Читать книгу Katzmann und das verschwundene Kind - Franziska Steinhauer - Страница 7

ZWEI

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DER UMSCHLAG in der Innentasche seines warmen Mantels knisterte leise bei jeder Bewegung. Immer wieder verirrten sich seine Finger an die Stelle über seinem Herzen, als könnten auch sie es nicht glauben: Konrad Benno Katzmann, Dresdenkorrespondent der Leipziger Volkszeitung. Und das mit 22 Jahren, so kurz nach Abschluss seines Studiums. Unfassbar! Ein eigenes Aufgabengebiet ganz in seiner Verantwortung. Gut, räumte er in Gedanken widerwillig ein, Leistner, der Redakteur, redete noch mit - aber sonst niemand.

Womit sollte er beginnen, vielleicht mit einer Artikelserie? Oder lieber mehrere Artikel über unterschiedliche Themen?

Hinter dem Fenster huschte im Tempo des Zuges die karge Winterlandschaft vorbei. Dürre Äste der Bäume reckten sich dunkel vor einem grauen Himmel. Er wusste, dass es kalt war, auch wenn er es hier im Abteil nicht so deutlich spürte. In Dresden würde ihn die Kälte beim Aussteigen anfallen wie ein wildes Tier.

Natürlich hatte er nicht vor, über das Wetter zu schreiben. Das konnte er getrost anderen überlassen, die nicht müde wurden, Parallelen zwischen dem Grau des Novembers und der politischen Entwicklung zu ziehen. Ihm schwebte etwas anderes vor: Er wollte Leipzigs und Dresdens Bürger gleichermaßen mitreißen und Optimismus verbreiten, die Menschen stärken für eine neue Politik in einer neuen Zeit!

Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen war, befand sich im Umbruch. Doch genau das sorgte auch für Angst und Besorgnis unter den Menschen, die im Moment nichts so sehr herbeisehnten wie den Frieden. Zwar sprach die Presse immer wieder davon, dass nun endlich ein friedliches Zeitalter beginne und dass eine neue soziale Gerechtigkeit bald allen Glück und Wohlstand bringe. Doch wenn die Menschen sich umschauten, dann sahen sie nur die große Arbeitslosigkeit und das Chaos nach der Abdankung des Kaisers. Wilde Spekulationen von mehr oder weniger Kundigen machten die Runde, jedes Gerücht sorgte für Unruhe. Demonstrationen waren an der Tagesordnung, und da allen die notwendige Erfahrung mit der neuen Regierungsform «Demokratie» fehlte, schürten sie bei den einen tiefste Sorgen und den anderen zu große Erwartungen. Im Grunde konnten die meisten sich eine Zeit ohne Kaiser und König gar nicht vorstellen.

Diese Verunsicherung war nichts Besonderes, die gab es in Dresden wie anderswo. Katzmann seufzte tief. Selbstverständlich wäre ein Artikel über die geplante Versammlung bei Sarrasani Pflicht. Doch fanden solche Kundgebungen so gut wie überall statt, wenn auch meist in Zelten und Hallen und nicht in solch prunkvollem Rahmen, wie ihn das Rundhaus des Zirkus in Dresden bot. Katzmann suchte nach einem außergewöhnlichen Thema für seinen Artikel.

Noch eine halbe Stunde bis Dresden. Katzmann freute sich auf das Gespräch mit seinen Eltern. Endlich konnte er ihnen beweisen, dass man als Reporter Karriere machen konnte. Sein Vater redete schon seit Wochen auf ihn ein, er solle gründlich die Konsequenzen seines Handelns und der getroffenen Entscheidungen bedenken, es sei nicht zu spät, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Aber was hieß das schon? Wilhelm Katzmann wetterte beharrlich gegen die Errichtung einer Republik und prophezeite Chaos und Verderben. War das auch die Stimme der Vernunft?

