Читать книгу Die dunklen Wasser von Vallon - Frauke Schuster - Страница 8

3. Kapitel

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Die Nacht war von jeher Kens Zeit gewesen, schon in jenen Tagen, als er noch im Heim wohnte, dort, wo man tagsüber nie allein sein konnte. Dort hatte er sich angewöhnt, nachts aufzustehen, sich an das vergitterte Fenster zu stellen und von einem Leben in Freiheit zu träumen. Und die Nacht war seine Zeit geblieben, als Darius, den er selten Onkel nannte, ihn in die Toskana geholt und ihm eine neue Heimat gegeben hatte. In jener ersten Zeit auf Darius’ Paradiso, als Ken alles und jeder fremd war, hatte er sich regelmäßig nachts aus dem Haus geschlichen, um seinen privaten Vergnügungen nachzugehen, und diese Gewohnheit ließ sich nicht mehr ausrotten.

Glücklicherweise schlief er in seinem eigenen Zelt – ein Geschenk Peters –, und so hatte Ken keine Mühe, in der Dunkelheit ungesehen und ungehört aufzustehen. Wie damals in den ersten Tagen auf dem Paradiso wusste er nicht wohin, aber jetzt stahl er sich nicht aus Verzweiflung hinaus, sondern aus Neugier und dem wohl immer ungestillt bleibenden Drang nach gitter- und grenzenloser Freiheit, die sich nirgendwo anders als unter der Weite des Sternenhimmels finden ließ.

Zuerst wählte er den Weg zum Fluss, kletterte vorsichtig über die vom Mond schwach beleuchteten Felsen zum dunklen Wasser hinab, wo er sich ans Ufer kauerte und auf die Geräusche der Nacht lauschte: das Rauschen der kleinen Stromschnellen, das Klatschen, mit dem ein springender Fisch wieder im Wasser landete, das Kläffen eines Hundes in der Ferne.

Doch bald wurde es dem Jungen zu langweilig, immer an der gleichen Stelle zu hocken, und er watete ins Wasser hinein, überrascht von der Angst, die ihn überfiel, als ihm klar wurde, dass er jetzt in der Finsternis nicht sehen konnte, was sich am Boden des Flusses abspielte. Gab es Krebse hier oder bissige Fische? Er würde Peter fragen müssen; Peter wusste alles und würde ihm vermutlich nicht nur seine Frage beantworten, sondern einen mindestens einstündigen Vortrag über die diversen Arten der Krebse und ihre Lebensgewohnheiten anschließen.

Der Gedanke an den ruhigen Peter gab Ken seine Sicherheit zurück, und er stapfte weiter hinaus zu einem Felsen, an den er sich vom Nachmittag her nicht erinnern konnte. Vielleicht hatte der Fluss einen Stein bewegt oder hölzernes Treibgut aufgestellt?

»Was zum Teufel machst du hier?«

Als der Fels sprach, sprang Ken so rasch zurück, dass er auf den algenbewachsenen Steinen den Halt verlor und in das noch immer lauwarme Flusswasser stürzte.

Im nächsten Moment riss ihn eine starke Hand hoch; eine zweite Hand packte sein triefendes Shirt, dass es ihn würgte: »Verdammt, spionierst du mir nach?! Haben die dich geschickt mir nachzuspionieren?! Mach’s Maul auf, Junge!«

Der Mann schüttelte ihn, und Ken wusste nicht mehr, als dass es dieser bärtige Typ mit dem idiotischen Namen Angel war. Der Kerl, mit dem Darius das Rennen fahren wollte!

»Ich … Mir war heiß … Ich konnte nicht schlafen …« Was hätte Ken anderes antworten sollen; seine Sehnsucht nach den Sternen und der Freiheit ließ sich nicht in Worte fassen, zumindest von ihm nicht. Ein Hustenanfall, bei dem er das verschluckte Wasser ausspie, in Angels zorniges Gesicht, rettete ihn; fluchend ließ der Kajakfahrer ihn los, doch Ken war nicht sicher, ob das bedeutete, dass er zum Ufer zurückkehren durfte.

