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An Martin Buber

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„Und alle deine Kinder gelehrt vom Herrn

und großer Friede deinen Kindern!“ (Jes. 54, 13) –

lies nicht banajich: deine Kinder,

sondern bonajich: deine Bauleute.

Verehrter Freund,

ich staune, indem ich Ihre Reden über das Judentum lese, wie sie jetzt aus einem Jahrzehnt in ein Bändchen gesammelt vorliegen, in welchem Maße Sie wirklich der Vor- und Fürsprecher unsrer Generationen, der meinen sowohl wie der nach mir kommenden, gewesen sind. In der Hitze des Gefechts, in das die einzelnen Reden, als wir sie zuerst lasen, unsre Gedanken hineinrissen, konnten wir das wohl manchmal vergessen; nun da wir sie in Ruhe, und doch nicht gegenständlich betrachtend, sondern mit, ich möchte sagen, autobiographischer Erregung wieder durchlaufen, wird es uns erst klar, wie sehr es unsre Worte sind, die Sie als erster gesprochen haben.

Auch Sie selber sind – die Vorrede zeigt es – von Gefühlen autobiographischer Rückschau erfaßt worden, als Sie die acht Reden zusammenlasen. Nicht im Sinne einer nur historischen Rückschau, – dazu dürfen weder Sie selber sich noch die Reden Ihnen schon reif sein. Sondern im Sinn einer Selbstprüfung der Vergangenheit an der Gegenwart und für die Zukunft. Sie wissen, wie nahe verbunden ich mich gerade dem Schreiber dieses Vorworts fühle. Als ich es vor Monaten zuerst las, hatte ich Ihre Versicherung, daß Ihr gegenwärtiges Wissen, von dem zurück Sie Ihren vergangenen Weg überschauten, Ihnen nur Klärung, nicht Bekehrung bedeute, auf Treu und Glauben genommen. Jetzt, nachdem ich, diese Worte im Sinn, die früheren Worte wieder las, verstehe ich, wie Sie das sagen dürfen, aber auch, wie nur Sie es sagen dürfen. Denn das Wort bleibt ja nicht des Sprechers Eigentum; an wen es gerichtet ist, wer es hört, wer es aufliest, sie alle gewinnen Miteigentum; die Schicksale, die das Wort bei jenen erfährt, sind genau so sehr oder gar noch mehr seine Schicksale, als was sein ursprünglicher Sprecher noch mit ihm erlebte. Und für die Hörer und Leser der Reden müssen die Worte der neuen Vorrede schon zu einer Bekehrung und nicht bloß zu einer Klärung werden. Für Sie selber war es nur Klärung, denn Sie sind derselbe geblieben; Ihren Worten aber ist es eine Bekehrung geworden, sie sind wirklich verwandelte.

Da Ihre Worte nun aus den Nebeln der Mittelbarkeit in die Klarheit der unmittelbaren Rede getreten sind, da Sie nicht mehr gezwungen sind, den Geist zu beschwören und das Unbedingte zu bedenken, wenn Sie den nennen wollen, der freilich Geist ist und Unbedingtes, aber doch nur sofern er „ist“, und der in Wahrheit genannt werden will wie er angesprochen wird – denn „wie sein Name, so ist sein Ruhm“ –, so sprechen Sie nun auch zu andern Hörern, auch wenn es dieselben sind, die Ihnen schon bisher lauschten. Denn eine andre Schicht in der Seele Ihrer Hörer muß mitschwingen, wenn Ihre erneuerten Worte vernommen werden sollen. Auch Ihr Hörer kann jetzt nur sein, wer mit Ihnen aus der Mittelbarkeit in die Unmittelbarkeit zu treten vermag. Neue Hörer bedeuten aber stets auch eine neue Forderung; so wird der Lehrer durch seine eigene Tat an den Schülern schließlich doch selber verwandelt; oder wenigstens, er muß bereit sein, wenn nicht sich selber, so doch sein Wort verwandeln zu lassen. Und grade die Provinz seiner Lehre muß solcher Verwandlung von außen gewärtig sein, die von der eigenen Verwandlung, durch welche die neuen Schüler herangezogen wurden, am wenigsten berührt ist. Denn die Verwandlung wird erst dann ganz wirklich, wenn sie den ganzen Bereich der Lehre ergriffen hat.

Sie wissen, um welchen Punkt es mir geht. Er wird in den acht Reden immer wieder berührt, bis die achte ihn breit in die Mitte der Betrachtung rückt. In den älteren Reden tritt das Problem des Gesetzes eigentlich nur auf um der sozusagen systematischen Vollständigkeit willen. In den beiden letzten spürt man, daß es, für Ihre Hörer mindestens, wenn auch nicht für Sie selbst, erhöhte Gegenwärtigkeit gewonnen hat. Zuletzt rückt es, mit dem Zwillingsproblem der Lehre zusammen, unter das aktualisierende Licht der Frage: was sollen wir tun? Aber während jenes Zwillingsproblem bis dahin eine sichtbare Entwicklung erfahren hat, so daß die Antwort hier in dem Augenblick kommt, wo die Frage ganz reif ist, scheint die Frage des Gesetzes noch 1919 kaum anders gestellt zu werden als schon 1909. Diese Ungleichheit ist es, die mir den Mut gibt, Ihnen das alte Urteil noch einmal zur Revision vorzulegen. Mag Ihnen auch heut und hier nur eine theoretische Klärung möglich sein, so wäre auch die gut. Spreche doch auch ich selber in dieser Sache nicht aus der Erfahrung des Ziels, sondern nur aus der des Suchens und des Wegs.

