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1. Kapitel

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Südfrankreich

Dunkelheit. Und Stille. Eine Stille, so absolut, wie man sie nicht mal mit dem besten Gehörschutz der Welt erreichen würde. Nein, halt, ein Geräusch gab es doch, das ab und an diese leere Stille unterbrach, ein Geräusch, das der Mann erst nach minutenlangem Nachdenken als das eines irgendwo auftreffenden Wassertropfens identifizierte.

Sein Kopf dröhnte, fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Beil zu spalten versucht. Hatte jemand? Der Mann wusste es nicht, wusste nicht einmal, wo er sich befand. Mühsam kramte er in seinem Gedächtnis – konnte ein Gedächtnis schmerzen? – und bekam doch nur heraus, dass er Darius Thanner war. Vor drei Wochen nach Südfrankreich gekommen, um mit zwei Kumpeln für einen Kajak-Wettbewerb zu trainieren. Warum aber saß er dann nicht in seinem flotten, gelben Boot, die glutheiße Sonne des Südens über sich und das kristallklare Wasser der Ardèche unter dem Hintern? Warum hockte er stattdessen …? In diesem Moment wurde ihm klar, dass er eben gerade nicht hockte, sondern – schwebte? War er vielleicht im Himmel? Quatsch! Erstens wäre es dort nicht zappenduster, und zweitens würden die göttlichen Türhüter bei einem Typen wie ihm von vornherein entsetzt abwinken. Wer hatte das gleich wieder geschrieben, diese wahnsinnig aufmunternde Story mit den diversen Höllenfriesen für jede Verfehlung? Dante, wenn er sich recht entsann …

Nein, so viel begriff Darius selbst mit dem übelsten Brummschädel, den er je gehabt hatte: Der Himmel war das nicht, und die Hölle ebenso wenig; dafür war es eindeutig zu frostig. Er zwang sich, die Hände zu bewegen, dann die Arme. Vor ihm: nichts. Neben ihm: nichts. Und hinter ihm, in seinem Rücken: etwas Kaltes, Glattes, Hartes …

Doch das war nicht das Schlimmste: Unter seinen Füßen, nämlich da, wo sich solide Erde hätte befinden sollen oder freundlich-weiches Gras oder wenigstens ein simpler, rauer Zementboden – war gar nichts. Na ja, ein paar Luftmoleküle sicher, Sauerstoff, Stickstoff, verirrte Edelgase, aber sonst nichts. Darius schwebte nicht, er hing!

In Panik drehte er den Kopf eine Spur zu rasch, spürte einen Stich in der Schläfe wie von einem Stilett und verlor erneut das Bewusstsein …

Sie hörte die Uhr schlagen, dumpf und tief, und ihre Angst wuchs. Wäre Gastons Tag nach Wunsch gelaufen, wäre er längst hier! Er hätte seinen Job – was immer der sein mochte – erledigt, im Squale Bleu vorbeigeschaut, seinen Roten getrunken und wäre nach Hause gekommen. Müde oder aufgekratzt, mit freundlichen Worten oder Flüchen, aber er wäre gekommen. Doch jetzt …

Farida saß still, absolut still, horchte hinaus auf die Straße. Seinen Wagen würde sie unter Tausenden erkennen, so oft hatte sie schon auf ihn gewartet. So oft Angst gespürt … Aber sie hörte keinen Automotor, lediglich das trunkene Lachen einiger später Gäste des Blauen Hais, eine Stimme, die in krächzenden Tönen zu singen anhub, in einer Sprache, die die junge Araberin nicht kannte, Deutsch vielleicht. Viele Deutsche reisten nach Vallon, zum Kajakfahren oder auch bloß, um den Pont d’Arc zu bewundern, den monumentalen natürlichen Felsbogen, der hier in der Nähe den Fluss überspannte und als bevorzugtes Motiv neunzig Prozent aller Postkarten zierte.

