Weißt du was, ich werde dich Harry nennen - das passt ausgezeichnet zu deiner struppigen Frisur. Einem so strubbligen Hund bin ich überhaupt noch nie begegnet», lachte er leise und strich mit dem Zeigefinger über die Nase des Kleinen.
Seine Gedanken kehrten zu dem seltsamen Mädchen zurück. Alle Achtung, die Kleine hatte sich ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben ins kalte Wasser gestürzt! Mächtig mutig! Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie herausfinden würde, wo er wohnte. Fast bedauerte er die Tanten, die mit der Aufsicht sicher vollkommen überfordert waren.
«Abenteuerlust pur! Dein Glück, dass Katja bemerkt hatte, wie du in dem Sack gestrampelt hast.»
Wenig später war Katzmann umgezogen, der Ofen strahlte behagliche Wärme ab, und der Hund lag satt in die Decke gekuschelt auf dem Sofa und beobachtete genau, wie dieser Mensch die Kleidungsstücke über Stuhllehnen hängte und Papier in die Schuhe stopfte.
Die beiden waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie heftig zusammenfuhren, als es an der Tür klopfte.
Katzmann knurrte unwillig über die Störung, warf einen prüfenden Blick auf seinen neuen Mitbewohner, der die Augen jetzt fest geschlossen hielt, als könne man dafür einen Preis gewinnen, und schlurfte zur Tür. «Wer ist da?»
«Fritz!»
«Nanu, ist was passiert?», fragte Katzmann und öffnete die Tür.
«Nein, nein. Deine Mieterin hat mich reingelassen, sie wollte gerade gehen. Und ich weiß ja von den beiden Kindern, also bin ich die Treppe leise raufgeschlichen», erklärte Ganter etwas atemlos und schob sich in die Wohnung. «Ich bin so halb dienstlich hier.»
«Willst du mich verhaften, weil ich der Familie Ludwig die Wohnung zu billig vermietet habe?», flachste Konrad und nahm dem Freund den schweren Mantel ab. «Mein Vater meint, es sollte da unbedingt eine gesetzliche Regelung geben, die einen festen Mietpreis verbindlich vorschreibt.»
«Ja, das kann ich mir vorstellen. Das ärgert ihn sicher sehr: Der Sohn lässt im Haus des Großvaters einen Kriegsheimkehrer für ein symbolisches Entgelt wohnen. Weißt du, Konrad, er hat es nicht leicht mit dir!», lachte Ganter.
«Kriegsversehrt ist, glaube ich, das richtige Wort. Frau Ludwig putzt das Treppenhaus und fegt die Straße. Das ist mir Miete genug. Diese Familie hat nichts zu verschenken.»
«Bekommt er denn keine finanzielle Unterstützung?»
«Das ist noch nicht entschieden. Er verhält sich mitunter eigenartig, die Ärzte versuchen noch herauszufinden, woran das liegt», antwortete Katzmann ernst. «Einige denken ja, die Blindheit sei vorgetäuscht und seine Anfälle nur großes Theater. Die halten ihn für einen Simulanten. Die müssten mal sehen, was passiert, wenn er wieder einen Anfall hat! Er sieht ja nicht einmal, wer mit ihm spricht. Die Frau hat es richtig schwer.»
Ganter schnupperte mit hoch in die Luft gereckter Nase. «Bei dir riecht es eigentümlich. Nach feuchten Klamotten und nassem Hund.»
«Dir kann so schnell keiner was vormachen, wie?» Konrad führte den Besucher in sein Wohnzimmer. «Ich war heute mit einem Mädchen und einem Hund in der Elbe baden.»
«Aha. Muss ich mir jetzt Sorgen um deine geistige Gesundheit machen? Weder ist das die richtige Jahreszeit, noch hast du elementare Grundregeln beachtet: Die Kleidung behält man beim Baden nicht an!»
«Ich fürchte, du hast recht, aber ich hatte keine Badebekleidung zur Hand. Wie wäre es mit einem Glas Wein?»
«Aus Großvaters Weinkeller? Gern!», freute sich Ganter. Nachdem Flasche, Gläser und Kekse aus der Küche geholt und auf dem Tisch verteilt waren, schenkte Konrad ein und prostete dem unerwarteten Besucher freundlich zu.
