Читать книгу Das Auge der Fatima - Franziska Wulf - Страница 5

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Nur mühsam unterdrückte Dr. Beatrice Helmer ein Gähnen. Das Licht der blendfreien Lampe fiel auf das vor ihr liegende Operationsgebiet und die zitternden, feuchten Hände der Medizinstudentin, die ihr gegenüberstand. Der Schweiß hatte den Puder in den OP-Handschuhen zu weißen Klumpen verklebt, die sich als dünne Streifen unter dem Latex abzeichneten. Martina Brettschneider war Studentin im letzten Jahr der Ausbildung, im Praktischen Jahr, eine so genannte »PJlerin«. Sie war gerade mit ihrer ersten Wundnaht beschäftigt. Und das bereits seit einigen Minuten.

Beatrice verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein und beobachtete die verzweifelten Bemühungen der PJlerin, den Nadelhalter mit der gebogenen Nadel endlich unter Kontrolle zu bringen und nicht einfach in der offenen Wunde der Patientin zu verlieren. Dabei zog und zerrte sie gleichzeitig mit der Pinzette an der Oberhaut, als hätte sie einen Schiffstampen und nicht die pergamentdünne Bauchhaut einer Frau vor sich. Hoffentlich riss die Haut nicht ein. Einen Bikini würde die alte Dame zwar kaum mehr tragen, fünfundneunzigjährigen doch Wundheilungsstörungen konnte sie bestimmt nicht gebrauchen.

»Der Einstichwinkel muss steiler sein«, sagte Beatrice, als sie es schließlich nicht mehr aushielt, weiterhin untätig zuzusehen. Sie nahm die heiße Hand der jungen Frau und führte sie. Dabei juckte es ihr in den Fingern, Martina Brettschneider einfach Pinzette und Nadelhalter wegzunehmen und die Naht innerhalb kürzester Zeit selbst zu Ende zu bringen. Doch tapfer bezwang sie ihre Ungeduld. Sie selbst hatte schließlich auch einmal – vor unendlich vielen Jahren – ihre erste Wundnaht an einem lebenden Patienten gemacht und dabei die Geduld des OP-Personals auf eine harte Probe gestellt. »Siehst du, Martina? Wenn du die Nadel so hältst, geht sie durch die Haut wie ein Messer durch weiche Butter.«

Die PJlerin schaute auf und warf ihr einen verzweifelten Blick zu, ein stummes Flehen. Hinter den dicken Gläsern ihrer Brille hingen feine Wassertropfen. Weinte sie etwa?

»Nein, Martina«, sagte Beatrice auf die unausgesprochene Frage und schüttelte den Kopf. Ihr jetzt aus Mitleid oder Ungeduld die unangenehme Aufgabe abzunehmen wäre genau der falsche Weg. Martina wäre für immer für die Chirurgie verloren. »Du hast die Naht begonnen und bringst sie selbstverständlich auch zu Ende.« Ein Hustenanfall des Anästhesisten ließ sie aufblicken. »Es sei denn, es kommt etwas dazwischen.«

Hinter dem grünen Vorhang der Anästhesie tauchte Stefans Gesicht auf. Seine Augen funkelten unternehmungslustig. Hoffentlich hatte sie ihn nicht auf einen dummen Gedanken gebracht. Sie selbst wünschte sich ja nichts sehnlicher herbei als eine Durchsage, dass der OP-Saal wegen eines dringenden Notfalls schnellstens geräumt werden müsse.

Während Martina ihren nicht besonders erfolgreichen Versuch, die Wunde zu nähen, fortsetzte, warf die OP-Schwester immer wieder verzweifelte Blicke zur Uhr. Und Stefan fragte die Anästhesieschwester, ob man eine Tischreservierung beim Chinesen wohl ohne Probleme von acht Uhr auf Mitternacht verlegen könne – nur für den Fall, dass es heute länger dauern sollte. Beatrice versuchte diese Bemerkung zu ignorieren. Schmunzeln musste sie trotzdem. Wenigstens konnte Martina es durch die OP-Maske nicht sehen. Das hätte ihr bestimmt den Rest gegeben.

