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ОглавлениеAli al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina saß zurückgelehnt in einem Sessel und ließ sich den Bart stutzen. Der Barbier tanzte um ihn herum wie ein Derwisch. Der Mann war jung und lebte noch nicht lange in der Stadt. Erst vor Kurzem hatte er sein Geschäft eröffnet. Und dass bereits an einem der ersten Tage Ali al Hussein, der berühmte Gelehrte und Leibarzt des Emirs, den Weg zu ihm gefunden hatte, erfüllte ihn mit Dankbarkeit, Freude und Stolz. Das merkte man ihm deutlich an.
Während der junge Barbier Alis Bart eifrig mit einem köstlich duftenden Schaum einrieb und sich dann geschickt mit seinem Rasiermesser ans Werk machte, stand seine Zunge keinen Augenblick still. Immer wieder pries er Allah für seine außerordentliche Güte, und zwischendurch überschlug er sich fast vor Lob und Begeisterung über die Taten seines berühmten Kunden, die man sich, so sagte er wenigstens, nicht nur in Qazwin, sondern überall in den Städten der Gläubigen erzählte.
Ali versuchte einfach, nicht hinzuhören und die Rasur zu genießen. Nicht etwa, dass er Schmeicheleien gegenüber unempfänglich war. Im Gegenteil. Er hörte sie, wie vermutlich jeder Mensch unter Allahs Sonne, sogar recht gern. Und an jedem anderen Tag hätte er den Eifer des jungen Barbiers mit einem Lächeln quittiert und ihn mit ein paar Anekdoten aus seinem Leben, zum Teil wahr, zum Teil erfunden, belohnt.
Nur nicht heute. Heute war ihm seltsam zumute. Er wollte keine Worte über seinen Edelmut und seine außergewöhnlichen Taten, nichts von seinem ereignisreichen Leben hören. Er wollte nichts weiter als schweigen und dem gleichmäßigen Schaben des Rasiermessers lauschen.
Während der Barbier weiterhin sein Glück pries, das Allah ihm durch die Anwesenheit des großen Arztes geschenkt hatte, versuchte Ali, die Ursache für seine sonderbare Stimmung zu ergründen. Wann hatte es begonnen? Wann hatte ihn diese Schwermut befallen? Eine Niedergeschlagenheit, die ihn sogar dazu verleitet hatte, gegen seine Gewohnheit seine Pflichten zu vernachlässigen. Er hatte sein Haus, ohne dass die wartenden Patienten es bemerkt hatten, durch die Hintertür verlassen, um durch die Straßen von Qazwin zu schlendern und sich schließlich den geschickten Händen des jungen Barbiers anzuvertrauen.
»Neigt Euren Kopf jetzt ein wenig zur Seite, Herr«, sagte der Barbier und führte ihn mit sanftem Druck in die gewünschte Richtung.
Gehorsam hielt Ali seinen Kopf zur Seite geneigt. Von seiner jetzigen Position aus konnte er die in der Gasse vorbeieilenden Menschen beobachten. Der Barbier hatte sich für sein Geschäft keine besonders vornehme Gegend ausgesucht. Vermutlich besaß er nicht genügend Geld, um die wesentlich höheren Steuern in einem der besseren Viertel der Stadt bezahlen zu können. Wenigstens jetzt noch nicht. Denn der junge Barbier war außergewöhnlich geschickt. Das würde sich bald herumsprechen.
Noch zwei bis drei Jahre, dachte Ali, dann wird sein Geschäft in der Nähe des Palastes liegen. Und falls ich mich dann immer noch in Qazwin aufhalten sollte, kann ich überall erzählen, dass ich einer seiner ersten Kunden gewesen bin.
Aber das war unwahrscheinlich. In den Jahren, die seit seinem ersten Dienst als Leibarzt des Emirs von Buchara vergangen waren, hatte es Ali in keiner Stadt lange gelitten. Manchmal hatte man ihn zum Gehen aufgefordert, und einmal hatte er sogar Hals über Kopf fliehen müssen. Meistens jedoch war er aufgebrochen, bevor die Lage für ihn zu brenzlig geworden war. Seine Suche hatte ihn dabei immer weitergetrieben. Diese erfolglose, verzweifelte Suche nach etwas, von dem er selbst nicht sagen konnte, was es eigentlich war. Und er glaubte nicht wirklich daran, dass er »es«, was auch immer es sein mochte, ausgerechnet in Qazwin finden würde.