Natürlich schrieb Farida keine Karten. Auch nicht an die daheim. Daheim, das war Nordafrika, das Dorf am Rand der Wüste, von wo sie geflohen war, um der Kargheit des Lebens und dem übermächtigen Einfluss der Männer zu entkommen. Eine Stelle als Haushaltshilfe, Zimmermädchen oder Bedienung, davon hatte sie geträumt, zu Hause im bled aber dann … Manchmal konnte Farida sich des Eindrucks nicht erwehren, das Leben sei ausschließlich für Männer gemacht. Die Frauen jedenfalls hatten nicht viel davon. Weder daheim im bled, noch hier. Frauen wie sie zumindest nicht. Für Frauen wie sie bot das Leben nur Arbeit und Warten und Leid. Im bled hatte sie gearbeitet, unter der Armut gelitten und darauf gewartet, fortgehen zu können. Und hier arbeitete sie und wartete auf Gaston und wusste schon jetzt, dass er sie leiden lassen würde, wenn sich der Tag nicht seinen Plänen gemäß entwickelt hatte …

Still hockte sie da, schaltete nicht einmal den Fernseher an, grübelte besorgt darüber nach, ob sie alles aufgeräumt, nichts zu putzen vergessen habe, denn wenn Gaston in dunkler Stimmung war, konnte sich sein Zorn an jeder Kleinigkeit entzünden. Und als Farida endlich den Wagen hörte, als das Brummen des Motors vor dem Haus erstarb, als der Schlüssel sich im Türschloss drehte, verkrampfte sich ihr Magen zu einem Klumpen der Angst …

Als Darius wieder zu sich kam, hing er noch immer. Aber die Dunkelheit hatte sich gelichtet, war einem fahlen Dämmergrau gewichen, und als er seinen schmerzenden Kopf zwang hochzublicken, sah er über sich ein winziges Stück Morgenhimmel. Und um sich herum erblickte er Nadeln. Riesige Felsnadeln, mal dick, mal dünn, in Grau, in Braun, in fleischig wirkendem Rosa. Stalagmiten und Stalaktiten, zum Teil von gigantischer Höhe, rund und glatt. Und ein riesiger Stalagmit war es auch, an dem Darius hing, an dessen Spitze sich seine Jacke verfangen haben musste, als er durch das Loch in der Decke in diese Höhle gestürzt war und um ein Haar beziehungsweise eher um einen Stalagmiten dem Tod entgangen war. Denn unter ihm, wie er jetzt sah, war der Boden der Höhle noch weit entfernt, zehn Meter bestimmt. Drei Meter nach oben, zehn Meter nach unten. Allmählich hörte Darius auf, sich zu wundern; sein praktischer Verstand kehrte zurück. Nach oben konnte er nicht, so gern er wieder ans Licht geklettert wäre, aber der Stalagmit, der ihn aufgefangen hatte, stand zu weit von seinen von der Decke hängenden Kameraden entfernt, ganz abgesehen davon, dass die alle zu glatt waren, um an ihnen emporzuklettern. Außerdem wuchs keiner der Tropfsteine nahe genug an dem kleinen Loch in der Höhlendecke, das sich also ohnedies nicht erreichen lassen würde. Blieb die Option abwärts, aber wenn Darius hinunterblickte, schauderte ihn. An diesem rutschigen Ding in seinem Rücken, das seine Hände nun so weit wie möglich abtasteten, konnte er unmöglich hinabklettern! Und wenn er sprang, brach er sich bestenfalls die Beine, schlimmstenfalls das Genick.

Rutschen, dachte er, ich muss mich aus der Jacke winden und hinabrutschen! Mit den Armen und Beinen als Bremse … Doch dann, wenn er erstmal unten wäre? Wie sollte er je das Loch zur Freiheit erreichen, je wieder herauskommen aus dieser überdimensionierten Fallgrube, von der er nicht einmal wusste, wie er überhaupt hineingeraten war? Egal, er konnte schließlich auch nicht den Rest seines Lebens schlapp hängen bleiben wie ein Mantel am Kleiderhaken …

Farida fiel es schwer, ihren zerschlagenen Körper aus dem Bett zu schieben. Sie musste vorsichtig sein, durfte ihn nicht wecken, nicht bevor sie zurechtgemacht und das Frühstück am Tisch war. Auf bloßen Füßen schlich sie ins Bad, schloss so leise wie möglich die Tür, bevor sie das Licht anknipste, das Nachthemd zu Boden rutschen ließ. Auf und über ihren Brüsten hatten sich bereits blaue Flecken gebildet, die der von Halogenlampen angestrahlte Spiegel erbarmungslos deutlich zeigte. Farida holte die Kräutersalbe gegen Blutergüsse aus ihrem Versteck hinter den Handtüchern hervor und schloss für einen Moment die Augen.