Beatrice seufzte und verlagerte erneut ihr Gewicht. Ja, es war spät. Ja, diese Wundnaht dauerte bereits viel zu lange. Ja, auch ihre Mittagspause ging gerade den Bach runter. Die roten, leider immer noch weit auseinanderklaffenden Wundränder und die grünen Tücher verschwammen allmählich vor ihren Augen. Die Magensäure brannte in ihrem Bauch. Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekäme, würde sie sicherlich ein Loch in die Magenwand ätzen. Und dann – endlich -geschah das Wunder.

Die Tür des OPs ging auf, und Dr. Thomas Breitenreiter kam herein.

»Ich wollte doch mal nachsehen, welch ungewöhnliche Operation euch im OP festhält«, sagte er und trat mit schnellen Schritten an den OP-Tisch. Er warf einen kurzen Blick über Martinas Schulter auf die Wunde. »Nein, wahrhaftig, eine Leistenhernie. Eine der letzten wahren Herausforderungen in der Chirurgie. Sagt nur Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht. Ich stelle sofort ein zweites OP-Team zusammen. Hoffentlich habt ihr Fotos gemacht, um diese medizinische Sensation zu dokumentieren. Wer weiß, vielleicht springt sogar ein Artikel im Lancet dabei heraus.«

Martina Brettschneider war dunkelrot im Gesicht geworden, und jetzt hingen wirklich Tränen hinter ihren Brillengläsern. Beatrice wurde wütend. Sie hätte Thomas ins Gesicht schlagen können.

»Wenn du keine konstruktiven Vorschläge hast oder helfen möchtest, solltest du lieber die Klappe halten und verschwinden«, zischte sie. »Oder hast du gerade nichts zu tun?«

»Nichts wirklich Wichtiges. Nur ein paar Leben retten«, entgegnete er. »Glaubt ihr eigentlich, dass ihr diesen OP für heute gemietet habt? Hier findet nicht der Kurs für Kunststickerei statt. Macht endlich, dass ihr mit eurer Hernie fertig werdet und hier rauskommt. Abgesehen von einem Schwerverletzten, der so schnell wie möglich operiert werden muss, haben wir nämlich noch ein volles Programm.«

Dann rauschte er wieder davon, und mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Wütend sah Beatrice ihm nach. Dieser eingebildete, arrogante Kerl, dieses Riesena... In diesem Moment trafen sich ihre Blicke durch die Scheiben zum Waschraum. Thomas zwinkerte. Und dann winkte er ihr sogar fröhlich zu.

»Dieser elende Schwindler!«, dachte sie und spürte, wie sich im selben Augenblick ihr Zorn in nichts auflöste. Seine Methoden waren natürlich brutal, erniedrigend, manchmal sogar verabscheuungswürdig. Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass sie tief in ihrem Innern Thomas für sein Auftauchen dankbar war.

»Es ist wohl besser, wenn ich jetzt weitermache«, sagte sie und streckte ihre Hände aus. Widerspruchslos gab Martina ihr den Nadelhalter und die Pinzette. Vielleicht war sie noch erleichterter als alle anderen hier im OP.

Schnell und routiniert reihte Beatrice Knoten um Knoten aneinander, bis die Wunde aussah wie eine Schnur mit in gleichmäßigen Abständen aufgereihten, kleinen, roten blau geränderten Perlen. Es waren nicht einmal zwei Minuten vergangen, als sie bereits die Tuchklemmen lockerte, die sterile Mullkompresse auf die Wunde legte und das Pflaster draufklebte. Die OP war beendet. Endlich. Während Stefan mit der Ausleitung der Narkose begann, warfen sie und Martina ihre Handschuhe in den Mülleimer und zogen sich die grünen OP-Kittel aus.