»Wenn du mir nachschnüffelst, du Ratte, wenn ich rausfinden sollte, dass du mir nachspionierst, dann kassierst du ne Tracht Prügel, die …!« Zu Kens Überraschung brach der Mann die halblaut gezischte Schimpfkanonade mitten im Satz ab, fuhr sich übers Gesicht.

»Na los, verschwinde! Zieh Leine, verpiss dich, was immer, aber lass mich in Ruh, kapiert?!«

Ken kapierte gar nichts, außer dass es höchste Zeit war, vor diesem Ausgeflippten die Flucht zu ergreifen. Er patschte durch das Wasser zurück, stürzte erneut in seiner Hast, gelangte nass und tropfend ans Ufer, lief auf allen vieren die flachen, als Bootsslip dienenden Felsen hoch, rannte zu der Bude des Kajakverleihs, in deren schwarzen Schatten er sich niederkauerte, um den Mann zu beobachten, der im Fluss stehen geblieben war, reglos, wie ein Monument aus Stein.

Hatte er, Ken, ihn beim Angeln gestört? Er erinnerte sich von der Toskana her, dass manche Fische nachts besonders gut anbissen. Zwar hatte Ken keine Angel bemerkt, aber schließlich war es dunkel, und möglicherweise hatte der Mann die Rute zwischen ein paar Steine geklemmt, um sie nicht dauernd halten zu müssen. Und dass Fischer äußerst unwirsch reagierten, wenn man ihnen ins Gehege kam und den Fang verdarb, auch das kannte Ken von der Toskana her zur Genüge. Oder – konnte es sein, dass der Kajakfahrer auf jemanden wartete, so wie er jetzt zum Ufer hinüberblickte, nicht zu Ken, sondern auf eine Stelle weiter flussaufwärts?

Ken verlor das Interesse daran, den Mann zu beobachten, der nichts tat, außer im Wasser zu stehen, schlenderte über den nächtlichen Platz davon, amüsierte sich darüber, die Menschen in ihren Wohnwagen schnarchen und schnaufen zu hören, fühlte ab und an eine Fledermaus vorbeiflattern, auf der Jagd nach Insekten. Ohne es zu merken, wanderte er bis fast zur Schranke, wo er zu dem Berg auf der anderen Seite der Straße hinaufblickte, Richtung Vieux Vallon, zu der kleinen Ruine, die ihm schon bei Tag aufgefallen war. Sollte er hinaufsteigen? Wie weit würde es sein, eine halbe Stunde Weg, eine Stunde? Während der Junge, den Kopf in den Nacken gelegt, darüber nachgrübelte, schien ihm, als blitze oben auf der Burg kurz ein Licht auf. Ein Landstreicher, der sich dort einnistete? Kens vage Idee, nach Vieux Vallon zu gehen, wurde zum festen Entschluss. Morgen. Morgen Nacht würde er auf den Berg steigen und die Ruine untersuchen! Die Aussicht auf das Abenteuer stimmte ihn fröhlich, und er kehrte in sein Zelt zurück, um trockene Sachen anzuziehen.

»Warum begleitet Ken uns nicht? Darius ist sein Onkel!«, wütete Claudia. »Sollte er nicht wenigstens ein minimales Interesse daran zeigen, ihn zu suchen?!«

Peter schwieg eine Weile, konzentrierte sich darauf, die richtige Straße nach Norden zu finden. »Er will nicht wahrhaben, dass Darius etwas zugestoßen sein könnte«, sagte er endlich, ohne Claudia anzusehen. »Darius ist sein einziger lebender Verwandter. Der Gedanke, ihn womöglich zu verlieren, muss für den Jungen unerträglich sein …«

Schweigend fuhren sie durch eine Landschaft aus Feldern und buschbestandenen Wiesen, ohne irgendetwas von einem Fluss zu sehen. »Malerisch und romantisch?« Claudia murrte erneut. »Ich merke nichts davon! Sie etwa?«