«Wohin soll das alles führen?», war die Phrase, die ohne Ausnahme in einen heftigen Disput zwischen Vater und Sohn mündete. Besonders wetterte der Vater gegen die Kommunisten, aber die Sozialdemokraten blieben auch nicht ungeschoren. Am schlimmsten jedoch war, dass Konrad nun ein Parteibuch hatte, eines der USPD. Daran kam man nicht vorbei, wenn der Arbeitgeber die Leipziger Volkszeitung war. Konrad hatte zunächst gezögert, wollte sich politisch nicht binden lassen, seine freie Meinung nicht aufgeben, sich nicht verbiegen müssen. Solange er nur freier Mitarbeiter war, kein Problem. Doch nun war es entschieden! Darüber kam Wilhelm Katzmann nicht hinweg, hüllte sich nicht selten in trotziges Schweigen, wenn sein Sohn zu Besuch kam.

Heute würde es anders sein! Wieder fingerte er im Mantel nach dem Arbeitsvertrag, lauschte glücklich auf das diskrete Rascheln des Papiers.

Träge rumpelte der Zug weiter. Das gleichförmige Ruckeln hatte eine derart beruhigende Wirkung auf Konrad Katzmann, dass er gegen eine zunehmende Schwere der Lider kaum mehr ankämpfen konnte. Bis morgen sollten die ersten Artikel fertig sein, grübelte er im Rhythmus der Räder.

Langsam nahm eine Idee konkrete Gestalt an. Warum nicht über Dresdens gesellschaftliches Leben in Zeiten der Spanischen Grippe schreiben? Natürlich wütete die Influenza auch anderswo, sie war kein singuläres Dresden-Ereignis. Was aber, wenn es keine Aufführungen mehr in der Semperoper geben konnte, weil die Sänger oder Musiker erkrankt waren? Oder wenn die Besucher ausblieben, aus Angst vor Ansteckung? Das wäre dann schon etwas Besonderes. Die Semperoper war weltweit bekannt!

Fielen die Vorstellungen eventuell auch bereits unter das Verbot von Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen? Gleich auf dem Heimweg könnte er die ersten Nachforschungen anstellen.

Seine Gedanken zogen weiter zu Martina. Sie war vielleicht die schönste Frau, die ihm je im Leben begegnet war. Bedauerlicherweise hatte sie kaum Notiz von ihm genommen, als sie sich nach der Arie tief verbeugt hatte.

Katzmann war darüber fast gekränkt, gelang es ihm doch sonst mühelos, die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts nicht nur zu wecken, sondern zu fesseln. Er wusste, dass er gut aussah, seine markanten Züge, die dichten Haare, die er asymmetrisch gescheitelt trug, weil er schon vor Jahren erkannt hatte, dass der Mittelscheitel den meisten Männern nicht stand, sie dumm und dröge wirken ließ. Und dann natürlich seine Augen. Die ungewöhnliche Farbe faszinierte seine Gesprächspartner, egal ob sie nun männlich oder weiblich waren. Eisvogelblau. Wenn das Licht in günstigem Winkel einfiel, funkelten goldene Blitze darin. Aber Martina hatte das alles offensichtlich nicht bemerkt.

Dresden, Bahnhof Neustadt. Endlich! Von nun an musste er, der nicht gern Bahn fuhr, die Strecke Dresden—Leipzig—Dresden zum Glück seltener zurücklegen. Sein Arbeitsschwerpunkt lag nun hier. Da blieb mehr Zeit für seine Artikel.

Hastig raffte Katzmann seine Habseligkeiten zusammen, zerrte den Schal fester um den Hals und stopfte die langen Enden vor der Brust fest. Er setzte den Hut auf, rückte ihn zurecht. Sollte es regnen oder gar schneien, würde der ihn wenigstens vor Nässe schützen. Ein Lob auf den Erfinder in Guben, Carl Gottlob Wilke! Ihm verdankte die Welt den wetterfesten Filzhut. Katzmann fuhr in die Handschuhe, die er sich vor ein paar Tagen geleistet hatte. Wenn er seine Eltern besuchte, würde er sie in die Manteltasche schieben, nach Auffassung seines Vaters brauchten wahre Männer so etwas nicht. Handschuhe seien ein Indiz für den Verfall der Tugenden in der Gesellschaft. Schließlich müsse der Soldat an der Front auch mit kalten Händen die Heimat verteidigen können!