Ali gähnte und betrachtete gelangweilt die Männer und Frauen, die draußen vorübergingen. Es waren einfach gekleidete Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienten. Sie waren Bauern, Handwerker, kleine Händler und Tagelöhner, die in geflochtenen Körben ihre Einkäufe – Brot, Gemüse, Obst und Fleisch – vom nahe gelegenen Marktplatz nach Hause trugen.
Wieso, dachte Ali, wurde aus einem Menschen ein Emir, aus dem anderen ein Tagelöhner? Wieso aß der eine von goldenen Tellern, während der andere sein trockenes Brot mit Schweiß und Tränen würzte? Wer legte fest, in welcher Hülle welches Wesen, welcher Geist geboren wurde? War es Vorsehung? Der allmächtige Wille einer höheren Macht oder einfach nur Zufall? Wieso saß er hier in diesem Stuhl und ließ sich bedienen? Wieso gehörte nicht seine Seele in den Körper jenes Mannes, der draußen mit zwei Schläuchen über den Schultern vorbeiging und an die Vorbeieilenden Wasser verkaufte? Ali war fest davon überzeugt, dass er nichts getan hatte, um derartige Privilegien zu rechtfertigen. Wenn er seine Geburt in einem Haus eines sehr reichen Kaufmannes der Gnade eines Gottes zu verdanken hatte, so hatte er diese Gnade sicher nicht verdient.
Während Ali darüber nachdachte, ob Aristoteles, Sokrates, Plato oder einer der anderen griechischen und römischen Philosophen die Antworten auf diese interessanten Fragen kannten, blieb eine Frau direkt vor der Tür des Barbiers stehen. Offensichtlich wollte sie nichts weiter als ihren Korb wieder zurechtrücken, der ihr vom Kopf zu rutschen drohte. Dabei wendete sie jedoch Ali ihr Gesicht zu. Und dieser Blick durchfuhr ihn wie ein glühendes Eisen, riss ihn aus seinen Gedanken. Er sprang auf, ohne zu merken, dass der Barbier ihn dabei mit seinem scharfen Messer ins Ohrläppchen schnitt.
Ali zitterte am ganzen Körper. Er hatte die Augen der Frau gesehen. Diese Augen waren blau, so blau wie der Himmel zu Beginn der Abenddämmerung.
»Beatrice!«, brüllte er, stürmte auf die Straße hinaus und rannte der Frau mit dem Korb hinterher. Doch auf der Straße gingen viele verschleierte Frauen, die Körbe trugen. Welche von ihnen war die mit den blauen Augen? Wohin war sie gegangen? »Beatrice!«, schrie er wieder. »Bea...«
Er brach ab. Die Menschen sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren, und wichen schließlich vor ihm zurück, als wäre er von einem Dämon besessen. Dann bemerkte er, dass er mitten auf der Straße stand mit Seife im Gesicht und einem Handtuch um den Hals. Vielleicht war es ja doch nur ein Trugbild.
»Herr, wo wollt Ihr denn hin? Kommt zurück!« Der Barbier hatte ihn schließlich eingeholt und blieb keuchend neben ihm stehen. »Kommt doch zurück!«
Verwirrt sah Ali den jungen Mann an, der flehend seine Hände hob.
»Vergebt mir meine Ungeschicklichkeit, Herr«, sagte er. »Ich bin wahrlich untröstlich, aber...«
Ali runzelte die Stirn. War er jetzt wirklich verrückt geworden?
»Wovon sprichst du eigentlich?«
»Von Eurem Ohrläppchen, Herr, das mein Messer ein wenig geritzt hat und Euch...«
Ali tastete nach seinem Ohr und spürte etwas Warmes, Klebriges. Dann blickte er auf seine Finger, an denen tatsächlich Blut war. Er hatte den Schnitt nicht bemerkt. Noch einmal sah er auf und ab, in der Hoffnung, die Frau mit den blauen Augen doch noch zu entdecken. Aber sie war verschwunden. Vielleicht versteckte sie sich irgendwo und wartete, bis der Trubel sich gelegt hatte. Vielleicht. Wahrscheinlicher aber war, dass er sich getäuscht hatte. Überall, sogar hier in der kleinen Stadt Qazwin gab es Frauen mit blauen Augen. Dafür sorgten die Sklavenhändler, die in alle Länder bis weit nach Osten und Westen vordrangen und mit reicher Beute in die Städte der Gläubigen zurückkehrten.