»Die Plätze, von denen Paula sprach, liegen mehr am Oberlauf. Besonders St-Maurice-d’Ibie soll ein wunderhübsches Städtchen sein.«

Claudia sagte nichts mehr. Peters frühere Bemerkung, dass Ken nicht akzeptieren wolle, dass Darius etwas zugestoßen sein könne, hatte sie mehr verstört, als sie zeigte. Ging es ihr nicht ebenso wie dem Jungen? Darius … So anders als alle Männer, die sie vor ihm gekannt hatte. Kein Mann, der Geld oder Ruhm hinterherjagte, aber erst recht keiner, der von einem bescheidenen, beschaulichen Familienglück träumte. Was Darius wollte, war das Leben pur. Wie die junge Albine in Zolas Roman Die Sünde des Abbé Mouret … Und das Paradiso, Darius’ Landhaus mit Pferdezucht und Olivenhainen, war sein und Claudias gemeinsames Zolasches Paradou … Der verzauberte Garten der ungestörten Liebe … Unglücklicherweise musste Claudia daran denken, dass Zolas Geschichte tragisch endete …

Nach Bouret bog Peter auf eine kleinere Straße ab; wenig später überquerten sie die Ibie, die in dieser Dürreperiode nur aus einigen grünlichen Teichen in einem ansonsten ausgetrockneten Bett aus hell gleißenden Steinen bestand. Doch wenigstens verließen sie jetzt die landwirtschaftlich genutzte Gegend; einsame, menschenleere, mit dichtem Buschwald bewachsene Hügel und Anhöhen säumten nun die Straße, die sich neben dem Flussbett dahinschlängelte. Ja, hier bot die Ibie endlich Motive für einen Maler, und Claudia begann, nach Darius’ Range Rover Ausschau zu halten, der mit seinem auf das Dach montierten Pferdeschädelskelett kaum zu übersehen sein dürfte, sofern er nicht tief im Gestrüpp steckte.

»Dort!« Sie wies auf eine Baumgruppe, in deren Schatten fünf oder sechs Wagen parkten. »Was ist dort los?«

»Vielleicht gibt’s ein Restaurant?« Rasch hielt Peter an, doch ein Gebäude ließ sich nirgendwo entdecken. Sie folgten den Stimmen, die vom Fluss her kamen, Rufe und Kinderlachen, und entdeckten zu ihrer Überraschung zwei große, überaus klare Tümpel im Flussbett, die Einheimischen und ortskundigen Touristen als Badepools dienten.

»Moment!« Claudia zückte sofort Darius’ Foto, begnügte sich nicht damit, es dem Pärchen zu zeigen, das am Rand des einen Tümpels auf den heißen, ausgebleichten Steinen die Sonne genoss, sondern watete sogar ins Wasser, um das Bild einem dicken Mann zu präsentieren, der mit seinen zwei rothaarigen Sprösslingen Ball spielte und bedauernd den Kopf schüttelte. Nein, den Mann kannte er nicht, hatte ihn nie gesehen.

»Warum suchen Sie ihn?« Der Junge, Peter schätzte ihn auf sechzehn, siebzehn, war von sich aus näher gekommen, ein hagerer Teenager in schwarzen Badeshorts, mit unfreundlicher Miene, der ausgezeichnet Deutsch sprach, jedoch mit ausgeprägtem französischen Akzent. An seinem linken Ohr funkelte ein goldener Ring in Form einer zusammengerollten Schlange.

Peter erklärte, dass sie sich mit Darius in Vallon hatten treffen wollen, der Freund aber nicht auffindbar war.

»Er ist verschwunden?« Irgendetwas flackerte in den Augen des Jungen auf, was Peter nicht einzuordnen wusste: Unruhe, möglicherweise – Furcht?

»Hast du ihn gesehen, diesen Mann, hier oder woanders?«, fragte der Archäologe rasch.