Jene Entwicklung, die ich am Begriff der Lehre wahrzunehmen glaube, geschieht an dem, was Sie das unsichtbare Judentum nennen. Das scheint anfangs ein ganz fester Begriff, ein literarisch klar umgrenzter Bezirk, etwa der Prophetismus gegenüber dem Gesetz, die Chassiduth gegenüber der Mithnagduth. In den späteren Reden – irre ich mich? – wird es ein immer verzweigteres Stromnetz, das, so möchte man schließlich glauben, das oberirdische in die Tiefe überall begleitet. Aber in der letzten Rede, unter dem Flammenblick jener aktualisierenden Frage, ist es noch anders geworden: dieselben Gewässer sind es nun, und nur auf die schöpfende Hand kommt es an, ob sie die tieferen Fluten erreiche. Denn so umschreiben Sie hier die Aufgabe unsres jüdischen Lernens, daß ihm nichts, schlechthin nichts Jüdisches mehr fremd sein darf. Da gelten nicht mehr jene Unterscheidungen eines „Wesentlichen“ und „Unwesentlichen“, mit denen man uns das 19. Jahrhundert lang hingezogen hat; eben im „Unwesentlichen“ haben wir nun das auch in ihm verborgene Wesen zu erkennen, und das „Wesentliche“ anzunehmen, wie es uns in der Wirklichkeit des jüdischen Lebens entgegentritt: gleicher Gestalt mit dem „Unwesentlichen“, ja oft erst von ihm die Gestalt leihend. Wenn so dem Anschein nach sich Wesenhaftes und Unwesentliches für dieses Lernen so vermischen, daß vor dem allgemeinen „dieses auch“ alle inneren Unterschiede verschwinden, um deren Anerkennung der Liberalismus, und nicht erst er, sondern immer schon die moralischen und philosophischen Bewegungen auch früherer Jahrhunderte, gekämpft hatten, so weisen Sie nun auf ein neues Auswahlprinzip, durch das der unendliche Lernstoff, den Sie ausbreiten, wieder zur Lehre werden kann, ein Prinzip, das vertrauenswürdiger ist als alle, die man hat aufstellen wollen, denn es ist nicht selber ein Teil des Stoffes; es ist überhaupt kein Prinzip, sondern eine Kraft. Denn dies bedeutet es, wenn Sie von dem Lernenden verlangen, daß er im Lernen sich selber einsetzt, sich selber der Kette der Überlieferung als neues Glied anfügt und so, nicht mit seinem Willen, aber mit seinem Können, zum Wählenden wird. Was so aus dem in all seinen scheinbaren und vor allem in seinen wirklichen Widersprüchen aufgenommenen Wissen der Jahrhunderte in uns Lernende eingeht, das wird uns zur Lehre. Wir wissen nicht vorher was jüdische Lehre ist oder nicht ist, und wenn es uns einer sagen will, so wenden wir uns unwillig und ungläubig ab; wir hören aus der zum Überdruß zitierten Geschichte von Hillel und dem Proselyten den lächelnden Spott des Weisen heraus und halten uns an sein letztes, nicht an sein erstes Wort: geh und lerne. So aber hört die Lehre auf, „Wißbares“ in dem Sinne eines vorhandenen Etwas, eines „Stoffes“ zu sein; der Stoff will freilich gewußt, gelernt sein, will es grundsätzlich sogar in weiterem Umfang, als es nicht bloß von den Vertretern des „Judentums auf einem Fuß“, sondern auch in weiterem, als es im klassischen Lernen alten Stils verlangt wurde; denn die „Bücher von draußen“, die jenseits des Gesichtskreises, und die „Weiberbücher“, die unter der Würde jenes klassischen Lernens lagen, treten nun auch und als Gleichberechtigte in den Kreis des zu umfassenden Stoffs. Aber all dies Wißbare und zu Wissende ist noch nicht das Wissen, all dies Lehrbare und zu Lernende noch nicht die Lehre. Lehre beginnt erst da, wo der Stoff aufhört, Stoff zu sein, und sich in Kraft verwandelt, – in Kraft, die nun selber den Stoff, und sei es um das bescheidenste Wort, vermehrt und so aus jener behaupteten Unendlichkeit des Stoffes erst eine Wahrheit macht. Der Weg zur Lehre, wenigstens der Heerweg, der einzige, den man jedem Frager mit gutem Gewissen und mit der begründeten Aussicht, daß er ihn auch finden werde, weisen darf, führt über das „Wißbare“, aber die Lehre selber ist nicht wißbar, sie ist immer nur ein Zukünftiges, und die Frage dessen, der heute nach ihr fragt, ist vielleicht schon ein Teil der Antwort, die morgen einem andern gegeben wird, und sicher das Hauptwort der Antwort, die ihm selber, dem heute Fragenden, einmal wird. Nein, die Lehre ist kein Wißbares, sie ist nur mein und dein und unser Wissen.