»Vielleicht hat es mit dem fortschreitenden Alter zu tun«, sagte Ali leise zu sich. »Allmählich werde ich wohl närrisch und sehe Personen, die nur in meinen Träumen existieren.«
»Wie bitte, Herr?«, fragte der Barbier und sah Ali so ängstlich an, als würde er erwarten, das Todesurteil aus seinem Mund zu empfangen. »Was habt Ihr gesagt?«
Und plötzlich verstand Ali. Einen Kunden beim Rasieren zu verletzen war beinahe das schlimmste Unglück, das einen Barbier treffen konnte. Ein Wort von ihm, und die Laufbahn des jungen Mannes würde beendet sein, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Dabei war er wirklich geschickt. Ali bekam Mitleid mit ihm. Dass er geschnitten worden war, war schließlich seine eigene Schuld. Wäre er nicht so unvermittelt aufgesprungen, um einem Trugbild hinterherzujagen, das Messer des Barbiers hätte ihn niemals verletzt.
»Wie ist dein Name, Freund?«, fragte er und legte beschwichtigend seinen Arm um die bebenden Schultern des jungen Mannes. Gerade war ihm eine Möglichkeit eingefallen, ihm zu helfen.
»Kasim, Herr«, antwortete der Barbier. Er zitterte jetzt so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Vermutlich glaubte er, dass Ali gleich die Stadtwache rufen, sein Missgeschick als Tätlichkeit darstellen und ihn deswegen anzeigen würde. Die Strafe würde ohne Zweifel hart sein. Das Gefängnis und die Folterknechte von Qazwin hatten einen Furcht einflößenden Ruf.
»Seht her, Leute, seht her!«, rief Ali mit lauter Stimme, sodass die Menschen in der engen Straße stehen blieben und sich um ihn versammelten. »Mein Name ist Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Ihr kennt diesen Namen, denn ich bin der Leibarzt des Emirs. Dieser Mann hier an meiner Seite ist Kasim, der Barbier. Von seinen großen Taten will ich euch berichten. Sein Geschäft ist dort, gleich neben dem des Tuchhändlers Kemal. Ich war bei ihm, um mir den Bart stutzen zu lassen, als ich durch das Fenster ein Mädchen von so vollendeter Schönheit erblickte, dass es sich nur um einen von Allah gesandten Engel gehandelt haben kann, der an dem Geschäft des Barbiers vorüberging, um ihn zu segnen. Ich sprang auf, um diesem Engel nachzueilen. Durch diese unbedachte Bewegung muss Kasims Messer mein Ohrläppchen getroffen haben, sodass ich, wie ihr jetzt seht, blute. Aber gepriesen sei Allah, der Kasim, den Barbier, mit so begabten Händen gesegnet hat, denn eines sage ich euch: Kasims Rasur ist so sanft, dass ich noch nicht einmal bemerkt habe, wie sein Messer mich geritzt hat! Preist die Güte und Allmacht Allahs, die uns so einen hervorragenden Barbier in die Stadt gesandt hat!«
Die Menschenmenge jubelte und fiel in den Lobpreis Allahs ein. Ali klopfte Kasim aufmunternd auf die Schulter.
»Kehre jetzt zurück, Kasim,«, flüsterte er und wischte sich mit dem Handtuch die Überreste des Schaums vom Gesicht. »Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bis der Ansturm auf dein Geschäft beginnt.«
Er drückte dem Barbier das schmutzige Handtuch und eine Goldmünze in die Hand. Der junge Mann lächelte unsicher, als könnte er immer noch nicht begreifen, was soeben geschehen war.
»Herr, ich kann kein Geld von Euch annehmen. Ihr habt so freundlich über mich gesprochen, dass ich...«
»Unsinn«, entgegnete Ali. »Gute Bezahlung für gute Arbeit. Außerdem, vielleicht ist wirklich ein Engel Allahs an deinem Haus vorübergeschwebt?«
»Ich weiß nicht, wie ich Euch jemals danken soll, Herr«, stammelte der Barbier. Er verneigte sich vor Ali und griff nach dem Saum seines knöchellangen Gewandes, um ihn zu küssen, doch im letzten Augenblick verhinderte Ali dies. Solche Gesten waren ihm immer peinlich, besonders in der Öffentlichkeit.
»Du kannst mir danken, indem du mir in Zukunft immer den Bart stutzt«, erwiderte er.
»O Herr, das ist wirklich der Ehre...«
»Schon gut, schon gut. Suche mich in sieben Tagen um dieselbe Zeit in meinem Haus auf. Und sei pünktlich, Kasim, ich bin ein viel beschäftigter Mann.«
»Sehr wohl, Herr, sehr wohl!« Kasim verneigte sich wieder und immer wieder.