Mit einem Schaudern erinnerte er sich an das Abhärtetraining, das sein Vater in jedem Jahr zu Beginn des Winters mit ihm durchführte. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ihm alle Finger, Zehen, Ohren und die Nasenspitze erhalten geblieben waren. Nur eine großflächige Erfrierung an delikater Stelle hatte er davongetragen, als er über mehrere Stunden mit unbekleidetem Unterleib im Schnee sitzen musste.

Wie erwartet empfing ihn ein eisiger Wind, dem es mühelos gelang, die Mäntel, Röcke und Hosenbeine der Passanten zu durchdringen. Ein feiner Schleier aus Wassertröpfchen legte sich über Katzmanns Brillengläser und raubte ihm die Sicht. Murrend klemmte er sein Gepäck zwischen die Beine und fischte ungeschickt sein Reinigungstuch aus der Manteltasche.

Ärgerlich - immer diese jahreszeitlich bedingte Blindheit, die den Brillenträger völlig außer Gefecht setzt! Gründlich wischte er die Feuchtigkeit ab, blies seinen warmen Atem über die Sehhilfe, rieb erneut. Dann schob er die Bügel über die Ohren und drückte seine Mappe enger an den Körper. Er griff nach seinem kleinen Lederkoffer und machte sich auf den Weg.

Zu seiner Überraschung war in den Straßen ein dichtes Gedränge. Männer und Frauen eilten, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, den Bürgersteig entlang, andere standen in kleinen Gruppen diskutierend in Hauseingängen zusammen.

Und doch hatte sich seine Stadt stetig verändert. Das Lachen war aus Dresden verschwunden, als stünde es unter Strafe. Längst hatte sich das Novembergrau in den Herzen und im Denken der Menschen eingenistet. Besorgt registrierte er die vielen Kranken, die sich hustend und schniefend unter den anderen bewegten. An den Ecken entdeckte er einige Bettler, einer hockte der Kälte zum Trotz auf dem eisigen Boden, den Blick leer wie die Dose zu seinen Füßen. Katzmann kramte in seiner Manteltasche und fand eine Reichsmark. Scheppernd fiel sie in das Gefäß, und der Mann bedankte sich leise. Doch das hörte der junge Reporter schon nicht mehr.

Er musterte die Menschen. Bildete er sich das ein, oder waren es tatsächlich mehr Soldaten, die hier entlanggingen? Heimkehrer, die ziellos durch die Straßen streunten, weil In-Bewegung-Sein noch immer besser war als still in einer Ecke zu stehen, der gnadenlosen Kälte schutzlos preisgegeben. Katzmann wusste, dass man in einigen Schulen Notunterkünfte eingerichtet hatte, damit die heimgekehrten Kämpfer erst einmal eine Anlaufstelle und ein Dach über dem Kopf fanden.

Graue Gesichter in grauen Mänteln, die in einer grauen Stadt unterwegs waren. Deprimierend.

Ein Zeitungsjunge brüllte über die Straße: «Extrablatt! Extrablatt! Schon wieder Opfer der Grippewelle zu beklagen. Prominenter unter den Toten! Extrablatt! Extrablatt! Maler Egon Schiele an Grippe gestorben! Meuterei der deutschen Seekriegsflotte in Wilhelmshaven! Extrablatt! Extrablatt!»

Kunden bestürmten den Jungen, rissen ihm die dünne Ausgabe förmlich aus den Händen.

Katzmann beschloss, am Alberttheater vorbeizugehen. So konnte er gleich feststellen, ob Vorstellungen wegen der Erkrankungswelle abgesetzt worden waren.

Der Albertplatz war rund angelegt, und sternfömig trafen an dieser Stelle zwölf Straßen zusammen. Das Alberttheater war hier nicht der einzige Prunkbau. Gegenüber lag die Villa Eschebach, die Dresdenbesuchern gern gezeigt wurde. Das auf einem quadratischen Grundriss errichtete Gebäude verfügte über einen eindrucksvollen Segmentbogen, der zwei Putten zeigte, die eine Kartusche mit den Initialen Eschebachs hielten. Konrad gefielen allerdings die Brunnen auf diesem Platz am besten. Ganz besonders die «Stürmischen Wogen». Hier sah man kämpfende Tritonen über dem runden Steinbecken. Ihre durchtrainierten Körper faszinierten ihn. Solche Muskeln bekommt man als Journalist eher nicht, dachte er ein wenig neidisch nach einem letzten Blick die Hauptstraße hinunter und setzte seinen Weg über die Georgenstraße fort.