Wenn Sie so die Lehre uns aus der prunkvollen Armut einiger Grundbegriffe, auf die sie das 19. Jahrhundert – nicht es zuerst, aber es zuerst mit praktischem und folgenreichem Ernst – einschränken wollte, erlöst und uns dadurch von der schon nahen Gefahr befreit haben, daß wir unser geistiges Judesein abhängig glauben mußten von der Frage, ob wir Kantianer zu sein vermochten oder nicht, so ist es umso merkwürdiger, daß, wenn Sie unmittelbar nach jener befreienden Wegweisung zur neuen Lehre uns die andre Seite der Frage „Was sollen wir tun?“ zu beantworten suchen, die Frage des Gesetzes, Sie dies Gesetz, und uns mit ihm, ganz in den Fesseln stecken lassen, die das 19. Jahrhundert auch um es, so gut wie um die Lehre, geschlagen hat. Denn was Sie hier als legitime Vertretung des Gesetzes anerkennen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen und um ihr nach geschehener und, wie nicht anders zu erwarten, fruchtlos verlaufener Auseinandersetzung den Rücken zu kehren und sich und uns Fragende auf die ehrfurchtsvolle, aber praktisch indifferente und persönlich abstinente Kenntnisnahme als einzige Aufgabe zu verweisen, – ist das denn das jüdische Gesetz, das Gesetz der Jahrtausende, das gelernte und gelebte, zerdachte und umsungene, all- und todestägliche, kleinliche und erhabene, nüchterne und sagenschwere, hauskerzen- und scheiterhaufenflammenumstrahlte Gesetz? Pflanzung die Akiba verzäunte und Acher einriß, Wiege der Spinoza entsprang, Leiter drauf der Baalschem aufstieg, das Gesetz, immer übersteigert, nie erreicht, – und doch stets fähig, zu jüdischem Leben zu werden und zu jüdischen Gesichtern? Ist das, wovon Sie sprechen – und sage ichs gleich: wahr sprechen –, nicht vielmehr nur das Gesetz der westlichen Orthodoxie des verflossenen Jahrhunderts?

Denn zwar auch hier sind die formelhaften Verengerungen nicht erst im 19. Jahrhundert geschaffen; wie die Formeln, in die der Liberalismus der Reformer den jüdischen Geist zu bannen suchte, so können sich auch die Gründe, aus denen Hirschs „Jißroel-Mensch“ das Gesetz halten soll, auf eine lange Ahnenreihe berufen; aber erst Hirsch und die ihm folgen haben auf die schmale Basis dieser Gründe ernstlich das jüdische Leben aufzubauen gesucht. Hat wohl je ein Jude früher, wenn er nicht gefragt wurde, gemeint, er hielte das Gesetz – und das Gesetz ihn – nur deswegen, weil es von Gott Israel unterm Sinai auferlegt sei? Gewiß, wenn man ihn fragte, so mochte vielleicht dieser Grund sich in seinem Bewußtsein nach vorne drängen, und die Gefragten von anlagewegen, die Philosophen, haben immer gern so geantwortet; und als von Mendelssohn ab unser ganzes Volk sich der Folter all dieser wahrhaft peinlichen Fragen unterzog und das Judesein jedes Einzelnen nun auf der Nadelspitze eines Warum tanzte, da mochte es an der Zeit sein, wenn ein Baumeister kam, der aus dem Gestein dieses Grundes eine Ringmauer zog, hinter der das von Fragen bedrängte Volk sich bergen konnte. Aber den fraglos Lebenden war dieser Rechtsgrund des Gesetzes nur einer neben andern gewesen und kaum der stärkste. Gewiß war die Thora, schriftliche wie mündliche, dem Mose am Sinai gegeben, aber war sie nicht vor der Welt geschaffen? mit Buchstaben finstern Feuers auf einen Grund von lichtem Feuer geschrieben? und war nicht um ihretwillen die Welt geschaffen? und hat nicht schon Adams Sohn Seth das erste Lehrhaus gegründet, worin sie gelernt wurde? und haben die Väter ein halbes Jahrtausend vor dem Sinai sie nicht schon gehalten? und ward sie, als sie schließlich am Sinai gegeben wurde, nicht in allen Siebzig Sprachen der Welt gegeben? und umschloß sie nicht in ihren „613 Geboten“, dieser Zahl, die, im voraus aller Versuche, Unzählbares zu zählen, spottend, doch selber wieder nur der um die beiden aus dem Munde der Allmacht unmittelbar vernommenen Worte vermehrte Zahlwert des Worts Thora ist und die Summe aus den Tagen des Jahres und den Knochen des Menschenleibs, – umschloß sie nicht in dieser Zahl alles was der Scharfsinn der Späteren, unsern Lehrer Mose selbst beschämend, in ihren Krönlein und Häklein noch entdeckte? ja auch was in Zukunft je und je ein eifriger Schüler in ihr finden wird? sie, die Gott selber täglich lernt? Und dieses Gesetz, diese Thora sollte Israel gehalten haben nur wegen der einen „Tatsache, die jede Täuschung ausschloß“, daß die Sechshunderttausend am Sinai die Stimme Gottes gehört hätten?! Gewiß: auch ihretwegen, aber nicht minder und wegen all der zuvor genannten und wegen der andern, die den Alten aus jedem „Heute“ der Thora spricht: daß auch die Seelen der Nachkommen mit jenen Sechshunderttausend am Sinai standen und vernahmen, was diese vernahmen. Dem ungefragten und fraglosen jüdischen Bewußtsein ist dies alles gleich sehr Tatsache wie jenes eine, und jenes eine um ein bischen mehr als dies.

Nein, das Nur der Orthodoxie darf uns genau so wenig vom Gesetz zurückschrecken, wie uns das Nur des Liberalismus, nachdem Sie uns sehen gelehrt hatten, noch die Lehre verstellen konnte. Das Judentum umfaßte jene Nurs, aber nicht als Nurs. Das Gesetz kann genausowenig erledigt sein mit einem Ja oder Nein zu der pseudohistorischen Theorie seines Ursprungs oder der pseudojuristischen seiner Verpflichtungskraft, wie sie von Hirschs Orthodoxie als Grundriß ihres festen, aber engen und in all seinem Prunk unschönen Gebäudes aufgezeichnet wurden, wie die Lehre uns abgetan mit einem Ja oder Nein zu der pseudologischen Theorie der Gotteseinheit oder der pseudoethischen der Nächstenliebe, mit denen Geigers Liberalismus die Fassade des neuen Geschäfts- und Wohnhauses der emanzipierten Judenheit bemalte, – pseudohistorisch, pseudojuristisch, pseudologisch, pseudoethisch: denn ein Wunder ist keine Geschichte, ein Volk keine Rechtstatsache, Blutzeugentum kein Rechenexempel und Liebe nicht sozial. Sondern Gesetz und Lehre, – zum einen wie zum andern führt uns der Weg nur, wenn wir wissen, daß wir noch an seinem Anfang stehn und jeden Schritt selber zu tun haben. Welches ist aber hier, beim Gesetz, der Weg?