Ali ging langsam davon. Doch bei einem Tuchhändler blieb er stehen und schaute zurück. Ein Stück Stoff, eine Kostprobe für die Güte und Qualität der hier verkauften Ware, hing vom überstehenden Dach herab und verbarg ihn. Lächelnd beobachtete er, wie sich der junge Barbier umwandte und zu seinem Geschäft zurücklief, gefolgt von mindestens drei Männern, die laut miteinander stritten, wer von ihnen zuerst rasiert werden sollte.
»Herr, habt Ihr die Absicht, Euch ein neues Gewand schneidern zu lassen?«, fragte der Tuchhändler, der in der Hoffnung, ein Geschäft machen zu können, auf ihn zueilte. »Ich habe einen ganz besonderen Stoff, den ich nur ausgewählten Kunden zeige. Soll ich...«
»Nein«, unterbrach Ali ihn kühl und ging davon, ohne den Tuchhändler noch eines Blickes zu würdigen. Er kannte diese Sorte Händler nur zu gut. Jedes weitere Wort hätte dazu geführt, dass er nur mit einem Bündel Stoff unter dem Arm wieder entkommen wäre. Er hatte keinen Bedarf an neuer Kleidung. Und wenn, würde er den Stoff gewiss nicht hier, nicht in dieser Gegend kaufen.
Ali schlenderte weiter die engen Gassen und Straßen von Qazwin entlang und lenkte seine Schritte in die vornehmen Viertel in der Nähe des Palastes. Er begutachtete die Auslagen eines Schmuckhändlers, der den Ruf hatte, seine erlesenen Stücke sogar an den Emir zu verkaufen. Er bewunderte die Kunst eines Glasbläsers, der seine zerbrechliche Ware -winzige Phiolen, Parfümfläschchen und feine, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Gläser – auf weich gepolsterten Kissen zur Schau stellte. Er blätterte auch in Büchern, die ihm einer der beiden Buchhändler anbot, in deren Geschäften er ein oft und gern gesehener Kunde war. Vor einem Messinghändler blieb er schließlich stehen. Eine große, schlichte Platte zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Gegensatz zu allen anderen Stücken des Händlers war sie nicht verziert und so blank geputzt, dass Ali sein Spiegelbild darin sehen konnte.
In Gedanken versunken, betrachtete er sich – den dunklen, von immer breiter werdenden grauen Strähnen durchzogenen Bart, das ehemals schwarze, mittlerweile ebenfalls ergrauende Haar, das an beiden Seiten der Stirn zurückwich, als ob es sich vor einem unsichtbaren Schrecken fürchtete, die tiefen Falten um Augen und Mund. Das Gesicht, das er dort in der Messingplatte sah, erinnerte ihn an einen Jüngling, den er einmal gekannt hatte – einst, vor vielen, vielen Jahren.
Selbst wenn die Frau, die am Geschäft des Barbiers vorbeigegangen war, Beatrice gewesen wäre, wie hätte sie ihn erkennen sollen? Eine lange Zeit war vergangen, seit jener rätselhafte Saphir sie ebenso unerwartet wieder aus seinem Leben gerissen hatte, wie sie dort aufgetaucht war. Den Jüngling, den Beatrice gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es war vorbei. Beatrice gehörte der Vergangenheit an und würde nie wieder zurückkehren.
Ali schloss die Augen und wandte sich ab. Es schickte sich nicht für einen Mann, in aller Öffentlichkeit seine Gefühle zu zeigen. Und doch wäre er am liebsten hier und auf der Stelle auf die Knie gesunken und hätte laut sein Schicksal beklagt.
Warum? Warum hatte Allah ihm Beatrice, die Liebe seines Lebens, nach so kurzer Zeit wieder nehmen müssen? Warum hatte sie nicht einfach bei ihm bleiben und mit ihm alt werden können? Fragen, die er sich selbst und Allah – oder Jahwe, Gott oder wie auch immer man jene Macht nennen wollte, die angeblich die Geschicke aller Menschen lenkte -in den vergangenen Jahren immer wieder gestellt hatte. Jahre, in denen nichts, keine Arbeit, kein Reichtum, keine Erkenntnis und schon gar keine andere Frau jene Leere hatten ausfüllen können, die Beatrice in seinem Leben hinterlassen hatte. Jahre, in denen kein Tag vergangen war, an dem er nicht den Verlust gespürt hatte, selbst wenn er nicht an sie gedacht hatte.
