Читать книгу Verschwörung in Florenz - Franziska Wulf - Страница 7

Der Tag danach

Оглавление

Stille Ehrfurcht erfüllte die Kapelle. Sanft schimmerte das Tageslicht durch die wenigen schmalen Fenster aus buntem Glas, warf Streifen roten, grünen und gelben Lichts auf den Altar und das Kruzifix, vermischte sich mit dem Schein der Kerzen vor dem Standbild der Heiligen Jungfrau. Wie klares, kühles Wasser Flusskiesel umspülten die gemurmelten Gebete zweier alter Frauen die zierlichen Säulen. Die sich immer wiederholenden Anrufungen der Gottesmutter wurden als leises, im Raum schwebendes Echo von den Seitenwänden zurückgeworfen und stiegen schließlich zu der gedrungenen Kuppel empor. Unwillkürlich stellte man sich die Frage, was der Mensch und all sein Streben auf dieser Welt vor dem Angesicht Gottes war. Und ebenso unwillkürlich tauchte die Antwort auf – nichts als eine Hand voll Staub. Mitten in diese Stille hinein wurde das Portal aufgerissen, und grelle, beißende Strahlen des Sonnenlichts durchbohrten das Halbdunkel wie tödliche Lanzen. Cosimo betrat die Kapelle nicht, er platzte förmlich in sie hinein, als hätte ein wütender Sturm ihn mit sich gerissen. Und tatsächlich fühlte er sich auch so. Allerdings tobte der Sturm nicht draußen, in den Straßen von Florenz, sondern in ihm selbst.

Er eilte ein paar Schritte den Mittelgang entlang auf den Altar zu. Die Sohlen seiner Schuhe klapperten geräuschvoll über den Steinboden, als wären sogar sie zornig. Dann blieb er stehen, damit seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen konnten. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss – laut und dröhnend wie eine Kesselpauke. Das leise Gemurmel erstarb. Missbilligend wandten sich die beiden alten Frauen zu ihm um, zu ihm, dem Störenfried, dem Fremdling, der in diesen heiligen Hallen nichts zu suchen hatte. Cosimo spürte es selbst. Er gehörte nicht hierher. Er fühlte sich nicht wohl in diesem von Heiligkeit und Stille, Anbetung, Buße und grenzenlosem Gehorsam erfüllten Raum. Die Atmosphäre der Kapelle hatte für ihn stets den schalen Geschmack von Melancholie, Trübsinn und mangelnder Lebensfreude. Und jetzt in seinem Zorn war ihm das schier unerträglich. War er vielleicht ein Ungläubiger? Nein, keineswegs. Allerdings gehörte er auch nicht zu den Pazzi, jener wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die diese Kapelle vor einiger Zeit – angeblich allein zu Ehren Gottes – hatte erbauen lassen. Er gehörte zu den anderen. Zu denen, die offen zugaben, dass sie ihren Reichtum niemals als eine Bürde empfanden, deren erdrückende Last man höchstens durch tägliche Buße erträglicher machen konnte.

Wie jedes Mal, wenn er sich in der Kapelle der Pazzi aufhielt, verspürte Cosimo den unwiderstehlichen Wunsch, die kleine Kirche auf der Stelle wieder zu verlassen. Doch heute war er nicht gekommen, weil er geladen worden war, an einer der zahllosen Familienmessen der Pazzi teilzunehmen. Er war gekommen, um seinen Freund zu holen. Seinen Freund Giacomo de Pazzi, mit dem er, wie sie es am Vortag verabredet hatten, eigentlich genau zu dieser Stunde vor den Toren der Stadt Arianna treffen sollte. Und eines war gewiss, er würde ihn auch finden und mitnehmen, zur Not am Kragen und gegen seinen Willen hinausschleifen. Vermutlich hatte Giacomo Angst bekommen. Doch Cosimo war nicht gewillt, der Hexe ihren Triumph zu gönnen. Sie sollte nicht Recht behalten.

Er atmete einmal kurz durch und setzte seinen Weg fort, vorbei an den beiden alten Weibern, die sich bekreuzigten, als wäre in der Gestalt eines vornehmen, gerade siebzehnjährigen Mannes der Teufel persönlich an ihnen vorbeigegangen. Cosimo lächelte, als ihm einfiel, dass er ja gar nicht seine normalen Gewänder aus Samt, Seide und teurem Leinen, geschneidert nach der neuesten Mode, trug. In den ärmlichen, mehrfach geflickten Kleidern eines Schustergesellen konnten die beiden Alten ihn natürlich nicht erkennen. Er war ein Medici. Und ein Medici ließ sich nicht einfach verscheuchen oder davon abbringen, sein einmal gewähltes Ziel zu verfolgen. Durch gar nichts. Nicht durch das milde Lächeln einer angeblichen Hexe, und schon gar nicht durch die giftigen Blicke zweier zahnloser alter Frauen.