Schnell hatte er das Haus in der Wolfsgasse erreicht, das sein Großvater ihm vor wenigen Jahren vererbt hatte, stellte sein Gepäck ab und machte auf dem Absatz kehrt. Er würde sofort zu seinen Eltern gehen. Die Melanchthon Straße war schließlich nur ein paar Minuten entfernt. Er schmunzelte amüsiert über sich selbst. Da bemühe ich mich um Unabhängigkeit, doch kaum bekomme ich einen neuen Vertrag, schon habe ich nichts Eiligeres zu tun, als ihn den Eltern zu zeigen! Der Sohn möchte noch immer gelobt werden, es ist doch nicht zu glauben, kicherte er in sich hinein, als er vor der Tür des Elternhauses stand, einem großen, hellen Gebäude mit drei Etagen, das der Vater gekauft hatte, als er nach Großvaters Tod die Leitung der Tabakwarenfabrik übernommen hatte. Es ist wie früher mit dem Zeugnis: Du buhlst noch immer um ihre Anerkennung. Konrad, Konrad, vielleicht solltest du üben, erwachsen zu sein!

«Konrad, herzlichen Glückwunsch!», jubelte die Mutter und schloss ihren Sohn fest in die Arme, während der Vater den Arbeitsvertrag gründlich studierte, um darin verborgene Fallstricke zu entdecken.

«Dresdenkorrespondent - was für ein Wort! Ich bin ja so stolz auf dich!»

«Der Leipziger Volkszeitung », setzte sein Vater bitter hinzu.

«Wenigstens muss ich sie nicht auch noch lesen!»

«Ach Wilhelm, nun gib schon zu, dass du dich freust!» Der Vater schwieg.

«Aber Konrad, nun wirst du doch sicher daran denken, endlich eine Familie zu gründen?», schaffte Frau Katzmann mühelos die Überleitung zu ihrem Lieblingsthema. «Sieh mal, es ist ja nicht so, dass du eine Frau nicht gut ernähren könntest - natürlich mal abgesehen von diesen lästigen Versorgungsengpässen dieser Tage. Das wird nicht ewig so bleiben.»

«Mir ist die Richtige noch nicht begegnet», behauptete der Sohn.

«Es ist nicht gut für einen Mann, wenn er allein lebt! Das entspricht nicht seiner Natur und führt nicht selten dazu, dass sich Krankheiten einstellen», mahnte die Mutter halsstarrig.

«Syphilis?»

«Konrad!», donnerte die Stimme Wilhelms durch den Raum.

«Nicht in meinem Haus, und nicht gegenüber deiner Mutter!»

«Also wirklich! Müsst ihr denn immerzu in diesem Ton miteinander umgehen? Ich glaube, das Beste wird sein, ich sorge für eine gute Tasse echten Kaffee und ein bisschen Gebäck.» Damit erhob sich die ungewöhnlich große Frau, ordnete ihren seidigschimmernden Rock und stolzierte erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.

Wilhelm Katzmann hievte seinen schweren Körper aus dem Plüsch des Sessels und trat hinter seinen Sohn.

«Deine Mutter macht sich ernsthaft Sorgen um dich. Es ist nicht richtig, ihre Ängste ins Lächerliche zu ziehen! Du weißt sehr genau, dass sie es gern ordentlich hat. Und bei dir sieht sie das Fehlen einer weiblichen Hand. Schau dir nur deine Schuhe an! Lotte würde ihren Johannes niemals mit so verschmutzten Schuhen aus dem Haus gehen lassen. Auch die Kinder, immer akkurat. Deine Hose ist ungebügelt, die Schuhe und dein Sakko schmutzig - und die Krawatte passt nicht zum Hemd!»