Aber es war nicht der Anblick ihrer geschundenen Brüste, den sie nicht ertragen konnte, es war ihr geradezu jungfräulich flacher Bauch, den sie an solchen Tagen nicht betrachten konnte, ohne sich schmerzhaft an einen anderen Tag zu erinnern, an dem er sie geschlagen hatte. Brutal zusammengeschlagen, weil sie Fragen stellte, die er nicht beantworten wollte. Und am Nachmittag jenes fatalen Tages hatte ein Strom aus Blut ihre liebste Hoffnung aus ihrem Körper davongetragen. Und jetzt …? Farida seufzte, ganz leise, denn Gaston durfte es nicht hören, sonst … Sorgsam salbte sie ihre malträtierten Brüste, gelegentlich zusammenzuckend, wenn der Schmerz zu stark wurde, tastete ihre Rippen ab und stellte erleichtert fest, dass nichts gebrochen schien. Sie hätte sich geschämt, wieder um Hilfe bitten zu müssen, die wissenden Augen der alten Heilerin zu sehen und ihren Blick nicht offen erwidern zu können.

Mit vorsichtigen Bewegungen stieg Farida in Slip und Kleid – den BH konnte sie heute nicht tragen – und wollte eben aus dem Bad schleichen, als ihr siedendheiß das Nachthemd einfiel, das sie fast auf dem Boden hätte liegen lassen, eine Vergesslichkeit, die sie sich absolut nicht leisten durfte! Zitternd tapste sie zurück, hängte das Hemd sorgsam auf den dafür vorgesehenen Bügel, ging in die Küche und holte die Packung Kaffee aus dem Schrank. Während die Maschine ihre Filterarbeit begann, lief Farida leise die Treppe hinab und nach draußen, zur boulangerie. Gaston liebte frische Croissants am Morgen und seine Zeitung, die sie ebenfalls noch besorgen musste.

Als die junge Frau zurückkam, so leise wie möglich die Wohnungstür aufschob, stand er gerade im Flur, auf dem Weg ins Bad. Sie schlug die Augen nieder, aber das Flattern ihres Herzens ließ sich nicht besiegen. Doch er sagte mit ganz normaler Stimme: »Der Kaffee riecht gut.« Und ihre Erleichterung war derart, dass ihr fast schwindlig wurde.

Darius lag auf dem Felsboden, Tränen des Schmerzes in den Augen. »Scheiße! Scheiße! Verdammte Scheiße!« Er schrie es hinaus, und die Wände schrien zurück, sodass Darius erschrocken verstummte. Hatten sich die ganzen verfluchten Berge gegen ihn verschworen? Im nächsten Moment kam der Trotz, der für einen kurzen Moment alle anderen Gefühle beiseite drängte: »Ich will hier raus, hört ihr? Ich will aus dieser verdammten Höhle raus!«, brüllte er ins Nichts, und wieder brüllten die geisterhaften Stimmen das Echo, und zugleich hörte er irgendwo im Hintergrund ein Rumpeln, das er sich im ersten Moment nicht erklären konnte, bis er begriff: Da fielen Steine! Eine Felslawine?! Konnte sein unüberlegtes Schreien sie ausgelöst haben? Nun lag er mucksmäuschenstill, die Hände um den Knöchel gekrampft, den er sich beim Abrutschen von dem Stalagmiten verletzt hatte. Das fehlte gerade, dass er jetzt von einer Steinlawine erschlagen wurde, nachdem er in diese blöde Höhle gestürzt war! Gestürzt … Darius konnte sich an keinen Fall erinnern, oder doch …?