So ähnlich mussten es jene seiner Patienten empfinden, denen durch ein Unglück ein Glied fehlte. Sie berichteten ihm immer wieder davon, dass sie ihren verlorenen Arm oder ihr Bein weiterhin spürten, dass es dort juckte und schmerzte und kribbelte. Und genauso fühlte er sich. Manchmal, wenn er morgens aufwachte in seinem einsamen, kalten Bett, wünschte er nichts sehnlicher, als dass all diese Jahre lediglich ein böser Traum gewesen wären und er sich nur umzudrehen brauchte, um sie neben sich liegen zu sehen. Beatrice. Die einzige Liebe seines Lebens.
Es war spät, als Ali an diesem Abend nach Hause zurückkehrte. Er war auf seinem Heimweg noch in einem Gasthaus eingekehrt, hatte Vergessen und Trost in dem Dattelschnaps gesucht, den der Wirt dort heimlich ausschenkte, obwohl der Koran den Gläubigen den Genuss von berauschenden Getränken streng untersagte. Natürlich hatte der Schnaps ihm auch nicht helfen können. Nirgendwo fand Ali, was er suchte – kein Vergessen, kein Vergeben, keinen Frieden. Er blieb noch eine Weile vor seinem Haus stehen und lehnte sich gegen die weiß getünchte Mauer, deren Wärme immer noch an die Hitze des Tages erinnerte. Die Sonne war fast hinter den nahe gelegenen Bergen versunken und tauchte die Straßen in ein unwirkliches rotes Licht. Es sah aus, als würden die Steine und die Mauern der anderen Häuser brennen. Ein schwacher Wind trug den salzigen Geruch des Meeres nach Qazwin. Stadtdiener eilten mit Öl und brennenden Dochten an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, um die Lampen in den vornehmen Straßen der Stadt anzuzünden. Schon bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Wenn sich jedoch die Gassen in völlige Finsternis hüllten, begann die Stunde der Räuber und Diebe, die sich erst in der Nacht aus ihren Verstecken hervorwagten. Die Lampen sollten sie von den Besitztümern der reichen Bürger abhalten wie die Lagerfeuer der Hirten die Raubtiere von ihren Herden.
Die Stimme des Muezzins erschallte von dem Minarett der nahe gelegenen Moschee, um die Gläubigen zum Abendgebet aufzufordern. Ali schloss die Augen, um der Stimme zu lauschen. Er war kein religiöser Mann, war es nie gewesen. Und die vergangenen Jahre hatten auch nicht viel dazu beigetragen, daran etwas zu ändern. Doch heute, an diesem seltsamen grauen, von Schwermut und Trauer durchtränkten Tag fühlte er sich alt, müde und schwach. Und für die Dauer eines Herzschlags wünschte er sich nichts sehnlicher als jenen Frieden, den die einfachen und gläubigen Männer im Gebet fanden, einen Frieden, den wohl nur Allah allein einer von Zweifeln und Unrast geplagten Seele zu schenken vermochte.
Schwerfällig hob Ali den Arm, klopfte an seine eigene Haustür wie ein Fremder und wartete. Mit Wehmut dachte er an seinen alten und treuen Diener Selim. Der Alte hatte immer gewusst, wann sein Herr nach Hause kam. Selbst mitten in der Nacht hatte er genau dann an der Tür gestanden und sie in dem Augenblick geöffnet, wenn Ali gerade angekommen war. Manchmal war es beinahe unheimlich gewesen. Und jetzt? Jetzt stand er hier in der allmählich zunehmenden Dunkelheit und wartete.
Endlich öffnete sich die Tür.
»Seid gegrüßt, Herr«, sagte Mahmud, sein Diener, und verneigte sich ehrfurchtsvoll. Auch das hätte Selim niemals getan. Der alte Kauz hätte nicht einen Augenblick gezögert, Ali darauf hinzuweisen, dass dies nicht die rechte Stunde sei, in der ein rechtschaffener Mann sich noch auf den Straßen der Stadt herumtreiben sollte. »Darf ich Euch Euer Obergewand abnehmen? Im Speisezimmer steht Euer Nachtmahl bereit. Wenn Ihr mir folgen wollt?«
Ali ging seinem Diener hinterher. Er hatte immer noch Schwierigkeiten, sich an Mahmuds sanftes und widerspruchsloses Wesen zu gewöhnen. Dabei war er gleich nach Selims Tod in seine Dienste getreten. Vor nunmehr fünf Jahren. Immer wieder vermisste er den alten griesgrämigen Sonderling, der stets betont hatte, dass er keinen Respekt vor einem jungen Kerl haben müsse, dem er die Windeln gewechselt und die ersten Barthaare gestutzt hatte. Natürlich hätte Selim an ihm den Geruch des Dattelschnapses bemerkt und sofort gerügt.