Welches war er bei der Lehre? Ein Weg, der durch das ganze Gebiet des Wißbaren hindurchführte, wirklich hindurch, der sich nicht begnügte, nur einige erhöhte Aussichtspunkte zu berühren, ja der selbst dahin führte, wo frühere Zeiten es überhaupt nicht der Mühe wert gefunden hätten, Wege anzulegen, – und der doch selbst dem, der ihn ganz durchlaufen hätte, nicht das Recht geben würde, zu sagen, nun sei er am Ziel; sondern immer dürfte auch ein solcher nur sagen: nun habe er den Weg durchmessen; aber das Ziel läge immer noch, auch für ihn, einen Schritt weiter, im Weglosen. Warum aber gleichwohl der Weg? führt er denn, führt irgend ein Weg ins Weglose? Was hat der, der den Weg ging, voraus vor dem, der gleich den Sprung wagte, der ja auch ihm nicht erspart bleibt? Nur ein kleines, nicht wert so großer Anstrengung nach der Meinung der Menschen, und doch uns aller, der höchsten Mühe wert: nur dieser mühsame und ziellose Umweg durch das wißbare Judentum gibt uns die Gewißheit, daß der endliche Sprung aus dem, was mir wißbar, in das, was mir um jeden Preis zu wissen notwendig ist, der Sprung in die Lehre, zu jüdischer Lehre führt. Diese Not ist so für andere Völker gar nicht vorhanden. Der Mensch aus den Völkern, wenn er lehrt, lehrt in seinem Volke und in sein Volk, auch wenn er nicht gelernt hat; alles was er lehrt, wird seinem Volke zu eigen. Denn die Völker haben nur ein werdendes Gesicht, jedes das seine; keinem ist an der Wiege schon gesungen, wie es werden solle; keinem ist schon im Mutterschoß der Natur das Antlitz geprägt. So sind seine Großen erst Schöpfer und dann werden sie die Seinen. Unserm Volk aber, dem einzigen, das ursprünglich nicht aus dem Mutterschoß der nationengebärenden Natur hervorsprang, sondern – nie erhört! – herausgeführt wurde „ein Volk aus dem Eingeweide eines Volks“, unserm Volke ward ein andres Los. Die Geburt selber ward hier zum großen Augenblick des Lebens, das bloße Dasein verband sich ihm schon mit seiner Bestimmung. Bevor es gebildet worden, war es, wie sein Prophet, schon erkannt. Darum gehört ihm nur an, wer sich dieses bestimmenden Ursprungs besinnt; darum bricht aus ihm heraus, wer nicht mehr fähig oder willens ist, das neue Wort, das er spricht, „im Namen seines Sprechers“ zu sagen und es so, und sich mit ihm, der goldenen Kette anzuglieden. Und darum ist diesem Volk das Lernen des Wißbaren die Bedingung, unter der allein die Lehre des Ungewußten ihm seine Lehre wird, und müssen seine Großen erst die Seinen sein, ehe sie schöpferisch werden.

Das alles gilt nun auch für das Tun und das Gesetz. Nur daß das Tubare, und auch das nicht mehr Tubare aber zu Tuende, nicht wie das Wissen gewußt werden kann, sondern nur getan. Aber von diesem schwerwiegenden Unterschiede einmal vorerst abgesehen, ist das Bild das gleiche. Wie dort durch alles Wißbare, so führt auch hier der Weg durch alles Tubare. Und der Kreis dieses Tubaren ist grundsätzlich ungeheuer erweitert gegen den Pflichtenkreis der Orthodoxie. Denn es gibt hier, wie es in der Lehre nicht mehr den starren Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen, den der Liberalismus aufzustellen gesucht hatte, geben darf, nicht mehr den Unterschied von Verboten und Erlaubt, wie ihn, ebenfalls nicht ohne Vorgang und doch erst hier mit praktischer gestaltgebender Wirkung, die westeuropäische Orthodoxie des 19. Jahrhunderts ausgebaut hat. Hier hatte die Grenzlinie Verboten-Erlaubt einen jüdischen Bezirk innerhalb des Lebens, das man führte, abgeteilt; was außerhalb dieser Linie lag, das Nichtjüdische, war, gesetzlich gesprochen, „erlaubt“; was innerhalb, war das Jüdische mit seinen Ge- oder Verboten. Grenzverschiebungen konnten, bei grundsätzlicher Wahrung der im inneren Bezirk geltenden Normen, vorgenommen werden nach der Methode des „Hetter“, des „Herauslernens“ einer Erlaubnis aus dem Verbotenen selber, – an sich, wie auch jenes Zusammenfallen der Grenzlinie Verboten-Erlaubt mit der andern Jüdisch-Unjüdisch, in gewissem Sinn immer gültig gewesen und in der Tiefe begründet, dennoch aber erst von der Neuzeit zum umfassenden System ausgebildet. Nur subsidiär, nur wo der Bestand des jüdischen Lebens sonst in Frage gezogen wäre, nur da hatten vergangene Zeiten jene Grenze in solchem Sinn und die dann zu ihr als ihre notwendige Ergänzung gehörige Methode der Grenzverschiebung gekannt. Erst die Neuzeit machte, indem sie die Infrageziehung permanent machte, auch hier wie bei der Wesensfrage der Lehre die Antwort konstitutiv. Die Zukunft darf jene Grenze, jene Methode, überhaupt jene Unterscheidung, so aufgefaßt, nicht mehr kennen. So wenig wie in der Lehre von vornherein Unwesentliches, so wenig darf es für sie im Gesetz von vornherein „Erlaubtes“ geben. Grade das, was die Orthodoxie grundsätzlich freigegeben hatte, grade das muß jüdisch geformt werden. In den Raum, der außerhalb jener Grenzlinie lag, tritt der Minhag, der Brauch, und der Taam, der Sinn, also ein Positives an Stelle des negativen „Erlaubt“. Wo lebendiges Judentum war, war das schon immer so; aber wenn man früher dieser Tatsache, wenigstens in Hinsicht des Minhag, offiziell kritisch oder mild-ironisch gegenüber gestanden hatte, so wird sie in Zukunft vollen prinzipiellen Ernst gewinnen. Es darf grundsätzlich kein Bezirk des Lebens mehr preisgegeben werden. Um je ein Beispiel für die beiden Möglichkeiten zu sagen, die hier gemeint sind: wo jüdisch gegessen werden soll, da müssen die zahllosen nur mündlich von Mutter zu Tochter überlieferten Bräuche des Speisezettels ebenso unverletzlich sein wie die Trennung von milch- und fleischdingen; und wer am Sabbat einen Geschäftsbrief selber nicht aufmacht, darf ihn auch dann nicht lesen, wenn ein andrer ihn ihm öffnet. Überall muß dem Brauch und dem Sinn der gleiche Rang und die gleiche Unverbrüchlichkeit werden wie dem Gesetz.