Konrad schluckte lange an seinem Ärger. Er legte großen Wert darauf, modisch gekleidet zu sein, wusste genau, dass seine Kombinationen exklusiv waren, aber eben nicht dem konservativen Geschmack des Vaters entsprachen. Der war eher von Lottes Mann begeistert, einem Streber, Langweiler, Besserwisser und Petzer, den Konrad schon zu Schulzeiten nicht hatte ausstehen können. Was seine Schwester an ihm fand, war ihm unbegreiflich.

Unerwartet spürte er die Hand seines Vaters, der kein Freund körperlicher Nähe war, auf seiner Schulter. «Komm mit!», forderte Wilhelm Katzmann flüsternd.

Sanfter Druck schob den frischgebackenen Dresdenkorrespondenten aus dem Sessel, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Schweigend überquerten sie den Hof, erreichten die Garage. «Mach mal das Tor auf!»

Dort, in der Mitte des Raumes, stand ein seltsam buckliges Ding, verborgen unter einer großen grauen Plane. Überall schien es Beulen zu haben, größere und kleine. An der höchsten Stelle, etwa siebzig Zentimeter vom Boden, zeichneten sich Hörner ab.

«Na, möchtest du nicht nachsehen?», fragte der Vater ungeduldig.

In respektvollem Abstand umschlich der junge Mann das suspekte Objekt, betastete die Plane.

«Deine Mutter und ich haben ehrlich gesagt schon länger mit deinem beruflichen Fortkommen gerechnet. Eigentlich hatte ich gehofft, man würde dir bei einer seriösen Zeitung einen Posten als verantwortlicher Redakteur anbieten, vielleicht für Politik. Aber nun ist es eben, wie es ist. Ausgerechnet bei diesem linken Revolverblatt - daran ist wohl im Moment nichts zu ändern, aber es ist und bleibt enttäuschend. Nun, von alldem einmal abgesehen, dachten wir, es könne nicht schaden, deine Mobilität zu verbessern. Man hat mir versichert, es sei zuverlässig und nützlich.»

Konrad hörte die verletzenden Worte seines Vaters kaum. Nur bei dem Wort «nützlich» zuckte er kurz zusammen. Unter der Plane war demnach nichts zu erwarten, was ihm Freude machte, sondern ihm von Nutzen war. Typisch! So war sein Vater schon immer gewesen.

«Gerade nach den schweren Zugunglücken in letzter Zeit ist deine Mutter stets in großer Sorge um deine Gesundheit. Vor sechs Wochen erst, direkt in Neustadt, gab es wieder einen schrecklichen Unfall. Der D 13 Leipzig—Dresden war auch darin verwickelt. Wie entsetzlich, von 18 Toten und 118 Verletzten lesen zu müssen! Da ist es nur ein geringer Trost, dass man die Verantwortlichen sicher zur Rechenschaft ziehen wird. Eine Farbuntüchtigkeit! Unglaublich, dass das niemandem aufgefallen war! Deine Mutter behauptet, man habe die Erschütterung bis hierher spüren können, wie ein Erdbeben. Und erst der Lärm! Letzte Nacht gab es schon wieder ein Unglück, in Briesen. Ein Auffahrunfall mit 19 Toten und etwa 50 Verletzten! Deine Mutter ist davon überzeugt, dass Zugfahren sehr gefährlich für ihren einzigen Sohn ist.»

Das war ein ungewöhnlich langer Bericht. Wilhelm Katzmann empfand eine heimliche Faszination für die Eisenbahn. Unglücke trafen ihn daher besonders.

Konrad hörte nur mit einem Ohr zu. War es möglich? Dieser Geruch nach Öl und Gummi nährte die irrsinnige Hoffnung, unter dieser Abdeckung könne sich die Erfüllung seines Traumes verbergen.

Mit einem Mal rumpelte sein Herz aufgeregt gegen die Rippen. Das konnte nicht sein! Oder doch?

Konrad ging in die Hocke und hob langsam die Plane an. Reifen! Ihm stockte der Atem. Langsam zog er die Abdeckung herunter.

«Eine NSU 1000!», keuchte er dann. «Mit Beiwagen! Selbst zusammengeschweißt - da hat jemand viel Arbeit und Zeit investiert.»

Auf den ersten Blick verliebt, strich er sanft mit dem Zeigefinger über die Lampe. «Mein Gott, Vater! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»

«Ein einfaches Danke würde sicher genügen. Und vielleicht richtest du es an deine Mutter. Es war ihre Idee.»