»Danke«, sagte Martina leise. Ihr Gesicht unter der Maske war hochrot, ihre Stirn schweißnass. Sie nahm ihre Brille ab und wischte sie mit einem Zipfel des OP-Hemdes trocken. Ihre Hände zitterten immer noch. Sie schämte sich, das war unverkennbar. »Es tut mir leid, dass ich mich so ungeschickt angestellt habe. Ich...«

»Ganz egal, was Thomas gesagt hat, es muss dir überhaupt nicht leidtun«, erwiderte Beatrice freundlich. »Für dich war es schließlich das erste Mal. Du solltest zu Hause in Ruhe die Knoten üben. Ich hatte einen Kommilitonen, der an rohen Schweinefüßen geübt hat, bis ihn seine WG wegen des abscheulichen Gestanks im Kühlschrank rausschmeißen wollte. Aber spätestens wenn du in ein paar Wochen auf die Notaufnahme kommst, wirst du sehr oft Gelegenheit haben, Platzwunden zu nähen. Und dann wirst du es können.«

Martina nickte zwar, aber ihre resignierte Körperhaltung sprach Bände. Sie war total frustriert. Und Beatrice konnte es ihr noch nicht einmal verdenken.

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie.

Beatrice warf einen Blick auf die große Wanduhr, die an der Stirnseite des Ganges hing. Es war Viertel nach zwei. Zu spät für das Mittagessen. Die Personalkantine schloss gerade in diesen Minuten ihre Pforten. Blieb also höchstens ein Snack beim Imbiss um die Ecke.

»Hast du schon gegessen?«

»Ja.«

»Dann sei so lieb und geh wieder auf die Station. Du kannst schon mit dem Wechseln der Verbände beginnen. Ich werde noch den OP-Bericht diktieren und den Bogen für die liebe Verwaltung ausfüllen. In einer Viertelstunde komme ich nach.«

Beatrice sah der davongehenden Martina hinterher. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welchen schweren Schaden das Selbstbewusstsein der jungen Frau gerade erlitten hatte. Diese Niederlage musste sie als angehende Ärztin erst einmal verkraften. Und das beste Mittel dafür war immer noch – das wusste Beatrice aus eigener Erfahrung – die Arbeit am Patienten.

Nachdem sie in der Schreibecke den Bericht in das dort bereitliegende Diktaphon gesprochen hatte, stieß Beatrice die Tür zum Aufenthaltsraum auf. Sie nahm ihre OP-Maske ab und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.

»Du brauchst dich nicht zu bedanken, Bea«, sagte Thomas. Er saß lässig mit lang ausgestreckten Beinen auf einem der uralten Stühle, einen Plastikbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit vor sich, und grinste breit.

»Tatsächlich?«, fragte Beatrice und drückte auf eine Taste des Kaffeeautomaten. Es war die Taste für »Schwarz«, die einzige Möglichkeit, dieses künstliche Gebräu, das, abgesehen von der Farbe, keine weitere Ähnlichkeit mit Kaffee hatte, zu ertragen. Sie wollte gerade beginnen, Thomas einen Vortrag über Kollegialität und Fairness zu halten, über Einfühlungsvermögen und Lehrauftrag, doch sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte. Außerdem, hatte sie nicht selbst verzweifelt nach einer Ausrede gesucht, um diese elende Vorstellung endlich beenden zu können? »Trotzdem danke. Wenn du uns nicht gerettet hättest, würden wir vermutlich noch heute Abend am Tisch stehen.« Beatrice fischte den heißen Plastikbecher aus der Öffnung am Automaten und ließ sich dann gegenüber von Thomas auf einen der Stühle sinken. »Ich frage mich nur, wer oder was dich auf die Idee gebracht hat. Kannst du Gedanken lesen?«