«Mensch Konrad, wir sollten mal wieder in die Bierschenke gehen! Gemütlich ist es dort, nicht so trist wie sonst in der Stadt. Vielleicht gibt es in diesem Jahr auch Elefantengulasch.» Fritz leckte sich die Lippen bei der Erinnerung. «Das wäre doch eine großartige Sache!»
«Unwahrscheinlich», konterte Konrad. «Zum Glück muss Sarrasani nicht in jedem Jahr einen seiner Elefanten töten. Sonst wäre der Zirkus sicher schon längst Geschichte.»
«Mag sein. Löwensteak? Giraffengulasch? Ich wäre da nicht wählerisch. Im Augenblick bekommen ohnehin alle lächerlich wenig Fleisch. Aber das war schon exotisch, so etwas wie Elefantenbraten mit Soße an Kartoffeln auf einer Dresdner Speisekarte zu finden», schwärmte Ganter weiter mit leuchtenden Augen. «Und lecker war es außerdem!» Er sah sich um. «Hast du inzwischen alle Bände deines Lieblingsautors?»
Katzmann lachte leise. «Nein. Aber lang dauert es nicht mehr. Es ist nur noch wenig Platz in meinem Karl-May-Regal frei, wie du siehst. Den füllen die beiden fehlenden Bände dann aus.»
Der Freund registrierte eine Bewegung unter der Decke auf dem Sofa. «Was hast du denn da?»
«Nichts, was man essen wollte! Das ist der nasse Hund, der zu den nassen Kleidern passt. Weißt du, es gibt Tage, an denen passieren einfach unglaubliche Dinge. Und das war ein echtes Abenteuer - auf Leben und Tod!»
Ganter schmunzelte amüsiert über die dramatische Pose, die der Freund eingenommen hatte. So war Konrad immer schon gewesen: leichtsinnig und in irgendwelche Abenteuer verstrickt. Zu Schulzeiten war er dadurch oft in Schwierigkeiten geraten. «Wenn man mit Hund und ohne Schirm in einen heftigen Regen gerät, ist das für mich nichts, was ich als Abenteuer bezeichnen würde!»
«Aber Fritz! Heute hat es gar nicht geregnet! Bei den Temperaturen wäre das auch nur schwer möglich. Es hätte geschneit», widersprach Katzmann gut gelaunt.
«Na los, erzähle!»
«Es hat schon gestimmt: Ich war mit einem Mädchen und diesem Hund in der Elbe baden. Natürlich nicht aus Spaß. Jemand hat einen Sack übers Geländer der Augustusbrücke geworfen, ich wollte nachsehen, was es war. Plötzlich hörte ich Hilfeschreie aus dem Wasser. Na, du kennst mich ja …»
«Also bist du voller Angst weggelaufen», neckte der Freund.
«Ich rein ins eisige Wasser. Und was finde ich da?»
«Einen sprechenden Hund. Toll! Mit dem kannst du ab sofort im Zirkus auftreten. Vielleicht fällt dann ab und zu mal einen Löwensteak für dich ab. Das teilst du dann hoffentlich mit deinem besten Freund.»
«Quatsch. Ein Mädchen hatte die Aktion mit dem Sack auch beobachtet und wollte ihn aus dem Wasser ziehen. Am Ende musste ich beide aus der Elbe retten, Mädchen und Beutel. Der Hund hier war drin. War gar nicht so einfach. Ich hatte die Temperatur über- und die Strömung an der Stelle unterschätzt.»
«Konrad, du Held!» Fritz hob sein Glas, blinzelte dem Reporter zu und nahm einen kräftigen Schluck. «Es ist wie früher, nicht wahr? Du bringst dich noch immer in brenzlige Situationen. Weißt du noch, wie du von der Gruppe um Jürgen verschleppt worden bist? Weil du den kleinen Anton vor ihnen beschützt hattest, als er Klassenkeile beziehen sollte?»
Katzmann grinste. «Aber diesmal warst du nicht zur Stelle. Der Sohn eines Polizisten, der den Katzmann sonst immer gerettet hat. Wie damals, als du mich aus dem Verlies geholt hast. ‹Mein Vater wird euch alle verhaften!›, hast du gerufen. Das war sehr, sehr beeindruckend, Fritz!»