«Danke!»

«Sie ist gebraucht, wie du siehst. Es gibt im Moment nicht viele Menschen, die privat solch ein Ding besitzen. Aber man versicherte uns, mit ein bisschen Geschick sei die Reparatur kein Problem.»

Konrad Katzmanns Augen wanderten prüfend über das Wunder. Sicher, ein paar Lackschäden hier und da, aber nicht eine kleine Beule.

«Diese Maschine hat etwas mit dir gemein: Auch sie konnte sich erfolgreich vor dem Dienst an der Front drücken. Asthma hat sie zwar keines, aber der Besitzer hatte sie bei Freunden in der Scheune versteckt.»

Konrad tat so, als habe er diesen boshaften Kommentar nicht gehört. «Ich habe zwar auch ein bisschen Ahnung, aber es ist besser, wenn Klaus sich den Motor ansieht. Der kennt sich mit so was aus», sagte er und versuchte, das Motorrad zu starten. Husten, Qualm, sonst nichts.

Nach dem Kaffee verabschiedete er sich eilig. Er würde noch heute bei Klaus vorbeigehen und ihn fragen, ob er sich die NSU ansehen könne. Beschwingt lief er mit raumgreifenden Schritten in Richtung Elbufer.

Die Augustusbrücke lag am günstigsten. Klaus, der seine Eltern früh verloren hatte, wohnte mit seinen Großeltern in der Adlergasse am Wettiner Bahnhof. Rührend kümmerte er sich um die beiden alten Leute, die ihn damals ohne Zögern aufgenommen, ihn erzogen und für eine gute Ausbildung gesorgt hatten. Ohne sie, das war dem jungen Mechaniker sehr bewusst, hätte er im Leben nicht Fuß fassen können. Klaus liebte Motoren, konnte beinahe alles reparieren. Seine kleine Werkstatt in Übigau war ein echter Geheimtipp.

Ein klebriger dunkler Nebel kroch schon die Auen hoch, Katzmann konnte die anderen Passanten nur noch schemenhaft erkennen. Nicht einmal mehr das Relief am Altstädter Landpfeiler, das angeblich den Baumeister der ersten steinernen Elbbrücke in Dresden, Mathaeus Focius, abbildete, war zu sehen. Es zeigte einen Mann in seltsam verkrampfter Haltung, und böse Zungen behaupteten hartnäckig, es sei entstanden, um daran zu erinnern, wie sehr der Baumeister vom Durchfall geplagt wurde, als er erkannte, er habe die Eisbrecher stromabwärts statt stromaufwärts angebracht. Aber das war natürlich nur ein Gerücht. Doch lustvoll wurde es von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

Plötzlich hörte Katzmann ein lautes Platschen. Erschrocken fuhr der junge Mann herum. Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte er in die Finsternis, doch sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht mehr als einen unförmigen Schatten erkennen, der sich hastig entfernte. Was mochte der Kerl da über die Brüstung geschleudert haben?

Katzmann beschloss, das herauszufinden, und lief eilig in Richtung Ufer. Vielleicht konnte er versuchen, es aus dem Wasser der Elbe zu ziehen. In Gedanken formte sich schon eine Geschichte über Verbrechen zu Kriegszeiten, Verstrickungen mit skrupellosen Schieberbanden.

Noch nicht einmal am Ende der Brücke angekommen, vernahm er leise Hilfeschreie, die aus dem Bereich unter der Brücke zu kommen schienen. Die Stimme einer Frau, direkt aus dem Fluss …

Er war Zeuge eines Mordversuchs geworden! Und er würde nicht einmal den Täter beschreiben können! Im Rennen schlüpfte er schon aus Mantel und Schal, warf beide zusammen mit dem Hut ans Ufer, riss sich die Schuhe von den Füßen. «Halten Sie durch! Ich bin gleich bei Ihnen!»

Wie lange konnte ein Mensch in diesem eisigen Wasser überleben?

«Hier», hörte er schwach. «Hier bin ich!»

«Noch sehe ich Sie nicht!» Entschlossen warf Katzmann sich ins Wasser, schob seinen Körper, der mit heftigem Schmerz gegen diese Zumutung protestierte, tiefer hinein.