»Nein. Ich habe mich nur gewundert, weshalb du für eine ganz banale Leistenhernie über eine Stunde brauchst. Und als ich dann die PJlerin da herumwerkeln sah, wurde mir alles klar.« Er machte ein strenges Gesicht. »Du hast ein viel zu gutes Herz, Bea.«

»Ach, red' doch keinen Quatsch«, erwiderte Beatrice und nippte an dem Automatenkaffee. Das Zeug schmeckte kaum besser als Eibschlamm, aber es war wenigstens heiß. Dann beugte sie sich über den dreiseitigen Fragebogen, den sich ein bekanntes deutsches Institut für Unternehmensberatung ausgedacht hatte, um die Wirtschaftlichkeit in Hamburger Krankenhäusern zu überprüfen. Drei Seiten mit Fragen wie »Grund der Operation«, »Beginn«, »Ende«, »Komplikationen«, »Anzahl der Nähte«, »Verwendetes Material« und vieles mehr. Natürlich musste alles maschinell lesbar sein und sorgfältig mit einem eigens dafür bereitgestellten Bleistift ausgefüllt werden. Die Chirurgen hatten schließlich sonst nichts zu tun. Wurden eben ihre Pausen kürzer.

»Die halbe Stunde Nahtunterricht solltest du besser verschweigen«, empfahl Thomas und tippte auf einen der Bogen. »Das würde den Erbsenzählern bestimmt nicht gefallen. Das ist nämlich alles andere als wirtschaftlich. Außerdem gibt es dafür ohnehin kein Feld.«

Beatrice kaute nachdenklich auf ihrer Lippe.

»Ich schreib es unter ›Verschiedenes‹ Immerhin sind wir ein akademisches Lehrkrankenhaus. Wenn wir nicht bereit sind, die Studenten vernünftig auszubilden, können wir auch nicht mit fähigen AiPlern rechnen, die ihre Arbeit gut und zügig erledigen. Das müssten doch sogar diese Wirtschaftsprüfer einsehen.«

»Aber bedenke, Bea: Nicht jeder ist auserwählt«, erwiderte Thomas und schnipste ungerührt die Asche seiner Zigarette in den bereits randvollen Aschenbecher. »Darin gebe ich den Erbsenzählern übrigens recht. Man muss Prioritäten setzen und entscheiden, bei wem sich die Mühe lohnt.«

Beatrice sah von ihren Fragebogen auf und lächelte.

»Und woran willst du das erkennen?«

Thomas kniff ein Auge zu und inhalierte tief.

»Frag mal, woran ein Gärtner sein keimendes Saatgut vom Unkraut unterscheidet. Ich erkenne es eben. Da sind ganz bestimmte Merkmale: Ausdauer, Biss, Kreativität, Improvisationstalent, Geschicklichkeit, Humor, hoher IQ...«

»Du hast Arroganz und Zynismus vergessen«, unterbrach Beatrice seine Aufzählung. Doch Thomas achtete nicht auf sie.

»Selbstbewusstsein, Verantwortungsgefühl, Individualität, Risikobereitschaft. Wer diese Eigenschaften besitzt, hat das Zeug zum Chirurgen. Alle anderen...« Er machte eine ausladende Geste.

»Und Martina?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Eindeutig Unkraut. Weg damit. Überlass sie den Internisten, Neurologen oder Psychiatern, da ist sie vermutlich gut aufgehoben. Versteh mich nicht falsch, ich behaupte nicht, dass sie dumm ist. Aber in der Chirurgie hat diese Frau nichts verloren.«

Insgeheim gab Beatrice ihm recht. Martina war sanft und einfühlsam. Sie schien sich lieber mit den Patienten zu unterhalten, als manuell an ihnen zu arbeiten. Keine guten Voraussetzungen für ein operatives Fach. Trotzdem wollte sie sich nicht so einfach geschlagen geben.