Tatsächlich fand er Giacomo, wie er es vermutet hatte. Der Freund kniete vorne gleich neben dem Altar in der Bank der Familie Pazzi. Sein Haupt war gesenkt, seine Hände andächtig gefaltet, so wie bei den Heiligen, deren Abbilder die Wände der Kirche schmückten. Er schien andächtig in das Gebet versunken und sah nicht einmal auf, als Cosimo direkt neben ihm stand. Doch Cosimo ließ sich nicht beirren. Giacomo hatte ihn bemerkt.

»He, Giacomo!« Cosimo packte ihn an der Schulter und gab sich keine Mühe, besonders leise zu sprechen. Die beiden Weiber hatte er bereits in ihrer Andacht gestört. Und Giacomo wollte er stören. »Giacomo! Was um alles in der Welt tust du noch hier? Seit einer guten Stunde warte ich vergeblich auf dich.«

Giacomo sah auf. Sein Gesicht war rot vor Scham. Wenn er Zweifel bekommen hatte, so hatten sie ihn noch nicht lange in ihren Klauen, denn auch er trug dieselbe Verkleidung wie gestern. Trotzdem schüttelte er den Kopf. Und Cosimo verstand. Aus irgendeinem Grund hatte den Freund der Mut verlassen. Kurz vor dem Ziel.

»Geh allein, Cosimo«, flüsterte er und senkte beschämt seinen Blick. »Ich komme nicht mit.«

»Was? Bist du verrückt geworden? Warum denn das?«

»Weil es nicht recht ist, was wir vorhaben. Wir sollten uns nicht mit dieser Hexe einlassen. Es widerspricht dem rechten Glauben.« Diese Worte klangen so leer, als wären es nicht seine eigenen. Sie klangen wie mühsam auswendig gelernt.

»Hast du etwa schon vergessen, dass du selbst noch gestern Abend ganz begierig darauf warst zu erfahren, was sich hinter dem Geheimnis verbirgt?«

»Nun, ich habe es mir eben anders überlegt.«

»Ich verstehe. Du hast es dir also anders überlegt. Und wer hat dabei nachgeholfen? War es vielleicht dein Stiefvater?«

Giacomo rang die Hände. »Nun, ich ... Nun ja, du hast Recht«, gestand er schließlich. »Der Schreiber des Bischofs hat mich gestern erkannt, als ich aus dem Zelt der Hexe trat. Wie du weißt, ist er der Beichtvater meines Stiefvaters. Und er hat es ihm natürlich erzählt. Du kannst dir vorstellen, was mich heute früh erwartet hat.« Giacomo starrte düster auf seine Hände. »Drei Tage muss ich jetzt fasten und beten. Und dabei kann ich noch froh sein, so glimpflich davongekommen zu sein.«

Cosimo kannte Giulio de Pazzi gut. Giacomos Stiefvater, der gleichzeitig sein Onkel war und nach dem Tode seines älteren Bruders nicht lange gezögert hatte, dessen hübsche Witwe Lucia, Giacomos Mutter, zu heiraten, war ein meist schlecht gelaunt dreinblickender Mann. Täglich nahm er an der heiligen Messe teil, mindestens einmal wöchentlich legte er die Beichte ab, und Spaß verstand er überhaupt nicht. Cosimo dachte an das milde Lächeln der Hexe. Sie hatte angeblich gewusst, wer sie beide waren. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass Giacomo sich von seinem frommen, humorlosen Stiefvater einschüchtern lassen würde.