«Ich kann nicht schwimmen!», wehte eine neue erschreckende Information zu ihm hinüber.

«Strampeln Sie kräftig! Nicht nachlassen!»

Endlich machte er eine Bewegung vor sich aus, hielt energisch darauf zu. «Ich kann Sie sehen! Sofort bin ich da!»

Die Kälte nahm ihm fast den Atem. Der Puls raste, seine Füße und Hände spürte er kaum noch. «Sehen Sie mich?»

«Ja», antwortete die Stimme unsicher. Ein Kind!

Katzmanns Zorn beflügelte seine Bemühungen. Dieser Mörder hatte ein Kind in der Elbe ertränken wollen! Wahrscheinlich einen «nutzlosen Esser», ein «lästiges Übel»! Na, der würde sich wundern: Ab morgen suchte mit Sicherheit ganz Dresden nach ihm!

Seine Kleidung, die er wegen der Kälte in mehreren Schichten übereinander trug, sog sich zunehmend voll Wasser und behinderte das Vorankommen. Arme und Beine trotzen dem Kälteangriff kaum noch. Seine Lungen brannten. Katzmann keuchte.

«Streck deine Hand in meine Richtung aus!», stieß er mühsam hervor. Und tatsächlich - eine leichte Berührung. Er hatte es geschafft. Eisern umschloss er die Finger des Kindes und zog es zu sich heran.

«Hör zu, du musst ein bisschen mithelfen, ja? Dann schaffen wir es auch wieder zurück», erklärte er rau und bemerkte im selben Augenblick, dass die Kleine mit dem anderen Arm etwas aus dem Wasser stemmte.

«Was ist das?»

«Keine Ahnung. Das hat … der Mann … ins Wasser geworfen. Als es fiel, weinte es.» Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, sprach abgehackt.

«Ich rette also eine Retterin.»

«Vielleicht ist es ein Baby», flüsterte die Kleine, und Katzmann mobilisierte alle Reserven. Mit einem letzten Schwung schob er das Kind, den Sack und sich ans Ufer.

Erschöpft rang er nach Luft, hustete, versuchte einzuatmen, hustete wieder. Er spürte die Hand des Mädchens, die in seiner bebte. «Zieh meinen Mantel über!», röchelte er und hörte von Ferne, dass sie ihm etwas erklärte.

«Meine Tante hat das auch. Sie kennt einen Trick. Leg dich auf den Rücken.»

Katzmann rollte sich herum.

«Augen zu! Versuche, nicht mehr zu husten, das macht es nur schlimmer. So, nun musst du durch die Nase atmen! Ganz ruhig und gleichmäßig. Bei jedem Mal den Atem für ein paar Sekunden anhalten, dann von vorn.»

Aus dem Sack war leises Fiepen zu hören.

Katzmann spürte tatsächlich, wie wieder Luft in seine Lungen strömte. Eine Erlösung!

«Weiter!», forderte das Mädchen, das sich inzwischen in Konrads Mantel gehüllt hatte und sich nun mit steifen Fingern darum bemühte, den Sack zu öffnen.

Katzmann atmete tief. Er drehte sich auf die Seite, rappelte sich auf und half ihr, den Knoten zu lösen. Dabei wurde er noch immer von Hustenattacken geschüttelt. Beherzt griff er in das Jutebündel und zerrte einen mutig strampelnden Welpen heraus.

«Meine Güte! Nun wird alles gut, mein Kleiner», versprach die Retterin und versuchte, den Winzling unter den Mantel zu schieben, womit der allerdings nicht einverstanden war.

Katzmann nahm ihr das Tier ab. «Schlüpf richtig rein!» Er stopfte sich den Hund, der nasser nicht mehr werden konnte, unter das Hemd, und der Kleine schien den Hautkontakt als beruhigend zu empfinden. Er hörte auf sich zu sträuben.

«Wie heißt du eigentlich?», fragte Katzmann dann.

«Katja. Und du?»

«Konrad. Das war ganz schön mutig von dir: Springst ins Wasser, obwohl du nicht schwimmen kannst, weil der Sack gelebt hat. Ehrlich gesagt, das imponiert mir.»