«Es hat gewirkt! Obwohl ich klein und dick war, haben sie mir ihren Gefangenen übergeben», erinnerte sich Ganter grinsend und fragte dann: «Wie hieß denn nun die holde Maid, die du aus dem Wasser gezogen hast?»
«Katja. Mehr weiß ich nicht. Urplötzlich tauchten ein paar Tanten von ihr auf und nahmen sie mit nach Hause. Offensichtlich hatten sie schon länger nach ihr gesucht. Ich weiß nicht einmal, wo sie wohnt. Eigentlich gehört Harry ihr.»
«Wie sah deine Katja denn aus?», fragte Fritz mit erwachtem beruflichem Interesse.
«Fritz! Es war dunkel. Immerhin konnte ich auf der Straße erkennen, dass sie lange dunkle Haare hat und sehr große dunkle Augen.»
«Dann ist es nicht die, die ich suche. Das Mädchen ist blond.» Der Kommissar lehnte sich wieder ins Polster zurück. «Ehrlich, der Wein deines Großvaters ist sehr wohlschmeckend. Aber mir steht eher der Sinn nach einem Bier. Lass uns irgendwo hingehen, ins Waldschlösschen zum Beispiel. Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.»
«Du hast es wieder getan, nicht wahr?», zischte ihre Stimme schneidend durch die Küche, und ihre knochigen Finger schlugen hart gegen seine Wange.
Eine Verkehrte reinhauen, so nannte sie das, und es bedeutete, dass sie mit der Rückseite der Hand zuschlug. Ihr Ring riss eine hässliche Wunde. Der Schmerz brannte sich bis zu den Zähnen vor, und er konnte Blut riechen. Sein Blut. Er spürte, wie es durch die Barstoppeln rann.
«Ich hatte es dir verboten! Ausdrücklich!» Wieder zog der Ring eine Verletzung. Diesmal knapp neben dem Auge.
Er wimmerte. Das tat er in Situationen wie dieser immer. Manchmal half es, manchmal nicht.
«Du Memme!», schleuderte sie ihm in Gesicht.
Sie griff nach dem Schrubber in der Ecke neben dem dreckverkrusteten Herd und drehte das borstige Ende nach oben. «Hast du dir je überlegt, wovon wir leben sollen, wenn ich diese Anstellung verliere? Wie sollen wir die Preise auf dem Schleichmarkt bezahlen? Nein, darüber hast du nicht nachgedacht, natürlich nicht! Dazu ist dein Spatzenhirn nicht ausreichend, das beschäftigt sich mit ganz anderen Fragen!»
Unerwartet heftig sauste die stinkende Bürste auf ihn nieder. Er hörte das Knacken, als sein Nasenbein brach.
«Warum habe ich nicht auf meine Mutter gehört? Die hat mir gleich gesagt, dass einer wie du nichts taugt!»
Er schluchzte, bekam keine Luft mehr, röchelte, schmeckte Blut, roch Blut. Panik erfüllte ihn. Er wollte nicht sterben. Schützend barg er sein Gesicht in der Armbeuge.
«Aber nein, ich musste ja ausgerechnet einen Spinner wie dich heiraten! Nicht einmal für die Hausarbeit taugst du!»
Wieder holte sie zu einem mächtigen Schlag aus, diesmal gegen seine Lende, so dass er im Reflex die Arme herunterriss und ächzend die Seite umklammerte.
«Du kannst nicht nur deine Frau nicht ernähren, wie es deine Pflicht wäre - nein, schlimmer noch, du bist von dem Geld abhängig, das sie verdient! Und dann fällt dir nichts Besseres ein, als ihre Arbeit zu gefährden. Wie kann man nur so entsetzlich dämlich sein?» Erneut nahm sie Schwung.
Waidwund sah er auf die zierliche Gestalt hinunter und dachte darüber nach, was wohl geschehen würde, wenn er sie oder den Stiel einfach packte. Seine Pranken, riesig und muskulös, konnten das Leben aus ihr herausquetschen wie das Mark aus einer reifen Banane. Für einen fast seligen Moment genoss er die Vorstellung, wie sie schreiend in seinen Armen zappelte, um Gnade bettelte, die er ihr nicht gewähren würde.