»Ich sage dir, wenn du mich bei meiner ersten Naht beobachtet hättest, würdest du ganz anders...«

»Nein, Bea. Du bist Chirurgin. Durch und durch. Und das merkt man einfach. Sogar bei der allerersten Naht. So etwas ist angeboren.«

Beatrice musste lachen.

»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen? Das ist ziemlich ...«

Das Läuten des Telefons, das hinter Thomas an der Wand hing, unterbrach sie. Lässig angelte er nach dem Hörer.

»Breitenreiter«, nuschelte er und machte sich nicht einmal die Mühe, die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. »Oh, natürlich. Ich gebe sie Ihnen. Sie sitzt mir gegenüber. Für dich, Bea. Deine Mutter.«

Beatrice runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wenn ihre Familie bei ihr im Krankenhaus anrief. Sie hatte es ihrer Mutter eingeschärft. Selbst wenn sie Michelle aus dem Kindergarten abgeholt hatte und das bald vierjährige Mädchen unbedingt und jetzt sofort ihre Mama sprechen wollte, hatte sie es den beiden verboten. Michelle konnte bis zum Abend warten. So schwer es manchmal auch für die Kleine war, sie musste sich daran gewöhnen. Im Krankenhaus anzurufen hatte immer den Beigeschmack eines Notfalls, eines Unglücks. Außerdem sah es der Chef nicht gern. Beatrice stand auf und nahm Thomas den Hörer ab.

»Ja?« Sie merkte selbst, wie unwirsch sie klang. Doch als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, wich ihr Zorn einer abgrundtiefen Angst. Ihre Mutter klang verzweifelt. Sie hatte geweint. Irgendetwas war passiert. Ein Unglück, etwas ganz Schreckliches.

»O Beatrice...«, schluchzte sie.

»Was ist?«, unterbrach Beatrice ihre Mutter und merkte, wie die Furcht langsam ihre Kehle zuschnürte. Ihr Vater hatte vor zwei Jahren einen Herzinfarkt erlitten. War er etwa wieder...? »Was ist passiert? Nun rede doch endlich. Ist etwas mit Papa?«

»Nein«, antwortete Frau Helmer mit tränenerstickter Stimme. »Es ist Michelle, sie ist...«

»Was?« Beatrice brüllte in den Hörer. Sie fühlte sich, als hätte ein Laster sie gerammt. »Michelle? Was ist mit ihr?«

»O Beatrice! Wir sind im Krankenhaus. Die Ärzte sagen... Sie sagen, unsere Kleine liegt im Koma!«

Beatrice hatte den Eindruck, der Boden würde unter ihren Füßen nachgeben. Die Welt um sie herum wurde schwarz, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Koma. Ihre Tochter, dieses kleine fröhliche Wesen mit den blonden Haaren und den großen leuchtend blauen Augen... Nein. Sie hatte sich verhört. Sie musste sich verhört haben. Weshalb sollte ihre Tochter denn auch ins Koma fallen? Michelle litt weder an Diabetes noch an einer anderen Stoffwechselkrankheit, und sie hatte keinen Herzfehler. Konnte also höchstens ein Tumor... oder ein Unfall... Michelle fuhr so gerne mit ihrem neuen Fahrrad die Straße vor ihrem Haus auf und ab.

»Wo seid ihr jetzt?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen.

»Im Wilhelms-Stift. Bitte komm...«

Doch was ihre Mutter noch sagte, hörte Beatrice nicht mehr. Wie in Trance drückte sie auf die Gabel. »Welche Piepser-Nummer hat der Chef?«, fragte sie Thomas. Ihre Zunge war so trocken, dass sie am Gaumen klebte.