Sein Schädel schmerzte weiterhin oder schon wieder, und das Denken artete in Arbeit aus. Vielleicht sollte Darius seine Kraft eher den Möglichkeiten widmen hier herauszukommen? Vorsichtig ließ er den Knöchel los, wälzte sich auf den Rücken. Weit, weit über ihm das Licht. Sein geliebtes Sonnenlicht! Seinetwegen hatte er vor Jahren beschlossen, weiterhin in der Toskana zu leben anstatt nach dem Tod seiner italienischen Frau ins kühle, regnerische Deutschland zurückzukehren. Und jetzt? Sah er die Sonne von tief unten … Wie aus einem Grab, fiel ihm ein, und der Gedanke trug absolut nicht dazu bei, ihn heiterer zu stimmen.

Um sich abzulenken, blickte er sich in der Höhle um, soweit sie durch das kaum quadratmetergroße, größtenteils von Gestrüpp verdeckte Loch im Fels erhellt wurde. Der Boden der Grotte konnte es an Weite mit jedem Tanzsaal aufnehmen. In der Längsrichtung vermochte Darius kaum die Wände zu erkennen. Und überall wuchsen riesenhafte Tropfsteine empor, in dem offensichtlichen Bestreben, mit ihren von der Decke hängenden Kollegen in Kontakt zu treten. An manchen Stellen war ihnen dies bereits gelungen, und zierliche Säulen verbanden Boden und Decke. Darius’ Sinn für Ästhetik sagte ihm, dass dies, wenn es denn sein Grab werden sollte, auf jeden Fall eine ungewöhnlich schöne, geradezu feenhafte letzte Ruhestätte wäre …

Aber noch war es kein Grab! Aufstehen und herumlaufen konnte er nicht, dazu schmerzte sein Knöchel zu sehr. Er konnte nur hoffen, ihn nicht gebrochen, sondern lediglich verstaucht zu haben. Doch wenigstens auf allen vieren konnte er sich umsehen, nach einem Weg suchen, der ihn aus diesem verfluchten, unterirdischen Verlies entkommen lassen würde. Realistisch wie er war, ahnte Darius schon jetzt, dass sein Fluchtweg nicht durch das Loch in der Decke führen würde; das blieb unerreichbar, zumindest für jemanden, der kein Weltmeister im Freeclimben war. Aber er wusste, dass diese Karsthöhlen sich unterirdisch oft kilometerweit erstreckten und dass sie an mehreren Stellen Verbindung zur Außenwelt haben konnten.

Als Vierfüßler krabbelte er über den mit Geröll übersäten Boden, tapste durch eine Pfütze, die er zu spät bemerkt hatte und deren Wasser seine Jeans begierig aufsogen. Und fand als erstes, nicht weit von der Rückseite der Säule, an der er gehangen hatte, seinen Rucksack, seine durch den Sturz zertrümmerte Staffelei und zwei zerfetzte Plastiktüten, die ihren Inhalt – Konservendosen, Brot, Müsliriegel und zerbrochene Flaschen – unschön über den Höhlenboden verteilt hatten, was der Zaubergrotte an dieser Stelle das Aussehen einer Müllhalde verlieh.

Die Staffelei. Unter ihm das Flusstal, im Abendlicht … Die Tüten, vom Supermarkt in Vallon. Essen für ihn und die Kajakkumpel … Die Erinnerung kehrte zurück, langsam und in Bruchstücken. Darius fand den Malblock, das begonnene Aquarell mit der Ruine im Vordergrund … Hörte Männerstimmen, zornig und gedämpft, sah die Frau durch die Büsche huschen, ihren Korb am Arm. Und dann? Ein Schmerz in seinem Kopf, Schwärze, das Nichts. Und nun die Höhle …

Egal! Der Rucksack war da, und darin bestimmt das Handy! Darius zog ihn zu sich heran, leerte den Inhalt auf die ebenste Stelle des Bodens, warf beiseite, was er hier nicht brauchen würde: Pinsel, Farben, Sonnenöl, die Scherben einer Flasche Roten, deren Geruch ihn beinahe betäubte und ihm einen Fluch entlockte. Warum hatte er keine Plastikflasche gekauft, dann könnte er sich wenigstens ein bisschen über seine Scheiß-Lage hinwegtrösten?! Und wo, zum Teufel, war das verdammte Handy?! Er suchte und wühlte, hektischer und hektischer, bald in absoluter Panik. Kein Handy! Nirgends! Und damit – keine Hoffnung auf schnelle Rettung! Als die schreckliche Wahrheit nach und nach in jede Pore seines Gehirns drang, fing er an zu schreien, um Hilfe zu brüllen – keine Reaktion!