Ali konnte fast seine Stimme hören, diese ständig ein wenig nörgelnd klingende Stimme. »Ein Gläubiger sollte sich nie, unter gar keinen Umständen betrinken, Herr. Berauschende Getränke sind die Pflastersteine des Weges, der direkt in die Hölle führt. Vergebt mir meine Offenheit, Herr, aber wenn Ihr so weitermacht, seid Ihr auf dem besten Wege dorthin. Und ich wage zu behaupten, dass Euer ehrwürdiger Vater -Allah sei seiner Seele gnädig – keinesfalls erfreut gewesen wäre, Euch in diesem jämmerlichen Zustand zu sehen.« So sehr sich Ali früher auch über diese ständigen Mahnungen geärgert hatte, so sehr vermisste er sie jetzt. Jetzt, da er wusste, dass er sie ebenso wie das schlurfende Geräusch von Selims Schritten nie wieder mit eigenen Ohren hören würde. Sie lebten nur noch in seinen Erinnerungen.
»Hast du die Patienten fortgeschickt, Mahmud?«, fragte er und merkte, dass es ihm schwerfiel, seine Zunge unter Kontrolle zu bringen. Offensichtlich hatte er mehr getrunken, als er gedacht hatte.
»Ja, Herr«, erwiderte Mahmud ehrerbietig. Wenn ihm der trunkene Zustand seines Herrn auffiel, so ließ er sich nichts anmerken. Gar nichts. »Ich habe alles genauso befolgt, wie Ihr es mir aufgetragen habt.«
»Und ist während meiner Abwesenheit etwas vorgefallen?«, erkundigte sich Ali, während er an der Tür zum Speisezimmer seine Schuhe abstreifte. Er spürte, dass er wütend wurde. Der Gleichmut seines Dieners regte ihn auf.
»Ja, Herr«, antwortete Mahmud und sammelte Alis verstreute Schuhe ein. »Die Köchin hat sich beschwert, weil der Ziegenbock sie gestoßen hat, als sie den Hof überqueren wollte. Sie sagte, wenn es mit dem Tier so weitergeht, wird sie ihm noch den Hals umdrehen und Pastete aus ihm machen.«
Die Vorstellung der kleinen, ihm selbst kaum bis zur Brust reichenden, dafür umso beleibteren Köchin, die von dem grauhaarigen Ziegenbock quer über den Hof getrieben wurde, gefiel Ali. Seine Wut verrauchte, und er musste fast gegen seinen Willen lachen. Vor vielen Jahren hatte er den Ziegenbock von einem Hirten, einem armen, aber aufrichtigen Mann, als Gegenleistung für die Heilung seines Sohnes erhalten. Damals war er noch ein wenige Wochen altes Zicklein gewesen. Doch da Ali Ziegenfleisch nicht besonders schätzte, war das Tier nicht geschlachtet worden und zu einem stattlichen Bock herangewachsen, der seinem Hausherrn in keiner Weise an Eigensinn und Sturheit nachstand -wie Selim immer betont hatte. Mittlerweile war der Bock ins Alter gekommen. Sicher war das Fleisch zu zäh und tranig, um in der Küche Verwendung zu finden. Höchstens das Fell könnte noch irgendeinen Nutzen haben. Aber wozu? Er besaß bereits genügend Felle.
»Der Bock bleibt«, sagte Ali bestimmt. Er hatte sich an die Sturheit, die schlechten Gewohnheiten und das Gemecker des Tieres gewöhnt – besonders jetzt, da Selim nicht mehr da war. »Und sollte die Köchin damit nicht einverstanden sein, stelle ich es ihr frei, ihre Dienste einem anderen Hause anzubieten. Richte ihr dies aus, Mahmud.«
Der Diener verneigte sich. »Sehr wohl, Herr.«
Ali ging zu dem niedrigen Tisch, auf dem ein Tablett mit kaltem gebratenem Hühnerfleisch, Brot, getrockneten Aprikosen und Feigen sowie ein Krug mit klarem Wasser standen.
»Habe ich eine Nachricht erhalten?«, fragte er, während er es sich auf dem weichen Sitzpolster bequem machte. Er nahm eine der Feigen, roch daran und legte sie wieder auf den Teller zurück. Sie waren von ausgezeichneter Qualität und ohne Zweifel köstlich, doch heute würde er keine von ihnen hinunterbringen. Er würde gar nichts mehr essen, höchstens einen Schluck Wasser trinken.