Doch das würde er sich natürlich nie trauen.
In der Kneipe war es überraschend leer. Der Geruch von gebratenen Zwiebeln hing in der Luft und vermischte sich mit den graublauen Rauchschwaden über dem Tresen. Bratkartoffeln mit Zwiebeln war das einzige Gericht, das noch auf der Karte stand. Die anderen hatte der Wirt mit einem schwarzen Stift durchgestrichen.
«Hm!» Fritz nahm einen tiefen Zug und starrte verzückt auf sein Glas, an dem das Kondenswasser tausende Perlen bildete.
«Wunderbar! Konrad, ich habe vielleicht eine Geschichte für dich.»
«Für die Zeitung?»
«Möglich. Ich sage das nicht gern, doch im Moment sieht es nicht so aus, als käme die Polizei allein weiter. Und ich weiß ja, dass du Rätsel magst.»
«Dann raus mit der Sprache. Immerhin bin ich jetzt Dresdenkorrespondent der Leipziger Volkszeitung!»
«Oh! Gratuliere, mein Freund! Dann bist du also genau die richtige Adresse für mich.» Er nahm sein Glas vom Tresen und zog sich mit Konrad in eine ruhige Ecke zurück. «Also: Vor etwas mehr als einer Woche kam eine völlig aufgelöste Mutter zu mir ins Bureau. Es war kurz vor Dienstschluss, und sie berichtete mir, ihre Tochter Trude sei nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Das Mädchen ist zehn Jahre alt, zart, blond mit grauen Augen. Bei der besten Freundin hatte die Mutter schon nachgefragt und dabei erfahren, Trude sei den ganzen Tag nicht in der Schule gewesen.»
«Am Morgen hatte sie keinen kranken Eindruck gemacht?»
«Nein.» Fritz nahm einen kleineren Schluck. «Im Gegenteil, sie war fröhlich und freute sich auf den Unterricht. Die Mutter hatte keinen Anlass zu vermuten, Trude habe vor, der Schule fernzubleiben. Nach ihrem Verschwinden befragten wir natürlich die Nachbarn. Die hatten das Mädchen beim Verlassen des Hauses gesehen, mit dem Ranzen auf dem Rücken und zur üblichen Zeit.»
«In der Schule ist sie nie angekommen? Dafür mag es viele Gründe geben. Einen Anfall von Abenteuerlust zum Beispiel. Oder sie hatte Streit mit der Mutter, will sie nun bestrafen und ist in einen Zug gestiegen und einfach losgefahren», zählte Konrad auf. «Natürlich könnte ihr auch etwas Schreckliches zugestoßen sein.»
«Wir haben den ganzen Schulweg abgesucht, vom Vogesenweg bis zum Tor der St.-Magdalenen-Schule in der Lortzingstraße. Hinter jeden Busch haben wir geguckt, viele Keller durchsucht, auf Hinterhöfen rumgestöbert. Keine Spur. Niemand hat sie gesehen, weder allein noch in Begleitung», seufzte Ganter, der an die Szene dachte, die ihm die Mutter am Nachmittag gemacht hatte.
«Und in der Nähe der Schule hat sie auch keiner gesehen?»
«Da haben wir großes Glück gehabt. Es gibt eine Zeugin, die gegenüber der Schule wohnt und jeden Morgen die Ankunft der Kinder beobachtet. Und diese alte Dame, Frau Janker, hat versichert, an diesem Morgen die kleine Trude nicht gesehen zu haben.»
«Hm. Was sagte die Mutter bei der Befragung? Es gab keinen Streit?»