Am liebsten hätte er geheult. Und zwang sich stattdessen zur Ruhe. Als Erstes würde er das herumliegende Essen einsammeln, ehe sich irgendwelches Getier darüber hermachen konnte. Während er über den Boden kroch, sich allzu sehr bewusst, dass er hier unten weder Restaurant noch Supermarkt finden würde, merkte er plötzlich, wie hungrig er war. Wie lang mochte er an dieser blöden Felsnadel gehangen haben? Eine Nacht, zwei? Er schaute auf die Uhr, doch sie war stehen geblieben; natürlich, es war eine dieser Automatik-Fliegeruhren, und obwohl er sie seit Jahren besaß, hatte er keine Ahnung, wie groß die Gangreserve war, wie lang er sich also schon mindestens in der Höhle befand.

Darius schüttelte seinen Arm, um das Werk aufzuziehen und beschloss, die Uhr am Abend, zum Zeitpunkt der absoluten Dunkelheit, auf halb elf zu stellen, was in etwa korrekt sein dürfte. Das Gefühl, die Zeit messen zu können, schien ihm ein Stück Normalität zurückzugeben und besserte seine Laune ein klein wenig. Er fischte einen glücklicherweise wasserdicht verpackten Müsliriegel aus einer Pfütze, verspeiste ihn im Liegen, schöpfte mit der hohlen Hand Wasser und trank gierig. Ungeduldig – warum war er ungeduldig, hier drinnen eilte doch nichts?! – sortierte er endlich seine Schätze, fand einen dünnen Pullover, nass und nach Rotwein riechend, fragte sich, wie er ihn in dieser Unterweltsumgebung je trocken kriegen sollte. Und als würde ihm erst dadurch die Kälte bewusst, begann er zu frösteln.

Er hatte keine Decke, keine warme Kleidung, nichts. Die Jeans, die er trug, klebten eklig feucht an seinen Beinen. Wie kalt mochte es sein? Darius dachte an die Madeleine-Grotte, die er mit der Clique besichtigt hatte. Fünfzehn Grad? Hatte der guide damals nicht von fünfzehn Grad gesprochen? Sicher wusste Darius es nicht, hatte mit den Kumpeln herumgeblödelt anstatt zuzuhören. Andererseits, in das Loch, in dem er lag, konnte tagsüber die warme Außenluft dringen, sodass es ihm vermutlich eher aufgrund seines maroden Zustands so eisig vorkam. Und überhaupt, eigentlich war es scheißegal, bei welcher Temperatur er fror! Wenigstens waren da noch drei verknautschte Päckchen Zigaretten, mitten unter den Gesundheitsriegeln. In der Außentasche des Rucksacks entdeckte Darius eine fast leere Packung Zündhölzer, riss eins an, und bereits der erste Zug Marlboro ließ seine Situation hoffnungsvoller erscheinen. Gut, er besaß nichts, was ihn wärmen konnte, also musste er sich eben Bewegung verschaffen! Rasch stopfte er alles, was er an Esswaren zusammengerafft hatte, in den ausgeleerten Rucksack, streifte den Pullover über und fühlte sich in eine Wolke Alkoholdunst gehüllt.

Den schmerzenden Knöchel hochhaltend, krabbelte er weiter durch die Höhle, um einen breiteren Tropfstein herum, hinter dem etwas Helles lag, vielleicht noch etwas, das sich brauchen ließ? Ein großer Plastiksack war es, sechs oder sieben Kilo schwer; Darius konnte sich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, knotete ihn hoffnungsvoll auf. Im nächsten Moment erstarrte er in der Bewegung – und ihm wurde schlecht.