»3408.«

Sie wählte. Die Wählscheibe drehte sich unendlich langsam. Das war ihr noch nie zuvor aufgefallen. Warum gab es hier eigentlich kein modernes Tastentelefon? Da sollten die Unternehmensberater mal ansetzen. Wertvolle Zeit ging verloren, wenn man so lange auf die Wählscheibe warten musste. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, hörte sie das Zeichen, dass der Piepser ihren Ruf akzeptiert hatte, und legte auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr, die über der Tür des Aufenthaltsraums hing. Es war zwei Minuten vor halb drei. Eine qualvolle Minute lang wartete sie, dann läutete das Telefon wieder. Die schnarrende Stimme ihres Chefs mit dem singenden österreichischen Akzent meldete sich.

»Dr. Mainhofer, hier Helmer. Ich muss mich abmelden. Meine Tochter wurde eben ins Kinderkrankenhaus eingeliefert.«

»Aha.« Hatte der Kerl nicht mehr dazu zu sagen? Nur Aha? Kein Tut mir leid? Nichts, was seine Anteilnahme ausdrückte? »Wie sieht es bei Ihnen auf der Station aus?«

Noch nie zuvor war Beatrice die Stimme ihres Chefs so kühl und emotionslos erschienen. Hatte dieser Mann denn gar kein Herz? Ihr Kind, ihre fast vierjährige Tochter lag im Krankenhaus. Sie musste doch zu ihr! Das sollte doch selbst einem Eisblock klar sein. Aber tief in ihrem Innern regte sich eine Stimme, die Dr. Mainhofer verteidigte. Er tat nur seine Pflicht. Egal, von welchen Schicksalsschlägen sein Personal auch betroffen sein mochte, er musste stets zuerst an die Patienten denken. Sie mussten versorgt sein.

»Ich weiß nicht...«

Konnte Thomas wirklich Gedanken lesen, oder hatte er die Worte ihres Chefs gehört? Er nickte.

»Ich übernehme deine Station und deinen Dienst morgen«, sagte er leise. Keine Spur mehr von Spott oder Zynismus in seiner Stimme.

Beatrice schloss erleichtert die Augen.

»Dr. Breitenreiter hat bereits angeboten, mich zu vertreten«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte und bebte. Sie erkannte sie kaum noch.

»Soviel ich weiß, hat er eigentlich bis Montag frei«, erwiderte Dr. Mainhofer kühl. Beatrice fragte sich, ob er es genoss, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Als ob es nicht schon ausreichen würde, dass ihr vor Angst um ihre kleine Tochter fast das Herz stehen blieb. »Aber wenn er es für richtig hält, dann soll er für sie einspringen. Allerdings soll er sich nicht einbilden, dass ihm diese Überstunden bezahlt werden. Das muss er irgendwann mit Ihnen ausmachen. Sie können gehen, Frau Helmer. Wann werden wir wohl wieder mit ihrer Anwesenheit rechnen können?«

Beatrice schüttelte den Kopf. Nur mühsam gelang es ihr, die Tränen zu unterdrücken.

»Ich weiß es nicht. Ich habe noch keine Ahnung, was eigentlich los ist, und...«

»Wenn Sie es wissen, melden Sie sich bei meiner Sekretärin, damit wir planen können.«

Er legte auf, und Beatrice warf den Hörer auf die Gabel. Sie war so wütend, dass sogar die Angst um Michelle dahinter zurücktrat. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann kehrte sie zurück, noch schlimmer als vorher.

Koma. Das Wort hämmerte durch ihr Gehirn, laut und unbarmherzig wie die riesigen stampfenden Kolben eines alten Schiffsmotors. Sie zitterte am ganzen Körper und fror so erbärmlich, als wäre hier im Aufenthaltsraum plötzlich der arktische Winter ausgebrochen.

»Schaffst du es?«, fragte Thomas und berührte sie für einen kurzen Moment sanft am Arm.

Sie sah ihn an. Wie oft hatte sie sich über ihn, sein mangelndes Mitgefühl, seinen Zynismus und seine Arroganz geärgert, die nur noch vom Chef selbst überboten wurden. Mit so viel Einfühlsamkeit und Hilfsbereitschaft hätte sie daher nie gerechnet. Nicht bei Thomas Breitenreiter. Wie man sich doch täuschen konnte.