»Und glaubst du nicht, dass dieses Geheimnis ein Risiko wert wäre? Dass es sogar wert wäre, vierzig Tage dafür zu fasten? Oder sind dir deine heißen Würste, die gebratenen Tauben und der Becher Wein wirklich so wichtig? Willst du endlich einmal für dich selbst denken und entscheiden, oder willst du für den Rest deines Lebens nur das tun, was dein Stiefvater dir erlaubt?«

»Psst! So sprich doch leise«, wisperte Giacomo erschrocken und sah sich ängstlich um, als würde er einen der Spitzel seines Stiefvaters in der Nähe fürchten. »Wir sind in einer Kirche. Außerdem sind wir nicht allein. Wenn die beiden Alten dort drüben ...«

»Was kümmern mich die beiden?«, unterbrach Cosimo ihn zornig. Trotzdem senkte er seine Stimme zu einem Flüsterton. Auch wenn ihm die Meinung zweier alter Weiber egal sein konnte, so sollten sie nicht unbedingt erfahren, worum es hier ging. Es war ein Geheimnis. Ihr Geheimnis. Und das sollte es auch bleiben. »War es nicht deine Idee, zu der Hexe auf dem Jahrmarkt zu gehen?«

»Ja, schon, aber ...«

»Und genau das meine ich, Giacomo«, sagte Cosimo. »Wir haben diese Sache gemeinsam begonnen, und wir werden sie auch gemeinsam beenden. Wir gehen zu Arianna nach San Miniato al Monte und hören uns an, was sie zu sagen hat.«

»Aber ...«

»Keine Widerrede. Ich werde dorthin gehen. Und wenn du mich nicht begleitest, werde ich dir das nie verzeihen. Komm, es ist höchste Zeit.«

Noch zögerte Giacomo. Er sah sich wieder um, als würde er tatsächlich fürchten, sein Stiefvater würde gleich hinter einer Säule hervortreten und erneut Rechenschaft über seinen Ungehorsam von ihm fordern. Doch niemand war hier. Sie waren allein mit zwei alten Weibern, die bereits wieder begonnen hatten ihre Gebete zu sprechen und die beiden jungen Männer nicht weiter beachteten.

»Also gut«, sagte Giacomo. Er erhob sich und reichte Cosimo die Hand. »Du hast Recht. Es ist unser Geheimnis. Und wir werden ihm gemeinsam auf den Grund gehen, ganz gleich, wie tief er auch sein möge.«

»So gefällst du mir«, sagte Cosimo. »Und jetzt rasch, sonst ist Arianna wieder fort, ehe wir San Miniato al Monte erreicht haben.«

Gemeinsam liefen sie aus der Kirche. Während sie auf der alten Brücke den Arno überquerten, jener Brücke, die so alt war wie die Stadt selbst, begannen die Glocken der Kirchen von Florenz zu läuten. Cosimo konnte deutlich den Klang der Glocke von Santa Maria del Fiore heraushören. Und den von San Lorenzo, jener Kirche, in der die Familie Medici die heilige Messe zu besuchen pflegte. Es war das Mittagsläuten, das Läuten zu Ehren der Verkündigung des Herrn. Es war vertraut, und doch klang jeder einzelne Glockenschlag wie eine Mahnung, dass sie sich beeilen mussten. Cosimo und Giacomo liefen, was ihre Beine hergaben. Ihre Haare und Hemden flatterten im Wind, und wer nicht rechtzeitig aus dem Weg sprang, wurde einfach umgerannt. Manche der Leute, an denen sie vorbeirannten, als wäre der Teufel mit allen seinen Spießgesellen hinter ihnen her, schüttelten lächelnd die Köpfe. Andere schimpften oder drohten mit den Fäusten. Doch sie kümmerten sich nicht darum. Sie waren jung. Und sie waren auf dem Weg zu einem aufregenden, spannenden Abenteuer. Später, in den Jahren danach, dachte Cosimo oft an diesen Tag zurück; er dachte an die Worte des Freundes in der Stille der kleinen Kirche der Familie Pazzi. Und er fragte sich dann jedes Mal, ob Giacomo an diesem Tag vielleicht – wenn auch nur tief im Inneren seiner Seele – geahnt hatte, worauf sie im Überschwang ihrer Jugend bereit waren sich einzulassen.

Den Weg zu dem Wäldchen vor den Toren von Florenz legten sie vergleichsweise schnell zurück. Ihre Beine und Lungen waren kräftig. Trotzdem waren die letzten Schläge des Mittagsläutens längst verklungen, als sie endlich völlig erschöpft, mit roten Gesichtern und verschwitzten Kleidern, den Hügel erklommen hatten. Gierig nach Luft ringend, blieben sie stehen und sahen sich um. Die Kirche San Miniato al Monte und das dazugehörige Kloster lagen oberhalb des Wäldchens und waren nicht zu sehen. Stattdessen hatte man von hier aus einen herrlichen Blick über die Stadt. Der Arno glitzerte wie ein Band aus reinem flüssigem Silber. Man sah deutlich die alte Brücke mit ihren vielen kleinen Geschäften, die Dächer der Häuser der Bürger und die Türme, die zu den Palästen der wohlhabenden Familien gehörten. Daneben standen die Glockentürme der großen Kirchen – San Lorenzo, Santa Maria Novella, Santa Croce. Und über allem thronte die herrliche Kuppel von Santa Maria del Fiore, ein wahres Meisterwerk der Baukunst. Es war ein Anblick, der einem vor lauter Schönheit den Atem rauben oder Tränen in die Augen treiben konnte. Doch weder Cosimo noch Giacomo hatten heute einen Blick für die Wunder ihrer Heimatstadt. Sie suchten Arianna, die Hexe.