«Mein Vater sieht das sicher anders. Er wird sagen, es war dumm und leichtsinnig», räumte das Mädchen kleinlaut ein. Wahrscheinlich malte Katja sich schon die Schimpftirade aus, die sie zu Hause erwartete. «Aber du warst auch unglaublich mutig. Wir hätten alle drei in dem kalten Fluss sterben können.»

Schweigend erklommen sie das Ufer.

Katzmann schlüpfte ohne Socken in seine Schuhe und erklärte entschieden: «Ich bringe dich nach Hause. Ich habe auch einen Vater, der die Dinge grundsätzlich anders sieht als ich.» Dabei gab er sich Mühe, sein Schlottern zu verbergen. Retter und andere Helden froren nicht!

«Och, ich habe es gar nicht weit.» Sie machte Anstalten, sich aus dem Mantel zu schälen, der so lang war, dass sie ihn beim Gehen raffen musste. «Ich kann gut allein gehen.»

«Lass den Mantel noch an. Ich begleite dich, keine Widerrede!»

«Mein Vater mag nicht, wenn ich Fremde mitbringe», versuchte sie einen neuen Vorstoß.

«Ich bin doch nicht fremd!», protestierte der junge Reporter.

«Also, ich habe den Mann nicht erkennen können. Wie hast du denn in der Dunkelheit gesehen, dass der einen Sack übers Brückengeländer wirft?», bibberte Konrads Stimme.

«Du hast mich da rausgezogen, ich schätze, du verdienst eine Antwort», seufzte Katja und zog frierend die Schultern hoch. «Ich bin dem Mann schon eine Weile gefolgt. Wollte sehen, wohin er den Sack bringt. Erst dachte ich, da ist ein Schatz drin und er sucht ein Versteck. Dann fing es an, in dem Sack zu strampeln.» Sie warf dem gutaussehenden blonden Mann einen argwöhnischen Blick zu. «Sind wir Freunde?»

«Klar!», antwortete Konrad mit klappernden Zähnen.

«Ich wollte sehen, wo er wohnt. Ich dachte, er ist vielleicht reich», vertraute sie ihm an.

«Weißt du was, ich glaube, wir sollten an Tempo zulegen. Wenn wir nicht schnell ins Warme kommen, werden wir beide wohl gewaltig krank. Und wer kann schon eine dicke Erkältung brauchen?»

Sie beschleunigten ihre Schritte in Richtung Dresdner Heide.

«Was macht der Hund?»

Konrad zog am Kragen seines Pullovers und warf einen indiskreten Blick auf das Fellbündel.

«Sieht so aus, als habe er beschlossen einzuziehen», lachte der Reporter dann, als er erkannte, dass der Kleine eingeschlafen war.

Wie aus dem Nichts bauten sich plötzlich zwei Frauen vor ihnen auf.

Katja wich erschrocken zurück und rief: «Meine Tanten!»

«Sehr richtig! Wir suchen dich!», zeterte die eine von ihnen und wandte sich drohend zu Katzmann um. «Was haben Sie mit der Kleinen angestellt? Das Kind ist ja völlig durchnässt!»

«Er hat nichts getan. Er hat mich aus der Elbe gefischt.»

Die Frauen zerrten Katja den Mantel vom Leib, warfen ihn achtlos zu Boden, hüllten das Mädchen in ihre Wolltücher und zogen es mit sich fort.

«Hört zu!», forderte das Kind und blieb wie angewurzelt stehen. «Das ist Konrad. Er hat mir das Leben gerettet!»

Die beiden drehten sich kurz um, murmelten ein knappes Danke und waren um die nächste Ecke verschwunden, ehe der Journalist noch ein Wort sagen konnte.

«Na, dann werden wir am besten auch nach Hause gehen, wie?», flüsterte er dem Hund zu und versuchte ungelenk, in den Mantel zu schlüpfen, ohne den Winzling fallen zu lassen. «Was frisst einer wie du denn so?»

Der Besuch bei Klaus musste warten. Jetzt brauchte er erst einmal trockene Kleidung und einen Platz am Ofen.

Katzmann und das verschwundene Kind

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