»Danke«, stieß sie hervor. »Wirklich, ich wüsste nicht, was ich sonst...«

Er winkte ab. »Schon gut. Mach dich auf den Weg. Aber du solltest dir lieber ein Taxi nehmen, sonst setzt du deinen Wagen noch gegen den nächstbesten Laternenpfahl.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es wird schon gehen.« Sie trat zur Tür. Jeder einzelne Schritt wurde zur Qual und dauerte ewig. Es kam ihr vor, als hätte die Schwerkraft hier im Krankenhaus plötzlich um ein Vielfaches zugenommen. Die Schwestern, Pfleger und Ärzte auf dem Gang waren stehen geblieben, verharrten mitten in ihren Bewegungen, als wären sie eingefroren. Sie selbst bewegte sich wie in Zeitlupe, kämpfte mit aller Kraft gegen den Stillstand an, der auch von ihr Besitz ergreifen wollte. Als sie dann endlich die Schleuse erreicht hatte, war sie schweißgebadet.

Ausziehen!, dachte Beatrice. Du musst dich doch nur ausziehen. Warum fällt dir das ausgerechnet jetzt so schwer? Jetzt, da es auf jede Minute ankommt?

Sie streifte sich die als Strümpfe dienenden Mullschläuche von den Füßen und warf sie in den Mülleimer.

Hier hat es vor etwas mehr als vier Jahren begonnen, fiel ihr plötzlich ein. Hier, in diesem Raum, war ihr der Saphir, einer der Steine der Fatima, aus der Kitteltasche gefallen. Hier hatte er sie auf ihre erste seltsame Reise mitgenommen, eine Reise, die sie in das arabische Mittelalter geführt hatte, nach Buchara.

Beatrice war überrascht. Sie dachte nur selten an die Steine der Fatima und die beiden Reisen, auf die sie die Steine bereits geschickt hatten. Sie hatte meist viel zu viel zu tun. Es gab andere Dinge, an die sie denken musste – ob sie es schaffen würde, Michelle pünktlich vom Kindergarten abzuholen, was sie noch einkaufen musste, was sie zum Essen kochen wollte. Ganz normale Dinge eben, die wohl jeder berufstätigen Frau und Mutter permanent durch den Kopf gingen. Die Steine der Fatima kamen ihr höchstens mal in den Sinn, wenn sie in der Badewanne oder in ihrem Bett lag. Manchmal träumte sie auch von ihnen. Dann überfielen sie die Erinnerungen. Aber seltsamerweise niemals in diesem Raum. Jeden Tag, wenn sie in den OP musste, kam sie in die Schleuse, und noch nie hatte sie dabei an die Steine der Fatima gedacht. Warum fiel es ihr ausgerechnet jetzt ein? Jetzt, da sie eigentlich nur an eines denken sollte – an Michelle?

Sie zog sich das grüne OP-Hemd und die Hose aus und warf sie in die bereitstehenden Wäschesäcke. Nur in Unterwäsche trat sie durch die zweite Tür in den Umkleideraum, wo ihre Sachen hingen – das weiße Hemd und die weiße Hose. Einen weißen Kittel trug sie in der Regel nur während der Chef-Visite oder zu anderen vergleichbaren Gelegenheiten. Sie zog sich an. Langsam, viel zu langsam, während sie immer wieder an ihre erste Reise denken musste.

Damals hatte sie in Buchara Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina kennengelernt. Er war auch Arzt gewesen, sogar ein sehr berühmter in der damaligen Zeit. Und, so verrückt und seltsam es war, er war Michelles Vater. Wenn er doch nur hier sein könnte! Dann wäre sie in dieser entsetzlichen Situation wenigstens nicht allein.