»Kannst du sie irgendwo entdecken?«, fragte Giacomo, vor Anstrengung laut keuchend.

»Nein«, antwortete Cosimo. Er spürte so heftige Stiche in der Seite, als ob ihm jemand einen Dolch in den Leib gerammt hätte. Er drehte sich ein paarmal im Kreis, dann stampfte er mit seinem Fuß auf, sodass eine Staubwolke ihm die Sicht auf die Stadt nahm. Er war wütend. Wütend und enttäuscht. Wütend, weil sie es nicht geschafft hatten, rechtzeitig hier zu sein; weil Arianna nicht wenigstens ein bisschen länger auf sie gewartet hatte; weil sie nun niemals das Geheimnis erfahren würden. Aber vielleicht ... Er war schließlich ein Medici, und ein Medici ließ sich nicht durch vermeintliche Rückschläge entmutigen.

»He!«, rief Cosimo, so laut er konnte. »He! Arianna! Wo steckst du?«

»Das hat doch keinen Sinn«, sagte Giacomo mit hängenden Schultern. »Sie ist fort. Sie hat Florenz bestimmt bereits verlassen.«

»Aber vielleicht ist sie noch nicht weit entfernt und kann uns hören«, erwiderte Cosimo grimmig. Er legte seine Hände um den Mund. »Komm zurück! Wir sind jetzt hier!«

»Hör doch auf, so zu schreien!«, mahnte Giacomo und sah sich erschrocken um. »Du wirst noch die Mönche oben im Kloster auf uns aufmerksam machen.«

Der Freund hatte natürlich Recht.

»Verdammt!« Verärgert fuhr Cosimo sich mit beiden Händen durch das Haar, das in feuchten Strähnen auf seiner Stirn klebte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in seinem Leben so schnell gelaufen zu sein wie heute. Und trotzdem war alles umsonst gewesen. Doch vielleicht hatte die Hexe sie ja gar nicht erwartet? Vielleicht war sie nie hier gewesen, sondern hatte sich lediglich einen Scherz mit ihnen erlaubt? Cosimo stellte sich vor, wie sie gerade in diesem Augenblick in einem kleinen Ochsenkarren saß, meilenweit von Florenz entfernt auf dem Weg in eine andere Stadt, und über die beiden jungen Narren lachte, die hier, unterhalb von San Miniato al Monte, auf ein Geheimnis warteten, das es in Wirklichkeit gar nicht gab. Vielleicht sollte er ...

»Ihr seid also doch noch gekommen. Das erstaunt mich. Ich hatte nicht damit gerechnet.«

Die klare Stimme ließ Cosimo herumfahren. Dort stand sie, keine zehn Schritte von ihnen entfernt, im Schatten der Bäume. Ihr Kleid war von derselben braungrünen Farbe wie die Rinde der Kastanien und Buchen um sie herum. Möglich, dass sie sogar schon längere Zeit dort gestanden und sie beobachtet hatte. Sie war wirklich schwer zu entdecken.

»Wir wären auch beinahe nicht gekommen«, sagte Giacomo, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.

»Wir waren nämlich ...«

»Wir wurden noch aufgehalten«, unterbrach Cosimo seinen Freund. Die Hexe brauchte von Giacomos Zweifeln nichts zu wissen. Unter Umständen überlegte sie es sich dann doch noch und weihte sie nicht in das Geheimnis ein. »Deshalb haben wir uns auch verspätet.«

Sie lächelte milde, sanft. Und Cosimo wusste, dass sie seine kleine, eigentlich harmlose Lüge durchschaut hatte. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln.