»Nein, Herr«, antwortete Mahmud, schüttelte den Kopf und schenkte Ali das kühle, frische Wasser in einen Becher. »Allerdings haben sich im Laufe des Tages zwei Reisende vor Eurer Tür eingefunden. Obwohl ich ihnen sagte, dass Ihr nicht zu Hause seid, haben sie sich nicht abwimmeln lassen und...«, er räusperte sich, »nun ja, die beiden haben sehr bestimmt Einlass begehrt. Sie sagten, sie seien gute Bekannte von Euch, Herr.«
Ali runzelte die Stirn. »Bekannte?«, fragte er misstrauisch. »Wer waren die beiden? Du hast sie doch hoffentlich wieder fortgeschickt?«
Mahmud senkte verlegen den Kopf. Sein Gesicht überzog sich mit flammender Röte. Und noch bevor er den Mund aufmachte, wusste Ali, dass sein Diener die beiden Fremden ins Haus gelassen hatte. Natürlich.
»Ihre Namen haben sie mir nicht genannt, Herr«, sagte er leise. »Es sind ein Mann und ein kleines Mädchen. Leider muss ich gestehen, dass ich schließlich ihrem Drängen nachgegeben und sie eingelassen habe. Ich konnte doch nicht die Wahrheit ihrer Behauptung anzweifeln.«
»O Mahmud!«, stöhnte Ali und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Wie konnte ein Diener nur so ungeschickt und dumm sein? Er zweifelte nicht daran, dass Selim Mittel und Wege gefunden hätte, die beiden loszuwerden. »Bist du nicht recht gescheit? Ich habe keine Bekannten, die, ohne vorher einen Boten zu schicken und sich anzumelden, an meine Haustür klopfen. Ich vermute viel eher, dass du auf Schwindler hereingefallen bist. Wahrscheinlich handelt es sich um Patienten, die sich auf diese hinterhältige Art Zugang zu meinem Haus und meiner Hilfe verschaffen wollten. Wann sind sie wieder gegangen?« Die Schamesröte auf Mahmuds Gesicht wurde noch dunkler, so dunkel, dass seine Haut beinahe die Farbe eines reifen Granatapfels annahm. Ali biss vor Wut die Zähne zusammen. Die beiden Fremden waren also immer noch in seinem Haus. »Also gut. Wo hast du sie untergebracht?«
»Im Besucherzimmer, Herr«, stammelte der Diener und senkte den Kopf.
»Dann werde ich sie eben persönlich wieder vertreiben«, zischte Ali und riss eine Öllampe an sich. »Dieses Gesindel soll nicht einen Augenblick länger den Schutz meines Hauses genießen.«
Er war außer sich. Er brachte viel Verständnis für die Not und die Leiden seiner Patienten auf, für ihre Familien und Angehörigen, die vor Angst und Kummer oft selber schon fast krank wurden. Doch mit hinterhältigen Lügen seinen Diener zu überlisten, sich den Zugang zu seinem Haus zu erschleichen und ihm auf diese Weise seine Hilfe abpressen zu wollen, das ging einfach zu weit. Wenn sich dieses abscheuliche, niederträchtige Verhalten herumsprach, würde er innerhalb weniger Tage in seinem eigenen Haus kein Bett mehr zum Schlafen finden. Dann konnte er ja gleich dieses Gebäude in ein Siechenhaus verwandeln.
Ali stürmte zum Besucherzimmer. Er war gerade in der richtigen Stimmung, jemanden anzuschreien. Trotzdem blieb er erst einmal stehen und lauschte an der Tür. Im Innern schien sich nichts zu bewegen, alles war still. Langsam und vorsichtig öffnete Ali die Tür, hielt die Lampe durch den Spalt und spähte hinein.
Auf den zu einem Bett zusammengeschobenen Strohsäcken lag, eingewickelt in ein paar Decken, ein Kind. Wahrscheinlich war es das Mädchen, von dem Mahmud ihm berichtet hatte. Es drehte ihm den Rücken zu, doch an den gleichmäßigen Atembewegungen des kleinen Körpers erkannte Ali, dass es tief und fest schlief. Neben ihm hockte ein Mann in Reisekleidung. Er hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt, sein Gesicht tief in den Falten seines weiten Umhangs verborgen, und schien ebenfalls fest zu schlafen.
Wenigstens sind die beiden wohl keine Diebe, dachte Ali. Er drückte Mahmud die Lampe in die Hand und trat in das Zimmer. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Mann. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, um den Umhang fortzuziehen und das Gesicht des Mannes zu betrachten. Doch dazu kam er nicht.