«Nein. Trude ist ein besonders braves Mädchen. Auch die Nachbarn berichten von wenig Auseinandersetzungen.» Fritz warf Konrad einen Blick zu, in dem Katzmann die leise Verzweiflung erkennen konnte, die den anderen erfasst hatte. «Wir wissen, dass hinter einer anständigen, bürgerlichen Fassade das blanke Grauen herrschen kann. Ich bin Kommissar! Du glaubst nicht, was ich schon alles gesehen habe! Aber bei diesen Leuten scheint es sich tatsächlich um eine nette Familie zu handeln.» Er verstummte, holte tief Luft und erklärte: «Es kommt gar nicht so selten vor, dass Kinder weglaufen. In den Kriegsjahren ist die Situation in manchen Familien unerträglich geworden. Es gibt wenig zu essen, der Vater ist an der Front, die Mutter von Sorgen zerfressen, da bleibt das Kind manchmal auf der Strecke. Meist sind es Jungs, selten Mädchen. Und es handelt sich oft um ausgesprochen schwierige, trotzige und widerspenstige Kinder. Aber hier liegt der Fall anders.»
«Gibt es auch einen Vater?», fragte Konrad unbeirrt weiter. Er war Reporter und wusste um die geschickt getarnten Grausamkeiten, die in netten Familien mitunter üblich waren. Er zog einen kleinen Notizblock aus der Gesäßtasche und grinste. «Immer noch feucht! Dabei steckte der im Mantel.»
«Der Vater arbeitete in Berlin. Ich weiß nicht, woran er getüftelt hat, aber es muss bei irgendeiner Versuchsreihe zu einer heftigen Explosion gekommen sein. Er verlor einen Arm, ein Auge und zieht das linke Bein nach. Seine Frau hat eine Stelle als Schreibkraft angenommen, damit die Familie finanziell über die Runden kommt.»
«Dann war die Kleine nicht viel allein. Der Vater konnte ja sicher bei den Hausaufgaben helfen, und vielleicht spielten sie den Rest des Nachmittags ‹Mensch ärgere dich nicht› oder Canasta. Ein behütetes Leben demnach.»
Ganter begann rumzudrucksen. «So ganz stimmt das nicht. Der Vater ist natürlich nicht den Nachmittag über zu Hause. Er versucht, bei seiner alten Firma bleiben zu können, vielleicht als Berater oder Entwickler. Selbst mitarbeiten kann er nicht mehr, die Behinderungen schränken ihn zu stark ein.»
«Er ist demnach in der Rüstungsindustrie beschäftigt. Fritz, mach nicht immer solch ein Geheimnis aus deinen Informationen! Wenn ich dir helfen soll, musst du mir schon vertrauen», beschwerte sich Konrad. «Wie heißt die Familie eigentlich?»
«Muss ich dir das sagen?»
«Aber ja!»
«Bisher haben wir den Namen nur im direkten Umfeld der Familie mitgeteilt, die wussten ja ohnehin von Trudes Verschwinden. Wenn du den Namen in der Zeitung nennst, machst du nur allerhand Gesindel auf den Fall aufmerksam. Stell dir nur vor, einer von denen findet die Kleine und verschleppt sie tatsächlich, um Lösegeld von der Familie zu erpressen!» Fritz’ Gesicht schien plötzlich nur noch aus Sorgenfalten zu bestehen.
«Fritz!»
«Ist ja schon gut! Die Familie heißt Winterstein, und im Moment geht es ihr finanziell nicht gerade rosig. Frau Winterstein möchte nicht, dass alle Welt erfährt, dass sie nun arbeiten muss, um das Einkommen zu sichern. Wenn jetzt eine Forderung käme, könnten sie sie nicht bedienen.»
«Es geht also auch darum, das Ansehen nicht zu beschädigen. Ich verstehe schon.»
«Auch», räumte Ganter zerknirscht ein. «Aber stell dir nur vor, wie entsetzlich das wäre, das eigene Kind nicht auslösen zu können, weil das Geld nicht reicht!»
Katzmann verstand das sehr gut. Fände man dann die Leiche des Kindes, würde die Familie in eine tiefe Krise stürzen, sie könnte sich das nie verzeihen. Doch der Reporter in ihm rebellierte. «Und was erwartest du jetzt konkret von mir?», fragte er ruppiger als geplant. «Einen Artikel ohne Namen? Das lehnt Leistner, mein Redakteur in Leipzig, glatt ab. Sowas schadet meinem Ruf!»
«Ich dachte eher an einen allgemeinen Artikel über ein verschwundenes Mädchen», flüsterte Fritz, der einem Neuankömmling forschende Blicke zuwarf. «Ich dachte an einen einmaligen Artikel zu der Angelegenheit, vielleicht melden sich dann Leute bei uns, die das Mädchen gesehen haben. Aber im Wesentlichen ging es mir um deine investigativen Fähigkeiten», schmeichelte er dem Freund.