»Ich verstehe«, sagte sie. »Doch es zählt nur, dass ihr jetzt hier seid – und dass ihr aus freiem Willen gekommen seid.«

»Ja, das sind wir«, erklärte Giacomo so ernsthaft und bestimmt, dass man den Eindruck gewinnen konnte, auch er selbst glaubte an seine Worte. »Und wo ist jetzt das Geheimnis, das du uns versprochen hast?«

»Sachte, mein Freund«, sagte Cosimo und legte Giacomo eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. »Bevor wir um die Ware bitten, sollten wir die Frage der Bezahlung klären.«

Giacomo nickte. »Cosimo hat Recht«, sagte er. »Was forderst du von uns dafür, dass du uns das Geheimnis verrätst?«

Das Lächeln war von Ariannas Gesicht verschwunden. Das machte Cosimo nervös.

Jetzt werden wir ihr wahres Gesicht kennen lernen, dachte er. Was wird das Weib wohl von uns verlangen?

»Ich verlange hundert Dukaten«, antwortete sie mit ruhiger, klarer Stimme.

»Was?«, rief Giacomo entrüstet aus. »Ich muss mich wohl verhört haben.«

»Ich sagte hundert Dukaten«, wiederholte sie.

»Aber das ist doch ...«

»Ein ziemlich hoher Preis, Giacomo hat Recht«, fiel Cosimo seinem Freund ins Wort. Er war erleichtert. Hundert Dukaten waren ein geradezu lächerlicher Preis verglichen mit dem, was er im Stillen befürchtet hatte – dreizehn geweihte Hostien oder den Knochen eines Heiligen zum Beispiel. Den Mord an einem Kardinal. Oder gar ihre unsterblichen Seelen. Doch ebenso wie Giacomo gehörte auch er nicht umsonst zu einer der reichsten und angesehensten Kaufmannsfamilien in Florenz. Bereits in der Wiege hatte er an den Bankgeschäften der Familie Medici teilgenommen. Und während andere Kinder auf den Straßen mit ihresgleichen gespielt hatten, hatte er neben seinem Vater und seinem Onkel im Schreibzimmer ihres Palastes gesessen und zugehört, wie sie über ihre Geschäfte gesprochen hatten. Er konnte nicht anders, er musste den Preis herunterhandeln – oder es wenigstens versuchen. »Ich biete dir fünfzig, wenn du uns das Geheimnis nennst.«

Doch Arianna schüttelte den Kopf. »Nein, auch wenn du deinem Namen und deiner Familie alle Ehre machst, Cosimo, ich lasse nicht mit mir verhandeln. Im Gegenteil. Für dieses Geheimnis könnte ich alles von euch verlangen – selbst die Köpfe eurer Väter auf einem silbernen Tablett. Und ihr wärt ohne Zögern bereit, jeden Preis zu zahlen, wenn ihr wüsstet, worum es sich handelt.«

»Doch gerade darum geht es«, widersprach Cosimo. »Wir kennen das Geheimnis nicht. Und dir jetzt die gewünschte Summe zu versprechen, hieße, die Katze im Sack zu kaufen.«

»Eben.« Giacomo nickte zustimmend. »Außerdem musst du mir noch eines erklären. Angenommen, das Geheimnis ist wirklich so wertvoll, wie du behauptest, weshalb solltest du dich dann mit hundert Dukaten zufrieden geben?«

Die Hexe schwieg einen Augenblick. »Du hast Recht, dass du diese Frage stellst«, entgegnete sie schließlich. »Und du hast ein Recht auf eine Antwort. Als ich vor Jahren dieses Geheimnis empfing, geschah es unter der Voraussetzung, dass ich einen Schwur leistete. Ich schwor den Eid, mich nicht an dem Geheimnis bereichern zu wollen, es nicht für niedere Zwecke zu gebrauchen und es auch nur in äußerster Not und Gefahr an andere weiterzugeben. Und an diesen Schwur fühle ich mich gebunden.«

»Und weshalb willst du es uns dann jetzt verraten?«, fragte Giacomo spöttisch. »Ich kann nämlich weit und breit keine Gefahr entdecken.«

Sie hob den Kopf, und Cosimo erschauerte. Der Blick dieser Frau gefiel ihm überhaupt nicht.