Ali hatte kaum die Kleidung des Mannes berührt, als er sich schon im nächsten Augenblick keuchend und am ganzen Körper zitternd am anderen Ende des Zimmers gegen die Wand gepresst wiederfand. Jemand, wahrscheinlich Mahmud, stieß einen heiseren Schrei aus. Im selben Moment ließ die berauschende Wirkung des Dattelschnapses nach. Ali hatte plötzlich Angst. Und während sich etwas Kaltes, erschreckend Scharfes gegen seinen Hals drückte, sodass er kaum zu atmen wagte und die Augen fest geschlossen hielt, fragte er sich, weshalb er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Ebenso gut hätte er seinen Dienern den Befehl geben können, die beiden Fremden aus dem Haus zu werfen.
»Ali al-Hussein«, sagte der Mann mit einer wohlklingenden Stimme. Ali erstarrte. Er kannte die Stimme des Mannes sehr gut. Er erinnerte sich an sie, als hätten sie sich erst gestern gegenübergestanden. Dabei hatte er diese Stimme schon lange nicht mehr gehört. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. »Allah sei Dank, dass du es bist und nicht einer unserer Verfolger.«
Der Druck auf seinem Hals ließ nach, und Ali schlug die Augen auf. Gerade noch erhaschte er einen Blick auf ein schlankes, leicht gebogenes Stück Metall, das im Schein der Lampe gefährlich aufblitzte.
»Saddin!«, stieß Ali mühsam hervor und griff sich an die Kehle. Mahmuds Stimme drang an sein Ohr. Der Diener presste sich ängstlich gegen die offene Tür und hatte mit dem Rezitieren der neunundneunzig Namen Allahs begonnen, als gälte es, einen Geist zu vertreiben. Doch vor Ali stand kein Gespenst. Und allmählich begann er zu verstehen, wie knapp er dem Tode entronnen war. Ihm wurde übel. »Saddin, wie bist du hierher...?«
»Verzeih, falls ich dich erschreckt haben sollte«, sagte der Mann, trat einen Schritt zurück und nahm sich die Kapuze vom Kopf.
Erst jetzt wagte es Ali, aufzusehen, und wieder rieselte ein Schauer über seinen Rücken. Er war es wirklich. Saddin. Die Öllampe in Mahmuds zitternden Händen warf heftig zuckende Schatten an die Wände des Besucherzimmers. Und für einen kurzen Augenblick hatte Ali den Eindruck, die Zeit sei zurückgedreht worden. Er stand plötzlich wieder in dem kleinen Patientenzimmer in seinem alten Haus in Buchara, an jenem Abend, als er Saddin das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte sich nicht verändert.
»Saddin, was...«
Doch der Nomade legte beschwörend einen Finger auf die Lippen.
»Nicht hier. Wir könnten sie wecken«, sagte er leise und deutete auf das Bett.
Ali sah zu dem immer noch friedlich schlafenden Kind und nickte.
»Gut«, flüsterte er. »Komm mit.«
Leise zog er die Tür hinter ihnen zu. Dann wandte er sich an den immer noch wie Espenlaub zitternden Mahmud, der Saddin anstarrte, als wäre dieser ein Dämon.
»Mahmud, laufe auf der Stelle zur Köchin und sage ihr, sie soll ein ordentliches Nachtmahl zubereiten. Ich habe einen Gast.« Er warf Saddin einen langen Blick zu. »Ein alter Freund ist sehr überraschend zu Besuch gekommen.«
»Freund?«, fragte Saddin spöttisch, nachdem Mahmud verschwunden war. »Habe ich mich eben verhört, oder hast du mich wirklich als Freund bezeichnet?«
Ali antwortete nicht. Er kaute auf seiner Lippe und versuchte, sich vorzustellen, weshalb Saddin ausgerechnet heute zu ihm gekommen war. Noch dazu in Begleitung eines Kindes. War das Mädchen seine Tochter? Brauchte es ärztliche Hilfe? Oder wollte der Nomade seinen Lohn einfordern für einen Dienst, den er ihm einst erwiesen hatte. Damals hatte Saddin ihm geholfen, aus Buchara zu fliehen. Ali warf dem Nomaden einen prüfenden Blick zu. Er wirkte zwar erschöpft, so als hätte er eine lange, anstrengende Reise hinter sich, doch seine Kleidung war von erlesener Qualität und machte keinesfalls den Eindruck, als würde er unter Geldnöten leiden. Aber weshalb war er dann gekommen? Nach all den Jahren, in denen er nichts von ihm gehört hatte, tauchte er plötzlich in seinem Haus auf. Und außerdem – wie hatte Saddin ihn überhaupt gefunden? Welches unerfreuliche Schicksal wollte hier sein Spiel mit ihm treiben?