»Nein, wieso?«, schnappte der Junge, als habe Peter ihn beleidigt, und ehe weitere Fragen folgen konnten, rannte er zu dem Tümpel zurück, stürzte sich hinein, kraulte fort.

Peter sprintete um den natürlichen Pool herum, doch zu langsam! Als er die gegenüberliegende Seite erreichte, war der Junge längst aus dem Wasser gestiegen und wieselflink im Gebüsch verschwunden.

In St-Maurice läutete die Uhr der Kirche gerade die Mittagsstunde ein. Aus den rötlich-beigefarbenen Häusern drang kein Laut; die der Hitze wegen fast überall geschlossenen Fensterläden und die verlassenen Straßen verliehen dem Ort die Atmosphäre einer Geisterstadt. Peter parkte im Schatten zweier riesiger Platanen; als er die Autotür öffnete, schlug ihm die Hitze entgegen wie eine Woge aus Feuer, und er wünschte sich augenblicklich an die Flusstümpel zurück.

Stumm gingen er und Claudia nebeneinander her, blickten zwischen Häusern hindurch in enge, winkelige Gässchen, wo üppig wuchernde rote Geranien und Oleander Hauseingänge und Fenster schmückten, und Claudia sah diesen Ort, der wirkte wie aus einer vergessenen Welt, mit Darius’ Augen. Sie konnte sich vorstellen, wie Darius hier seine Staffelei auspackte und zu malen begann, berauscht von den ausgeblassten Farben der rauen Steine, die sich so mühelos in die Natur einfügten, der sie entnommen waren.

Nach und nach liefen Peter und Claudia den ganzen Ort ab, ohne jemandem zu begegnen mit Ausnahme zweier barfüßiger Mädchen, die mit ihren Puppen in einem schattigen Eck hockten und den Fremden keinerlei Aufmerksamkeit schenkten. Trotz allem und obwohl sie nirgends Darius’ Auto entdecken konnte, fühlte Claudia, wie der stille Friede dieser Sträßchen allmählich auf sie übergriff. Neben Peter wanderte sie aus dem Ort hinaus zum Flussbett, das hier so staubtrocken war, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass es überhaupt jemals Wasser führte. Die weißen Kiesel, dick wie mehlige Brotlaibe, reflektierten Hitze und Helligkeit, sodass es in den Augen schmerzte und sich Peters Brille mit den phototropen Gläsern fast schwarz färbte.

Sie standen auf der Brücke, blickten das Tal hinab.

»Hier ist er nicht«, sagte Claudia endlich.

»Besser wir fragen noch jemanden, um sicherzugehen«, murmelte Peter, doch Claudia fühlte, dass auch er nicht an einen Erfolg glaubte.

In einer unscheinbaren Bar bestellten sie belegte Brote und erfuhren von dem Besitzer zunächst nicht mehr, als sie ohnehin schon wussten: Ja, Darius war in St-Maurice gewesen, nicht nur einmal, sondern zu verschiedenen Tageszeiten, um unterschiedliche Lichtstimmungen einzufangen.

»Kam er«, Claudia musste sich räuspern, »kam er – allein?«

»Non, Madame. Nein, er war nicht allein. Beim letzten Mal nicht.« Der Gastwirt grinste bei der Erinnerung. »Er hatte eine Frau dabei.«

Vor Claudias Augen begannen sich die Konturen der Gaststube aufzulösen. »Eine Frau?«

»Wie sah sie aus?«, hörte sie wie durch Nebel Peters Frage.

»Sie war …«, der Wirt führte drei Finger an den Mund, küsste sie enthusiastisch. »Sie war schön, blond und«, er zwinkerte Peter zu, »mit, äh, fantastischen Kurven.«

»Eine Französin?«

Nein, sagte der Wirt, er vermute, sie sei Ausländerin gewesen. Sie habe zwar ausgezeichnet und fast akzentfrei gesprochen, aber der Mann habe mit ihr Deutsch geredet.

Claudia ließ ihr Brot stehen, und Peter zahlte.