»Spotte nur, Giacomo de Pazzi«, sagte sie leise. »Doch ich habe die Zukunft gesehen. Ich habe gesehen, dass viele Menschen leiden werden. Dass man Frauen wie mich, Frauen, die das zweite Gesicht haben, verfolgen, foltern und töten wird. Ich will diesem Schicksal entgehen. Nicht aus Angst um mein eigenes Leben, das wäre mir gleich, denn ich fürchte den Tod nicht. Ich tue es für meine Kinder. Sie müssten ebenfalls leiden. Hundert Dukaten sind genau die Summe, die ich benötige, um diese Gegend verlassen und irgendwo in einer abgelegenen Provinz ein Stück Land oder ein Haus erwerben und ein neues, ein unauffälliges Leben beginnen zu können.«

»Und wenn wir nicht bereit sind, das Geschäft mit dir abzuschließen? Was wirst du dann tun?«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich werde weiterziehen und in einer anderen Stadt einen anderen Käufer finden.«

»Nun gut, wenn das so ist ...« Giacomo räusperte sich und warf Cosimo einen Hilfe suchenden Blick zu. Damit hatte wohl keiner von ihnen gerechnet.

»Wir verstehen deine Beweggründe«, sagte Cosimo und versuchte sich vorzustellen, was sein Onkel oder sein Vater in so einem Fall getan hätten. »Doch du solltest auch versuchen, unseren Standpunkt zu verstehen. Es bleibt immer noch ein Risiko für uns, denn wir kennen dich nicht und kennen auch niemanden, der sich für deine Ehrlichkeit verbürgt. Deshalb schlage ich vor, dass wir dir fünfzig Dukaten im Voraus zahlen, du uns das Geheimnis verrätst, und wenn wir sehen, dass es das Geld wert ist, erhältst du die zweite Hälfte. Allerdings ...« Er zögerte und sah Giacomo kurz an. »Weder er noch ich haben jetzt die erforderliche Summe bei uns. Wir könnten sie jedoch bis heute Abend beschaffen. Wenn du so lange wartest, werden wir ...«

Sie winkte ab. »Das ist nicht nötig. Ich teile euch das Geheimnis auch so mit. Euer Wort würde mir reichen. Gebt ihr mir das Versprechen?«

Die beiden Freunde sahen einander an und nickten sich zu, bevor sie die ihnen entgegengestreckte Hand ergriffen. Cosimo dachte dabei an die Augen der Hexe, und eine innere Stimme sagte ihm, dass dieses Weib nicht wirklich so dumm und gutgläubig war, wie es den Anschein hatte. Irgendetwas mussten sie beide übersehen haben, eine kleine, unscheinbare Klausel, die sich ganz schnell als tödliche Falle entpuppen konnte.

»Und wo ist jetzt das Geheimnis?«, fragte Giacomo, der allmählich ungeduldig wurde.

»Hier«, erwiderte Arianna, zog aus einer Falte ihres Kleides etwas heraus und reichte es Cosimo.

Verblüfft nahm er den Gegenstand und drehte ihn hin und her. Es war ein ganz gewöhnlicher, von seiner Rinde vollständig befreiter Ast, ein Knüppel, etwa eine Elle lang und so dick wie das Handgelenk eines Mannes. Nichts Ungewöhnliches war an ihm zu entdecken, keine rätselhaften eingeritzten Zeichen, nicht einmal eine ungewöhnliche Maserung, nichts. Es war einfach ein dicker trockener Ast, der gewiss gut brennen würde, wenn man ihn in den Ofen warf. Er sah die Hexe ungläubig an. Was sollte das sein? Etwa ein Zauberstab?

»Öffne ihn, dann wirst du es sehen.«

Öffnen? Cosimo warf Arianna einen überraschten Blick zu. Dann glitt er mit den Fingern vorsichtig über das Holz. Tatsächlich spürte er eine Rille, kaum breiter als ein Haar. Erst jetzt erkannte er, dass der Ast aus zwei nahtlos ineinander gefügten Teilen bestand, so fein und sauber gearbeitet, dass man es übersah, wenn man nicht davon wusste. Er drehte die beiden Enden behutsam gegeneinander und hielt zwei Stücke in seinen Händen. Der Ast war in Wahrheit eine Röhre. Und in seinem Inneren steckte ein zusammengerolltes Pergament. Vorsichtig zog Cosimo es heraus. Giacomo schaute ihm dabei über die Schulter.

Bereits auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es sich um eine alte Schrift handelte. Uralt, um genau zu sein, denn die ehemals wohl schwarze Tinte war blass. Doch dank der Röhre, in der es die Jahre trocken und sicher überdauert hatte, befand sich das Pergament in einem erstaunlich guten Zustand, abgesehen von den unregelmäßigen schwarzen Rändern, die bei der Berührung zu schwarzem Staub zerfielen und aussahen, als hätte einst jemand versucht es zu verbrennen. Cosimo erkannte griechische Buchstaben. Doch da waren auch noch andere Zeichen, und die Worte waren unverständlich oder ergaben keinen Sinn. Das Einzige, was sich zweifelsfrei mit einem Blick identifizieren ließ, war eine kleine Zeichnung im linken oberen Rand des Pergaments. Es war das Bild eines Falken.