Und dieses selbst, der innere Bezirk jener Abgrenzung, – auch es bleibt nicht unberührt davon, daß es nicht mehr gegen ein nur Erlaubtes sich abzugrenzen hat. Dem Erlaubten gegenüber war es ganz wesentlich Verbotenes gewesen; auch dem Gebot war irgendwie der negative Charakter aufgeprägt worden; der klassische Ausdruck für die Erfüllung der Pflicht, der etwa besagt: sich seiner Pflicht entledigen, bekam da eine verhängnisvolle Bedeutung, die er nicht haben konnte, solange das Heraustreten aus dem Bereich einer Pflicht nur das Eintreten in den Bereich einer anderen bedeutete, die er aber sofort annehmen mußte, wenn rings um das abgegrenzte Reich der jüdischen Pflicht das Reich eines jüdisch ungeformten „Erlaubt“ lag. Wie aber in der Lehre, wenn das „Unwesentliche“ uns wesentlich wird, das Wesentliche selber etwas von der Farbigkeit des Unwesentlichen annimmt, so wird hier, nachdem der Brauch die Würde des Gesetzes angenommen hat, das Gesetz teilhaftig der Positivität des Brauchs. Nicht mehr das Verbot, sondern das Gebot bestimmt seinen Charakter. Selbst das Verbotene wird, indem man es unterläßt, nun positiv. Man hält die Arbeitsverbote des Sabbats um des Ruhegebots willen, man empfindet in der Enthaltung von den verbotenen Speisen die Freude, mit dem Alltäglichen und Allmenschlichen des leiblichen Lebens noch Jude sein zu dürfen, das Unterlassen selber wird Tun.

Damit aber ist jene Grenzlinie durchbrochen; die beiden Welten, die des jüdischen Verbotenen und die des erlaubten Unjüdischen fließen ineinander. Es gilt nun kein Nebeneinander von jüdischem und unjüdischem Tun mehr; hier wie dort umzäunt uns überlieferte Form, dort wie hier umblüht uns gewachsene Freiheit. Das Reich des Tubaren ist ein eines geworden. In ihm sind nun beschlossen die Form, die, selbst wo sie versagt, von dem der in sie eingeht noch als eine Freiheit, ein Tundürfen empfunden wird; in ihm aber auch die Freiheit, die nun, selbst wo sie spielt, noch Form, ein Tunsollen, begründet. In diesem einen Reich des Tubaren liegt etwa die gesetzliche Ausschließung des Weibes aus der Gemeinde, doch nicht nach der Seite dessen empfunden, was dadurch versagt, sondern was dadurch geschaffen wird: das männliche, in bildhaftem Sinn kriegerisch-öffentliche Gesicht der Gemeinde – und liegt doch auch, und ebensosehr, der herrschende Rang im Haus, den ihr die Sitte gegeben hat und den der Mann in dem allsabbatlichen Eingangsgesang des biblischen Lieds von der Frauenkraft vor ihr bekennt und bekundet. Es liegt in diesem einen Reich das Verbot des Bildnisses, wieder nicht empfunden nach dem hin, was dadurch ausgerodet, sondern nach dem was dadurch gepflanzt und gehegt wird: das Gefühl der Unvergleichbarkeit des Einzigen, – und nicht weniger doch auch das unendliche und unendlich verschiedenfarbige Gewand von Melodien, das der Lauf der Jahrhunderte um den Unsichtbaren und seinen Dienst gewoben hat. Es liegt darin der strenge Abschluß von den Völkern, den das Gesetz bis in die Einzelheiten des Alltagslebens erzwingt, auch er doch nicht empfunden nach der Seite des äußeren Abschlusses, sondern nach der des inneren Zusammenschlusses, – und liegt darin doch auch das Geschichtsgesetz der Assimilation, dem unter den Völkern keines aktiv und passiv so sehr unterstellt ist wie das messianische. Immer ist beides gleich verpflichtend, gleich kraftbindend und -entbindend. Immer ist das Tubare ein eines.