Lange Zeit fuhren sie auf der schmalen Straße zurück, beide gleichermaßen stumm, bis Peter, ohne den Blick von dem Asphaltband zu nehmen, langsam zusammenfasste: »Wir wissen jetzt, dass Darius seit einer Woche verschwunden ist. Also ab der Zeit, ab der Sie ihn nicht mehr erreichen konnten. Dieser Junge an der Ibie hat ihn gesehen, denke ich, aber den werden wir so schnell nicht wieder finden. Dank der Aussage des Moralhüters auf dem Campingplatz wissen wir außerdem, dass Darius mit seinem Kumpan Angel heftigen Streit hatte. Ich vermute, dass diese Auseinandersetzungen den Anlass dafür bildeten, dass er in der Gegend herumfuhr und malte, anstatt mit den Freunden zu trainieren …«

»Und wir wissen, dass er mit Paula in St-Maurice war.« Claudias Stimme klang dünn, und aus den Augenwinkeln sah Peter, wie sich die Hände der Ärztin auf ihrem Schoß verkrampften.

»Das hat wenig zu bedeuten«, meinte der Archäologe beschwichtigend. »Darius ist sowohl mit Arni als auch mit Paula befreundet.« Er zögerte. »Allmählich frage ich mich nur, ob …« Peter vollendete den Satz nicht, und Claudia hatte das Gefühl, er unterdrücke einen Seufzer. Sie starrte ihn an, und das Begreifen erschütterte sie zutiefst.

»Sie denken nicht etwa, dass Darius – Schlimmeres zugestoßen sein könne als ein Unfall?«

Peter blickte stur geradeaus. »Vielleicht sollten wir zumindest für jede Möglichkeit offen sein.«

Trotz der Schmerzen in seinem Bein hatte Darius es geschafft, sich im hintersten Teil der Höhle auf eine kleine Plattform hinaufzuhieven. Nur wenig über ihm führte eine Felsspalte ins Dunkel; ihren Eingang zierte ein fragiler Vorhang aus weißen Tropfsteinen, so zart, dass man jeden Moment erwartete, ihn wehen zu sehen. Den Rucksack mit den Vorräten auf dem Rücken, fragte sich Darius, wohin die Spalte führen mochte – eventuell zu einem Ausgang?

Ihn befiel unerwartete Furcht bei der Vorstellung, sein bisheriges Gefängnis zu verlassen, das unerbittlich, aber zumindest einigermaßen hell war. Vielleicht weil hier wenigstens die entfernte Möglichkeit bestand, dass ihn ein Wanderer oder Jäger entdeckte, während er sich tief im Dunkel des Berges womöglich verirren und elend verhungern könnte, worauf sich sein Skelett mit dekorativen Kalkkristallen überziehen würde?

Darius zwang sich, realistisch zu denken. Konnte er die Spalte überhaupt erreichen? Und wenn, so musste er ja nicht weitergehen, als er wagte! Seine Augen entschieden für ihn, während sie nach einem gangbaren Weg nach oben suchten und schließlich eine Art Serpentinenstrecke auswählten, auf der genug Stalagmiten die Möglichkeit boten, sich festzuhalten.

Trotz der Kühle in der Höhle geriet er rasch ins Schwitzen, als er sich mühsam nach oben kämpfte, fast nur auf die Kraft seiner Arme vertrauend, bis er sich endlich bäuchlings in die Spalte ziehen konnte und gleich ein paar Meter weiter ins Dunkel robbte, um nicht wieder abzurutschen.

Er warf einen letzten Blick zurück in die weite, hellere Höhle, stand dann vorsichtig auf, zog den Kopf ein – die Spalte war extrem niedrig – und hinkte in den Berg hinein, das Schlüsselanhänger-Lämpchen in der Rechten, das er immer wieder kurz anschaltete, um sicherzugehen, dass er nicht irgendwo abstürzen konnte.