Beatrice ärgerte sich, als ihr einfiel, dass sie noch einmal auf die Station gehen musste, denn dort lagen verschlossen in ihrem Schrank die Autoschlüssel. Und natürlich musste sie auch den Schwestern sagen, dass Thomas sie vertreten würde. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Kollegen. Was er heute getan hatte, würde sie ihm nie vergessen. Niemals.

Beatrice war selbst überrascht, als sie sich im nächsten Augenblick auf der Station wiederfand. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie gegangen war. Sie ging in das Arztzimmer, trat zu ihrem Schrank und nahm ihre Tasche heraus.

»Frau Dr. Helmer?« Schwester Ursula, die Stationsschwester, kam herein und sah sie besorgt an. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich muss weg«, sagte Beatrice und wunderte sich, wie normal ihre Stimme plötzlich klang. Fast so, als hätte sie nur etwas zu Hause vergessen. Etwas vergleichbar Unwichtiges wie ihren Ausweis oder ihr Geld. »Ich habe einen Anruf bekommen. Meine Tochter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Dr. Breitenreiter wird mich solange vertreten.« Schwester Ursula sah sie mit dem entsetzten, mitfühlenden Blick eines Menschen an, der genau wusste, was in diesem Moment in Beatrice vorging. Auch sie war Mutter. Sie hatte drei Söhne, die immer mal wieder mit mehr oder weniger schweren Blessuren vom Sport nach Hause kamen.

»Ist es etwas Schlimmes?«

Beatrice schüttelte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht.«

Als Beatrice kurz darauf hinter dem Steuer ihres Wagens saß, warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war vierzehn Uhr dreiunddreißig. Seit ihrem Telefonat mit dem Chef waren gerade mal fünf Minuten vergangen, dabei kam es ihr vor, als wäre es mindestens eine Stunde her. Offensichtlich war sie doch nicht so langsam gewesen, wie es ihr erschienen war. In der Tat musste sie schneller als der Blitz gewesen sein. Sie trug sogar noch ihre weiße Krankenhauskleidung. Eine Sekunde lang überlegte sie, ob sie wieder zurückgehen und sich umziehen sollte. In weißer Kleidung das Krankenhausgelände zu verlassen, verstieß eigentlich gegen die Vorschrift.

Egal. Wer in so einer Situation kein Verständnis aufbringt, kann mich mal gern haben. Dann zahle ich eben ein Bußgeld.

Beatrice startete den Wagen und fuhr vom Personalparkplatz. Ein alter Mann auf einem gelben Klapprad kreuzte die Ausfahrt. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, zu bremsen.

Vielleicht hättest du doch auf Thomas hören und ein Taxi rufen sollen, dachte sie, während sie dem Alten nachschaute. Unbeirrt trat er weiter in die Pedale, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er um ein Haar auf ihrer Motorhaube gelandet wäre. Beatrice legte beide Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch. Das war noch einmal gut gegangen.

Du musst dich besser konzentrieren, Bea!, ermahnte sie sich selbst. Sonst kommst du niemals heil am anderen Ende der Stadt im Kinderkrankenhaus an.

Tatsächlich schaffte sie es, ihre Gedanken an Michelle zu verdrängen und sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren. Diese Fähigkeit zur Konzentration hatte sie sich in den vergangenen Jahren angeeignet, sozusagen als Nebenprodukt ihrer chirurgischen Tätigkeit. Wer sich nachts um halb drei nach zwanzig Stunden Dienst nicht selbst wieder aus einem toten Punkt herausreißen konnte, um einen von Messerstichen zerfetzten Magen zusammenzuflicken, konnte auf Dauer in der Chirurgie nicht bestehen.

Trotzdem war sie überrascht, als sie schließlich auf dem Parkplatz des Kinderkrankenhauses ihren Wagen abstellte -ohne neue Beulen in der Stoßstange ihres Wagens und ohne schwerwiegende Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung begangen zu haben.

Das Auge der Fatima

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