»Und was soll das jetzt?«, fragte Giacomo und zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich kann nicht ein Wort lesen, geschweige denn verstehen, was dort geschrieben steht.«

»Es ist natürlich verschlüsselt«, erklärte die Frau. »Merlin hat seine Schriften stets in einer Geheimschrift abgefasst, um sie nicht jedem zugänglich zu machen. Doch in Anbetracht eurer Bildung solltet ihr beide in der Lage sein, den Text zu entziffern.«

»Merlin?«, rief Giacomo aus. »Habe ich eben richtig gehört? Du meinst doch nicht etwa den Merlin, der ...«

»Doch, genau den meine ich. Ihn, den Ratgeber der Könige, den größten Magier aller Zeiten. Es ist lange her, da begann er damit, sein Wissen für seine Schüler niederzuschreiben, jeden einzelnen Spruch, jedes Ritual, jedes Rezept, seinen eigenen Weg zu den Geheimnissen der Magie. Alles, was er wusste, stand in diesen Schriften, die in Leder gebunden wohl mehr als zweitausend Seiten umfasst haben mussten. Aus der ganzen Welt kamen gelehrte Männer und Frauen, um dieses Buch zu studieren, und die Magie und die Wissenschaften erfuhren eine Blütezeit, wie sie wohl niemand je erträumt hatte. Doch der Mensch ist nicht in der Lage, mit Wissen und Macht weise umzugehen. Viele missbrauchten Merlins Erkenntnisse – aus falscher Barmherzigkeit, aus Habgier, Hass oder Neid. Einer von ihnen trieb es besonders schlimm. Er benutzte die Schriften des großen Magiers, um jene Grenzen, die Merlin selbst aus Weisheit und Einsicht stets unangetastet ließ, zu überschreiten und seine eigenen furchtbaren Experimente durchzuführen. Er erschuf entsetzliche Ungeheuer, beschwor Dämonen herauf und tat so manches, was gegen jede gottgewollte Ordnung verstieß. Als Merlin davon erfuhr, war er außer sich vor Zorn. Er verfluchte den jungen Magier und vernichtete ihn. Doch letztlich gab er sich selbst und seinem Werk die Schuld an diesem Unglück. Er nannte es seinen ›Fluch‹ und wollte das Buch vernichten. Doch er hatte das Pergament mit einem mächtigen Schutzzauber belegt, sodass es sich der Einwirkung von Feuer, Wasser, Kälte und Alter entzog. Und nicht einmal er selbst war in der Lage, diesen Zauber zu brechen. Da beschwor Merlin einen Sturm herauf. Einen Sturm, der so gewaltig war, dass er das Buch auseinander riss und die Seiten über die ganze Welt verstreute. Seit diesem Tag gilt der Fluch des Merlin, wie das Werk genannt wird, als verschollen. Doch immer wieder tauchen einzelne Seiten auf.« »Und das soll eine davon sein?«, fragte Cosimo ungläubig. Es klang mehr als unwahrscheinlich. Merlin war eine Märchengestalt, ein Mythos, den er aus dem Heldenepos eines Dichters aus dem fernen England kannte. Mehr nicht. »Wie kommst du zu dieser Schrift?«

»Diese Frage kann ich leider nicht beantworten. Das Pergament befindet sich bereits seit langem im Besitz meiner Familie. Es wird von Generation zu Generation weitergegeben, stets von der Mutter auf die Tochter.«

»Und wer sagt uns, dass dieses Pergament echt ist?«

»Der Falke. Er ist Merlins Siegel und ist auf jeder Seite seines Werkes zu finden. Und außerdem ...« Die Hexe lächelte. »Entschlüsselt den Text. Es handelt sich um das Rezept für einen Trank. Probiert ihn aus, dann werdet ihr schon merken, ob das Pergament echt ist oder nicht.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Giacomo und warf Cosimo einen zweifelnden Blick zu. »Sollen wir es wirklich wagen?« Cosimo war unschlüssig. Hundert Dukaten waren wirklich eine ziemlich große Summe für ein Hirngespinst. Doch wenn es wahr war, wenn Arianna Recht hatte und dies wirklich eine Schrift von Merlin war, dann war sie jede einzelne Münze wert. Selbst wenn sie sich niemals die Arbeit machen sollten, die Geheimschrift zu entschlüsseln.