Der Gang führte relativ eben dahin; Darius wäre es lieber gewesen, er würde ihn aufwärts leiten, Richtung Erdoberfläche, doch tröstete er sich mit dem Gedanken, dass das ja noch kommen konnte. Immer wieder, wenn er die Lampe ausknipste, stieß er sich plötzlich an riesigen Stalaktiten, die von der Decke herabhingen und zwischen denen er sich manchmal regelrecht hindurchzwängen musste. Und schon bald merkte er an der Feuchtigkeit der Wände, dass die Tropfsteine hier fleißig wuchsen. Als er endlich, an einem relativ trockenen Platz, eine Pause einlegte, hatte er das Gefühl, tagelang dahingewandert zu sein, doch als er auf die Uhr blickte, waren gerade einmal zwei Stunden verstrichen.

Sein Knöchel schmerzte höllisch. Um die Batterie der Lampe zu schonen, hockte er ohne Licht im Dunkeln. Hier war es kälter, viel kälter als in der großen Grotte, in die durch das Loch in der Decke ein wenig von der sonnenwarmen Außenluft sickern konnte. Je länger Darius saß, desto erschöpfter fühlte er sich und desto mehr fror er. Wenn ich Pinguin hätte spielen wollen, hätte ich einen Arktis-Urlaub gebucht!, dachte er wütend. Und schrie in einem Anfall von Verzweiflung gegen die stummen Wände an: »Das hier ist Südfrankreich, verdammt! Ich will Sonne!«

Aus der Finsternis hallten seine Worte zurück, trafen auf eine andere Wand, das Echo schwoll an, in einem Maß, wie er es sich nie hatte vorstellen können. »Sonne, Sonne, Sonne!« wisperten, riefen, brüllten, donnerten die Felsen um ihn herum. Und von irgendwoher begann ein Dröhnen, als brause ein LKW über seinen Kopf hinweg, ein Ächzen folgte – der Urgeist des Berges erwachte wohl und streckte seine noch schlafschweren, alten Glieder. Und dann, in nächster Nähe, ein Rumpeln und Krachen! Entsetzt knipste Darius das Licht an, sah ein gewaltiges Stück Decke herunterbrechen, Felsbrocken mitreißend, eine riesige Staubwolke hüllte alles in Dunst. Er rappelte sich hoch, rannte, während sich um ihn herum der Krach vertausendfachte wie das Echo seiner Worte vorhin. Etwas traf seinen Arm, er verlor die Lampe, ihr Licht verlosch, Darius hustete und hustete, floh weiter. Bis er nicht mehr konnte, erschöpft zu Boden sank.

Schon als Claudia am Campingplatz eintraf, dachte Peter, dass sie nicht allein zur Polizei hätte fahren sollen. Aber sie hatte selbst darauf bestanden, in einem ihrer Ich-brauche-keinen-männlichen-Beistand-Anfälle.

»Wie eine Geisteskranke haben die mich dort behandelt!«, fauchte sie. »Die denken alle, ich laufe Darius nach! Dass er vor mir, seiner eifersüchtigen Partnerin, ausgerissen ist, mit irgendeinem Flittchen!«

»Haben die Polizisten das gesagt?«

»Natürlich nicht so klar heraus, dazu sind die viel zu feige!« Wütend knallte Claudia ihre Gucci-Tasche auf den Tisch. »Kein Hinweis auf ein Verbrechen, keine Veranlassung zu einer Suchaktion. So einfach ist das für die. Basta!«

Es war ein weiter Weg hinauf zu der alten Burg von Vallon, doch Ken hatte in seinen nächtlichen Wanderungen nie lange oder anstrengende Märsche gescheut. Vermutlich war ein simpler Landstreicher für den Lichtschein am Vortag verantwortlich gewesen, hatte in der verfallenden Ruine sein Abendessen gebrutzelt und sich einen gemütlichen Platz zum Schlafen hergerichtet; aber allein die Tatsache, dass außer ihm noch jemand in der Finsternis herumstreunte, weckte Kens Neugier.