Abends lag Darius auf dem Rücken, den Blick unverwandt auf das winzige Stück Himmel über sich gerichtet. Das magere Feuerchen, das er aus seiner zerschlagenen Staffelei und ein paar abgebrochenen Ästen, die wohl zu verschiedenen Zeiten in die Grube gefallen waren, errichtet hatte, war längst zu einem entmutigt glimmenden Aschehaufen herabgebrannt, aber es hatte ausgereicht, den Pullover und die Jeans zu trocknen. Survivalregel Nummer eins: Schutz vor Wetter und Unterkühlung sichern, sonst sinken die Überlebenschancen immens! Doch den Rauch, den Darius als Notsignal in die Oberwelt hatte hinaufschicken wollen, hatte ein plötzlich aufkommender Mistralableger fast schneller verweht, als er aus dem Loch gestiegen war – zusammen mit der Hoffnung, die Feuerwächter der Buschwälder herbeilocken zu können. Wie sollte es weitergehen? Darius besaß keine Streichhölzer mehr, um am nächsten Tag ein neues Feuer zu entfachen; selbst die Zigaretten würde er kauen müssen anstatt sie zu rauchen. Abgesehen davon gab es in der Höhle sowieso kein Brennmaterial mehr, und sein bisschen Ausrüstung war in seiner Lage viel zu kostbar, um es abzufackeln. Natürlich konnte er nachts versuchen, mit dem Taschenlampen-Schlüsselanhänger Lichtsignale zu senden, aber erstens war das Lämpchen eine müde Funzel, und zweitens trieb sich hier bei Dunkelheit sicher niemand in der Wildnis herum, dem das Licht, sollte es überhaupt ausreichend stark sein, auffallen könnte. Wie lange würde Darius also in dieser blödsinnigen Fallgrube ausharren müssen? Würde ihn überhaupt jemand finden? Bestand die Möglichkeit, dass jemand zufällig hier vorbeitrapste, an diesem Privatloch, jemand, der Hilferufe hören würde? Darius hatte sich den ganzen Nachmittag immer wieder die Seele aus dem Leib gebrüllt. Mit dem einzigen Erfolg, dass er einen über dem Loch kreisenden Raubvogel verscheucht hatte. Seine Gedanken glitten ab. Konnte man Geier essen? Irrsinnig lang würden die paar Müsliriegel und Sardinenbüchsen nicht reichen, egal wie sorgfältig er sie rationierte … Und nach wie vor hatte er nicht die geringste Ahnung, wie und warum er hier unten gelandet war …

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als der Donnerschlag ihn weckte. Blitze zuckten, tauchten für Sekundenbruchteile sein Gefängnis in grelles, weißes Licht. Im nächsten Moment spürte er die ersten Tropfen auf dem Gesicht, kroch fluchend zur Seite, das verletzte Bein nachziehend, bis er in einen trockneren Bereich der Höhle gelangte. Die Götter zürnten, würde Peter Selmann sagen und erzählen, wie die Etrusker aus Blitzen die Zukunft weissagten. Aber warum? Warum zürnten die Götter? Warum ausgerechnet ihm?

Toskana, Italien.

Der Mann war so in seine Arbeit vertieft, dass er Claudias Schritte nicht bemerkte, was ihr Gelegenheit verschaffte, den Archäologen in Ruhe zu betrachten und sich wieder einmal zu wundern, wieso sie sich nicht in ihn verliebt hatte, sondern stattdessen in seinen unzuverlässigen Freund Darius Thanner.

Peter Selmann war groß, mit eckigen Schultern und Augen vom gleichen intensiven Blau wie der toskanische Sommerhimmel, unter dessen Gewölbe er hingebungsvoll nach Zeugnissen aus der Etruskerzeit suchte.

»Wollten Sie nicht längst Ihren Urlaub antreten?«

Claudias Frage schreckte den Archäologen aus seinen Träumen, wie einen Schlafwandler, den man zu rasch weckt. Doch als er die Besucherin erkannte, legte er mit einem Lächeln sein Werkzeug – Kelle und Bürstchen – beiseite und kletterte aus der lang gestreckten Grube.