Aber wieder haben wir einzusehn, daß mit dieser vereinheitlichenden Ausweitung des jüdisch Tubaren noch nichts – wirklich getan ist. Alles Tubare und zu Tuende ist noch nicht Tat, alles Gebietbare und zu Gebietende noch nicht Gebot. Gebot aber, Gebot das sich unmittelbar, im Augenblick wo es vernommen wird, in Tat umsetzt, muß das Gesetz wieder werden. Es muß die Heutigkeit wiederkriegen, die alle großen jüdischen Zeiten als die einzige Bewährung seiner Ewigkeit empfunden haben. Es muß gleich der Lehre erst da anzufangen sich bewußt werden, wo sein Inhalt aufhört, Inhalt zu sein, und sich in Kraft, unsre Kraft, verwandelt. In Kraft, die nun selber den Stoff wieder mehrt, – um sich selber. Denn mag einer „alles“ Tubare tuen wollen, so wird er mit diesem gewollten Tun das Gesetz mit nichten erfüllen, es nicht so erfüllen, daß es ihm zum Gebot wird; zum Gebot, das er erfüllen muß, weil er es nicht unerfüllt lassen kann, – wie es einst Akibas berühmtes Gleichnis von den Fischen ausgesprochen hat. Es kommt also letzthin nicht auf unsern Willen dabei an, sondern, auch hier, auf unser Können. Auch hier geschieht das Entscheidende erst in der Auswahl, die aus der Fülle des Tubaren willenlos das Können vornimmt. Diese Wahl kann, eben weil sie nicht dem Willen aufgelegt ist, sondern dem Können, nicht anders als ganz individuell sein; denn zwar an den Willen kann sich ein allgemeines Gesetz fordernd wenden, aber das Können trägt sein eigenes Gesetz in sich; es gibt nur mein, dein, sein und auf ihnen aufgebaut nicht aller, sondern unser Können. Ob also viel oder wenig getan wird, ja ob überhaupt etwas getan wird, ist unerheblich gegenüber der einen unumgehbaren Forderung, daß nur aus der Kraft getan wird. Wie das Wissen alles Wißbaren noch keine Weisheit ist, so das Tun alles Tubaren noch keine Tat. Die Tat entspringt – ein Sprung auch hier! – erst an der Grenze des bloß Tubaren, da wo die Stimme des Gebots augenblickshaft den Funken von „Ich muß“ zu „Ich kann“ überspringen läßt. Aus solchen Geboten und nur aus solchen erbaut sich das Gesetz.

Wieder also wird uns selber das Werden des Gesetzes auf die Seele, in die Hände gelegt. So wenig wie bei der Lehre darf einer uns kommen und uns im voraus sagen wollen, was alles dazu gehöre und was nicht. Wir dürfen es nicht vorherwissen wollen, selbst wenn wir es könnten. Wir dürfen mit keinem Willen und mit keinem Wissen der unwissentlich-unwillentlichen Wahl unsres Könnens vorgreifen. Was wir vorher wissen dürfen, ist das Reich des Tubaren; was wir vorher wünschen dürfen, ist: daß unsre Tat in diesem Reich ihren Platz finde; ob sie ihn hier finde, steht schon nicht mehr bei uns, wenigstens soweit wir Wissen und Willen sind. Da wir es sind, soweit wir es sind, geben wir unserm Wissen, unserm Willen diese Richtung, diese Sphäre. Wir haben keine andre Gewähr, daß die wirkliche Tat, wenn sie entspringt, jüdisch sein wird, jüdisch, einerlei ob sie dann in jenem Reich des schon Tubaren Platz finden wird oder nur jenseits der Grenzen dieses Reichs. Ist dies letzte der Fall, so werden sich die Grenzen durch sie hinausrücken. Aber einerlei ob innerhalb oder außerhalb der alten Grenze, in jedem Fall ist es ein neues, ist es unser heutiges Gesetz, was so gesetzt wird, und doch gerade dadurch wieder – das Gesetz. Denn eben dies war es ja, was wir an dem Gesetz, wie seine neuen Hüter es uns entgegenhielten, vermißten und vermissen durften: daß das alte nicht auch zugleich ein neues war. Eben dieser Mangel an Heutigkeit war anerkannt, wenn durch jene Grenzlinie, von der ich sprach, das Leben von heute zum „Erlaubten“ geworden war. Damit war dem Gesetz selber die Heutigkeit abgesprochen. Vergessen war die in ihrer Paradoxie schon den alten Erklärern übergewaltige Kühnheit, die den Mose des Deuteronomiums zu dem Geschlecht, das nicht am Sinai gestanden hatte, sprechen lassen konnte: Nicht mit unsern Vätern schloß Gott diesen Bund, sondern mit uns, uns, diesen, hier, heut, uns allen, den Lebenden. Dieser Kühnheit müssen wir standhalten. Uns ist jene innere Grenzlinie verwischt, und eine äußere muß es wohl geben – denn sicher erweitert nicht jede Tat, die im Gesetz, das wir kennen, keinen Platz findet, seine Grenzen, so wenig wie jede unsrer Erkenntnisse Lehre wird; aber wir können nicht wissen, ob es nicht doch geschehen wird: wir kennen die Grenze nicht und wissen nicht, wie weit die Pflöcke des Zelts der Thora hinausgerückt werden können und welche unsrer Taten bestimmt ist, sie hinauszurücken. Daß sie hinausgerückt werden, und durch uns, darf uns für sicher gelten; denn wie dürfte auf die Dauer etwas draußen bleiben; da würde ja die Grenze das, was sie nicht werden darf: starr und bekannt, wie jene innere zwischen Verboten und Erlaubt, die uns überflutet wurde; ja unversehens wäre sie wieder eine solche innere Grenze geworden und unserm Tun sein edelstes Erbe genommen: daß wir nur Söhne zu sein brauchen, um Bauleute zu werden.