»Ja«, sagte er entschlossen. Jeder Mann in seiner Familie hatte eine besondere Leidenschaft. Sein Onkel sammelte Krüge aus allen Materialien und allen Teilen der Welt, sein Vater sammelte Waffen. Er selbst hatte eine Schwäche für Gemälde und Handschriften. Und diese Handschrift war ohne Zweifel alt. Sie war schön. Und allein der Gedanke, dass sie von Merlin stammen könnte, machte sie unendlich kostbar. Das war beinahe so, als würde ihm jemand einen jener Briefe anbieten, die der heilige Apostel Paulus geschrieben hatte. »Wir sollten es tun. Und wenn du Skrupel hast, so werde ich die Summe allein aufbringen.«

Giacomo zuckte mit den Schultern. Die Hexe lächelte zufrieden.

»Ich wusste, dass ihr den Wert dieser Schrift zu schätzen wisst.«

»Wo willst du deinen Lohn in Empfang nehmen?«

»Ich erwarte euch morgen früh bei Sonnenaufgang hier.«

»Kannst du uns noch etwas über das Rezept sagen?«, fragte Cosimo und versuchte bereits die Buchstaben und Zeichen zu entziffern. Er konnte seine Augen kaum von dem Pergament lösen, so sehr faszinierte es ihn.

»Wenig, denn ich selbst habe nie von diesem Trunk gekostet. So verlockend es erscheinen mag, ich habe mich vor den Gefahren gefürchtet, die darin lauern. Ich kann euch also nur den Rat geben, vorsichtig zu sein. Alles andere müsst ihr selbst entscheiden und herausfinden.«

»Wenn alles geklärt ist, können wir ja gehen«, sagte Giacomo. »Gehab dich wohl.«

Er verbeugte sich halb vor der Hexe und stampfte davon, so als wäre ihm die Laune verdorben worden. Kopfschüttelnd sah Cosimo ihm nach.

»Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist.«

»Er ist schwach und lebt mit den Fesseln, die sein strenger Stiefvater ihm angelegt hat. Doch gerade darin liegt die Gefahr. Denn sollte er eines Tages die Fesseln abstreifen, könnte die neu gewonnene Freiheit seinen Geist verwirren. Du wirst auf ihn aufpassen müssen, Cosimo.«

Sorgfältig rollte Cosimo das Pergament zusammen, schob es in die Röhre zurück und verschloss sie wieder. Nachdenklich drehte er den Ast in seinen Händen, der genauso unauffällig aussah wie zuvor.

»Kaum zu glauben, dass so ein unscheinbarer, gewöhnlicher Ast solch eine Kostbarkeit in sich birgt.«

»Ich sagte euch doch, dass Äußerlichkeiten keinen Wert haben.«

»Wie kannst du sicher sein, dass ich jetzt nicht einfach davongehe und nicht mehr wiederkehre?«, fragte Cosimo. »Ich meine, ich habe das Pergament, du hast uns alles erklärt. Weshalb sollten wir uns an unseren Teil des Geschäfts halten?«

Sie lächelte wieder, doch diesmal war ihr Lächeln so kalt, dass Cosimo mitten an diesem warmen Frühlingstag im April zu frösteln begann.

»Weil ich euch davon abraten würde, es nicht zu tun. Solltet ihr wortbrüchig werden, werde ich mir mein Eigentum zurückholen, heimlich, in der Nacht. Und dann werde ich euch verfluchen. Eure Körper werden vertrocknen, und euer Geist wird sich verwirren. Vergessen von der Welt, angekettet und nackt wie Tiere werdet ihr langsam und qualvoll in einem dunklen, stickigen Loch verenden. Ich kenne eure Namen, ich habe euch beide berührt. Ihr habt mir eure Hände gereicht. Das genügt.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich weiß, für euch ist eine Hexe ein altes, zahnloses, buckliges Weib mit langen, wirren Haaren. Doch ich sagte euch, dass ihr Äußerlichkeiten nicht beachten solltet. Ich habe die Macht, einen Fluch über euch zu sprechen. Und ich werde nicht zögern, es zu tun.«

Ich glaube dir aufs Wort, dachte Cosimo, als er den Weg den Hügel hinunterging. Er hatte keine Eile. Giacomo würde er ohnehin nicht mehr einholen, und es gab so viel, worüber er nachdenken wollte.

Verschwörung in Florenz

Подняться наверх