«Hört, hört!», rief Konrad.
«Mir sind die Hände in manchen Bereichen gebunden - es gibt Menschen, die sich mit der Polizei nicht gern unterhalten, weil sie vielleicht etwas zu verbergen haben.»
«Ach! Und jetzt denkst du, bei einem Reporter hätten sie weniger Berührungsängste? Wo sie davon ausgehen müssen, dass ich die Information sofort unter Nennung des Namens in die Zeitung setze?» Katzmann war noch immer verärgert.
«Genau!», lachte Fritz und triumphierte in Gedanken. Er spürte längst, dass er Konrad am Haken hatte.
Schweigend starrten sie auf ihre Gläser.
Fritz wusste, dass er jetzt kein Wort mehr sagen durfte, sonst würde der Freund einfach aufstehen und gehen. Er hatte oft genug erlebt, wie abweisend Konrad sein konnte, wenn er sich gedrängt fühlte. Das lag vielleicht an seinem Vater, der immer nur forderte und so gut wie nie ein gutes Wort übrig hatte. Fritz wusste aber auch, dass diese Phase des Schweigens nicht zu lange dauern durfte, sonst würde es beiden schwerfallen, das erste Wort zu sagen.
«Ich brauche den Namen und die Adresse der Familie und der Zeugen, die ihr befragt habt», unterbrach Konrad die Stille.
Ja, dachte Fritz, ich habe es doch gewusst! Laut versicherte er: «Geht in Ordnung.»
Als alles in dem Notizbuch aufgeschrieben war, schob Konrad das Büchlein in die Tasche zurück und bestellte für Fritz noch ein Bier. «Morgen muss ich nach Katja suchen. Wie gesagt, der kleine Hund gehört eigentlich ihr. Sie hat sich mutig ins Wasser gestürzt, um ihn zu retten. Außerdem muss ich ihm etwas zu essen besorgen. Die letzten Reste meiner Wurst habe ich ihm schon gefüttert, und der Kleine wird Hunger haben.»
«Ich koche für unseren Thomas das Futter selbst. Beim Schlachthof kann man manchmal Reste kaufen. Aber so ein Schäferhund frisst natürlich ganz andere Mengen als dein Zwerg.»
«Guter Tipp. Aber falls er heute noch etwas fressen möchte, muss er nehmen, was noch da ist - wie ich auch», lachte Katzmann.
«Versuch es doch mit Rührei, falls du Eier hast. Ohne Salz für Harry, mit Gewürzen für dich. Du solltest ihm auch ein bisschen Wasser hinstellen.»
Als sie eine halbe Stunde später aus der Kneipe traten, wurden sie von einem unerbittlichen Wind gepackt und förmlich auf die dunkle Straße gerissen. Die Kälte biss und zwickte sie in Gesicht und Hände. Katzmann, dessen Mantel noch zu Hause trocknete, zog die Jacke vor der Brust enger zusammen und schimpfte leise vor sich hin.
«Ich komm noch ein Stück mit», entschied Ganter. Er spähte in die Nebengasse. «Hast du das auch gehört?»
«Was?»
«So ein seltsames Gurgeln. Mir war auch, als hätte ich jemanden um die Ecke flitzen sehen.»
«Oh! Deshalb bekomme ich Polizeischutz?», feixte Konrad.
«Wenn du es so sehen willst. Ansonsten ist die Begleitung ein Freundschaftsdienst.»
Auch Konrad spähte jetzt in die finstere Gasse. Doch es war nichts mehr zu hören. «Glaubst du, es könnte etwas mit Politik zu tun haben?», fragte er dann.
«Ja. Für mich sah es aus wie eine Gruppe Spartakisten.»
«Ich meine das Verschwinden des Kindes, Fritz! Wollte sich jemand rächen? Immerhin arbeitete der Vater in der Rüstungsindustrie, war also bei den Kriegsbefürwortern - und es gibt mehr als genug, die schon lange Frieden fordern.»
Perplex starrte Fritz Ganter seinen Freund an. «Mann! Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen!»