Aber stellt uns nicht dies Wort des Talmud, das jeden Lehrvortrag beschließt, erst vor die schwerste Frage? grade uns! Sind wir denn noch Söhne, können wir es wieder werden? Liegt hier nicht der bedenklichste Unterschied zwischen Lehre und Gesetz, daß uns zwar die Rückkehr zu jener erlaubt ist, denn es ist bloß eine Rückkehr des Bewußtseins, bloß Selbstbesinnung, aber die Rückkehr zu diesem nicht, denn sie kann nicht im Bewußtsein allein geschehn, sondern nur im Tun selber, und das Tun verträgt keine Rückwendung, es kann nur vorwärts gehen; sieht es rückwärts, so wird es nicht wie das Wissen dadurch vertieft, sondern zur, höflich gesprochen, romantischen Schwärmerei und, unhöflich gesprochen, zur Lüge. Und zur gefährlichsten aller Lügen, zur getanen. Die gesagte Lüge kann leicht wieder gutgemacht werden; sie wird zurückgenommen; aber die Tat läßt sich nicht zurücknehmen. Ich möchte dieser Frage nichts von ihrem Ernst abziehen, sie stand hinter allem, was ich zuvor gesagt habe. Aber ich meine: wenn man sie noch ernster stellt, wenn man nämlich nicht bloß da, wo sie die Gefahr sieht, nichts abzieht, sondern auch da, wo sie keine Gefahr sieht, etwas zulegt, so ist sie schon beantwortet. Ich glaube nämlich nicht an die Ungefährlichkeit einer Rückkehr im Bewußtsein. Eine geistige Seuche, wie es jede Romantik ist, wird nicht damit aus der Welt geschafft, daß man ihren Herd zerstört. Die gesagte Lüge läßt sich in ihren Folgen ebensowenig widerrufen wie die getane. Und der Weg des Gedankens ist genausowenig ein Krebsgang wie der Weg der Tat. Auch der Gedanke setzt einen Fuß vor den andern. Es ist im Leben des Geistes ein ganz besonderer Fall, wenn er gefahrlos rückwärts sehen darf oder wenn es ihm sogar heilsam ist, es zu tun. Selbstbesinnung kann zum geistigen Selbstmord werden. Wann tritt dieser Fall ein, wann der andre?

Das Leben des Geistes ist so sehr ein wirklicher einsinnig gerichteter Lebenslauf, daß er wie jeder einsinnige Ablauf beständig Totes abscheidet; nur um diesen Preis wird ihm die Erneuerung gewährt; jedes Geborenwerden kostet ein Sterben. Diese toten Körper werden nun unter Umständen noch lange im Strom mitgetragen; es ist ein Zufall, wenn sie einmal ans Ufer geschwemmt werden. Da nun der Strom des Geistes nicht in all seinen Teilen die gleiche Geschwindigkeit hat, sondern immer Wellen vorauseilen, während andre nur langsam folgen, so ist es um der Gesundheit, nämlich um des Zusammenhangs des Ganzen willen gut, wenn von Zeit zu Zeit die Vorausgeeilten anhalten und, den Blick rückwärts gewandt, die Zurückgebliebenen erwarten. Nichts andres ist, was man Selbstbesinnung nennt, beim Einzelnen wie bei geistigen Ganzen. Und die Gefahr dieses Blicks rückwärts ist nun, daß man das nur noch mitgeschleppte Tote nicht unterscheidet von dem nur langsamer und deshalb noch quellnäher strömenden Lebendigen und auf jenes wartet, als wäre es dieses. Die Folge ist dann, daß von den toten, doch für lebendig gehaltenen Körpern der Strom sich staut und sein Wasser versumpft. Es ist also für den Geist – und zwar ganz gleich für den schauenden wie für den tätigen – lebenswichtig, ob er die Instinktsicherheit hat, bei solchen Rückgriffen Totes und Lebendiges auseinanderzukennen. Die künstliche Erneuerung veralteter politischer Institutionen ist nicht gefährlicher als die eines toten Glaubens. Beispiel des einen sind die ständischen Sommernachtsträume Friedrich Wilhelms IV. im Gegensatz etwa zu der Wiederbelebung des in Englands Recht noch lebendig erhaltenen Gedankens der Geschworenengerichte im Europa des vorigen Jahrhunderts; Beispiel für das andere wären etwa die wotanistischen Bemühungen in deutsch-völkischen Kreisen, im Gegensatz wieder zu der Besinnung auf den alten Volksglauben in der Form, die er schon im Kampf mit dem fremden Weltglauben annahm, wie sie in der Wiederentdeckung der Sage einer-, des Märchens andrerseits der deutschen Bildung des 19. Jahrhunderts geschehen ist.