»Urlaub?« Sein Blick schweifte über das sonnenüberflutete Grabungsgelände, das bereits jetzt, Mitte Juli, völlig ausgedörrt wirkte. »Das hier ist besser als jeder Urlaub! Was könnte schöner sein?«

Nun, da wäre Claudia Trentini eine Menge eingefallen … Ein Nachmittag am Strand, ein Cappuccino in Cecina … Eine Nacht mit Darius auf dem Paradiso, seinem toskanischen Landgut …

Doch ihre bissig gesprochene Antwort lautete anders: »Ein paar Tage Erholung in Südfrankreich zum Beispiel. Oder haben Sie vergessen, dass wir zusammen mit Darius’ Neffen an die Ardèche fahren wollten?! Das Kajakrennen ansehen?«

Peters Lächeln verflüchtigte sich. »Noch immer keine Nachricht von Darius?«

Sie hörte das Mitgefühl in seiner Stimme und ärgerte sich. »Er würde anrufen, wenn er könnte!«, schnappte sie, und der Archäologe sah in die Ferne – ohne zu antworten.

»Ich habe am Campingplatz angefragt.« Claudias Fußspitze scharrte im Sand, ohne Rücksicht darauf, dass die teuren schwarzen Sandalen Kratzer bekamen – ein sicheres Zeichen dafür, wie ernst ihr die Lage schien. »An der Rezeption hat man ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen … Seit fünf Tagen, um genau zu sein!«

»Vielleicht macht er einen längeren Ausflug?«

»Das hätte er mir gesagt!«

Peter musste die Antwort überdenken, schüttelte endlich den Kopf. »Wir sollten uns nichts vormachen! Darius war nie der konventionelle Typ, der ständig im Voraus plant! Er wird irgendwo herumziehen und sein Handy vergessen haben, das ist alles.«

»Nein«, sagte Claudia. »Das ist nicht, was Sie wirklich denken!« Es kostete sie ungeheure Überwindung auszusprechen, was sie nicht hören wollte, von ihm nicht und erst recht nicht von sich selbst. »Sie meinen, er hat eine andere Frau.«

Peters betretenes Schweigen – er hatte sich nie leicht verstellen können – war Antwort genug; wortlos wandte sich Claudia ab und stelzte davon.

»Aspetti! Warten Sie!«

Der Archäologe holte sie rasch ein; seine kräftige Hand hielt sie an der Schulter fest. »Sie machen sich wirklich Sorgen, nicht wahr?«

»Natürlich!«, fauchte Claudia, aber als sie in seine freundlichen Augen blickte, konnte sie ihm nicht länger böse sein. »Wir wollten ja sowieso in den nächsten Tagen rüberfahren. Darius anfeuern. Dann können wir doch genauso gut jetzt gleich …«

»Vielleicht ist der Wohnwagen noch nicht frei«, murmelte Peter.

»Das lässt sich mit einem einzigen Anruf klären!« Langsam wurde Claudia wieder ungeduldig. Peter, der Italiener mit einem Südtiroler Vater, war nicht gerade ein Meister der Spontanentschlüsse, im Gegenteil. Und sein Beruf, der ständige Vorsicht und Geduld erforderte, eignete sich keineswegs dazu, ihm die Vorteile rascher Entscheidungen näherzubringen.

»Hier!« Sie streckte dem Archäologen ihr Handy hin, und er starrte es an, als habe er nie im Leben ein derartiges Gerät gesehen, geschweige denn benutzt; zu sehr weilte sein Geist im Altertum.

»Rufen Sie an, Dio mio! Es ist Ihr Freund, der den Wohnwagen vermietet, oder?«

»Sie wollen wirklich, dass wir …?«

»Madonna!« Claudia verdrehte die Augen. »Ihre alten Knochen und Scherben sind Tausende Jahre hier gelegen, die können ruhig ein paar Wochen länger warten! Ich nicht!«

Die dunklen Wasser von Vallon

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