Die Gefahr ist also die gleiche und nicht geringer für das Wissen als für das Tun. Aber auch die Möglichkeit ist die gleiche. Sie liegt in dem, was ich eben als Instinkt für Totes und Lebendiges bezeichnete. Dieser Instinkt kann irren, aber seine Irrtümer sind für die Völker nur selten lebensgefährlich, weil auch die Rückwendung selbst nur seltene Male in der Geschichte den Völkern zur Lebensnotwendigkeit wird. Das ist für unser Volk anders. Ihm ist das Leben nicht der einsinnige Ablauf wie jenen. Unsre Geschichtslosigkeit oder, positiv gesagt, unsre Ewigkeit macht uns alle Augenblicke unsrer Geschichte gleichzeitig. Die Rückwendung, das Aufholen des Zurückgebliebenen wird hier zur ständigen, nicht wie für die Völker nur zur historischzeitweiligen Lebensnotwendigkeit. Aber freilich zur Lebensnotwendigkeit – wir müssen in unsrer Ewigkeit leben können. Deshalb genügt uns gegen die Gefahr jener Rückwendung nicht der Schutz, der Völkern, für die jene Notwendigkeit und Gefahr nur etwas Gelegentliches bedeuten, wohl genügen darf: der Schutz des Instinkts muß für uns mit stärkeren Sicherheiten umgeben sein. Diese Sicherheiten liegen in dem, was ich zuvor immer wieder als Letztentscheidendes angerufen habe: in unserm Können. Die Einsetzung dieser Berufungsinstanz könnte höchste Frivolität sein, wenn sie nicht höchster Ernst wäre. Im höchsten Ernst hat der Midrasch Israels freies Annehmen des Gotteswortes „unterm“ Sinai in ein gezwungenes, gott gezwungenes umgedeutet: Er stülpte den Berg über sie wie ein Faß, bis sie annahmen. Wir mögen das unsre tun, um Hindernisse, die fortzurücken in unsrer Macht steht, zu beseitigen; wir dürfen unser Können freimachen und sollen es. Aber die letzte Wahl ist unserm Willen entzogen und unserm Können vertraut.

Freilich, sowie das Können kann, kann es nicht mehr anders; es wird Nichtanderskönnen, Müssen. Kein wählend-prüfender Instinkt ist so bei uns damit betraut, die Gefahren der Rückwendung abzuwehren, sondern unser ganzes Sein. Denn das heißt ja schließlich die Berufung aus Können. Wie unser ganzes Sein, und in jedem Augenblick, vor die Aufgabe der Heimkehr gestellt ist, nicht wie bei den Völkern nur einzelne Schichten und Provinzen des Seins und nur in gewissen historischen Augenblicken, so muß auch das Aufnehmen der Aufgabe durch unser ganzes Sein geschehen. Die Entscheidung, die aus dem Können geschieht, kann nicht irren, weil sie ja gar nicht zu wählen, nur zu gehorchen hat. Eben darum kann auch keiner den andern zur Rede stellen, obwohl jeder den andern lehren kann und muß; denn was einer kann, weiß er nur selber; die Stimme des eignen Seins, der er zu gehorchen hat, wird nur von seinem eignen Ohr vernommen. Auch weiß keiner, ob nicht im Nichtkönnen des andern mehr Bauarbeit an der Lehre und am Gesetz geschieht als im eignen Können. Nur daß uns allen die Möglichkeit, zu können, gegeben ist, das wissen wir. Denn was den Völkern eine seltne und schwere Aufgabe ist, jene Rückwendung im vorwärtsdrängenden Strom des Lebens – denn sie fühlen sich gemeinhin nur als Zeit- und Raumgenossen und höchstens an Fest- oder an Schicksalstagen der Volksgemeinschaft als die Kette der Geschlechter –, das ist uns das Grundgefühl des gemeinsamen – und auch des einsamen – Lebens: das Gefühl, Kinder der Väter zu sein und Ahnen der Enkel. Darum dürfen wir erwarten, uns irgendwie und irgendwann in jedem Wort und in jeder Tat der Väter wiederzufinden, und hoffen, daß unser Wort und unsre Tat für die Enkel nicht ungesprochen und nicht ungetan sein wird. Denn wir sind, die Schrift schreibt es, „Kinder“ und sind, die Überlieferung liest es, „Bauleute“.

Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Habe ich es Ihnen gesagt? Insofern ich an Ihre Rede anknüpfte, und insofern mir diese Rede den Antrieb gab, Dinge heute auszusprechen, die ich früher nur nach und aus der vollen Erfahrung eines Lebens auszusprechen dachte und die auszusprechen ich jetzt nicht mehr erwartete, – insofern gewiß. Und daß grade Sie, der Sie den einen Weg zur Thora uns neu erschlossen haben, nicht sehen können sollten, was uns heute auch auf dem andern treibt, das mochte ich nicht glauben. Mehr als Ihnen sichtbar machen, was in uns vorgeht, durfte ich nicht wollen, durfte es gerade nach dem, was ich meine, nicht. So darf ich wohl guter Hoffnung sein, daß meine Worte von Ihnen, dem sie zugesprochen sind, mit offenem Auge – denn an Ihr Auge mehr als an Ihr Ohr sind sie gerichtet – aufgenommen werden. Schwerer drückt mich etwas andres. Ich sprach nicht für mich allein, – das wäre vermessen gewesen und auch dem Inhalt dessen, was ich zu sagen hatte, zuwider. Aber ich könnte die „Wir“, aus deren Mund ich sprach, nicht mit Namen bezeichnen. Nicht wenige, die ich kenne, gehören dazu, mehr wohl noch, die ich nicht kenne. Aber wohl keiner von ihnen würde mit allem mitgehen, was ich hier gesagt habe. Dennoch ist es auch für diese mitgesagt. Es eröffnet ein Gespräch, das, hoffentlich mehr mit Taten und Lebensläufen geführt als mit Worten, unter denen, die ich in meinem „Wir“ zusammenzuschließen mich unterfing, nicht mehr zur Ruhe kommen soll. Dann mögen meine Worte, die es eröffneten und nur eröffnen konnten, ruhig in den Worten der andern verschallen. Das erste Wort ist nur gesprochen um des letzten willen. Und dies mein verfrühtes „Wir“ soll einst schweigen im letzten.

Zweistromland

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