Er ging leise, hatte schon vor seiner Zeit auf Darius’ Landgut gelernt, sich vollkommen lautlos zu bewegen. Im Heim war das überlebenswichtig gewesen, denn die Pfleger hatten jede Gelegenheit genutzt, ihn für die eine oder andere Übertretung ihrer selbst erlassenen Regeln zu prügeln, und so konnte Ken jetzt mit der Nacht verschmelzen, wie es andere Geschöpfe taten, Füchse, Katzen oder Fledermäuse.

Die grauen Ponys auf der Weide rechts witterten zu ihm herüber, ohne Laut zu geben, als fühlten sie seine Berechtigung, sich nachts hier herumzutreiben; im schwachen Mondlicht standen sie reglos, die gedrungenen Leiber dunkler als bei Tag. Ken bog nach links ab; von nun an stieg der Weg steil an, wurde schmaler, weniger gepflegt. Obwohl er niemandem begegnete, hielt Ken sich immer am bergseitigen Rand des Pfades, dort, wo er gegen Gestrüpp und Feigenbäume fast unsichtbar sein musste. Vorbei an dem letzten Hof, an einem in den Fels gehauenen Hühnergehege, dessen Bewohner sich, wie zuvor die Ponys, kaum rührten, als der Junge wie ein Schatten an ihnen vorbeiglitt, und schon schluckte ihn die Finsternis der Ruine. Hier war der Weg wieder eben und mit großen, unregelmäßigen Steinplatten gepflastert; links und rechts reckten sich Mauern ohne Dächer in die Höhe, hier und da, wo die Zeit sie hatte halb einstürzen lassen, den Blick in kleine Gemächer freigebend, die jetzt, in der Nacht, sämtlich stockdunkel waren, bis auf …! Ken ging, wenn möglich, noch vorsichtiger als zuvor.

Eine leichte Brise trug den Geruch des Rauchs heran, und ein schwacher orangefarbener Schimmer verriet das Feuer, bevor der Junge es sehen konnte. Er war also wieder da, der Landstreicher, oder zumindest wieder da gewesen! Ken verspürte etwas wie Jagdfieber, als er für einen Moment stehen blieb, jeden Muskel angespannt. Endlich schlich er weiter, direkt an der Mauer entlang, registrierte, dass sich der Brandgeruch verstärkte.

Der Junge spähte durch einen Mauerdurchbruch, hätte fast gehustet, als ihm der beißende Rauch direkt in Augen und Nase drang, sah dann, was er zu sehen erwartet hatte: In einem quadratischen Gemach, aus dessen rauen Mauern allerlei Gestrüpp spross, brannte ein winziges Feuer. Davor saß, Ken den Rücken zuwendend, eine einsame Gestalt. Der Junge starrte fasziniert auf den Fremden, ohne sich bemerkbar zu machen, und fühlte sich dennoch mit ihm verbunden, einfach dadurch, dass sie beide Schattenwanderer waren, zu welchen Zielen auch immer.

Neben dem Feuer eine Flasche; vielleicht war der Vagabund bereits dabei, sich voll laufen zu lassen, oder vielleicht hatte er längst so tüchtig gebechert, dass er lediglich reglos in die Flammen stieren konnte, wie er das jetzt tat.

Doch plötzlich wandte der Fremde den Kopf, um nach einem Stock zu greifen, mit dem er das Feuer schürte, und Ken erkannte, dass der Straßennomade ein Junge war, wie er selbst! Ein, zwei Jahre älter vielleicht, aber mehr nicht. Ein französischer Jugendlicher, mit einem hageren Gesicht, dessen Unebenheiten durch das Flackern der Flammen betont wurden.

Vorsichtig ließ Ken sich auf den Boden neben der Mauer nieder, lehnte den Kopf an die Steine, um nachzudenken. Sollte er sich zeigen? Wie würde der andere reagieren, wenn man ihn störte? Wütend? Würde er einen Stein nach dem Lauscher werfen, die Flasche oder ein brennendes Holzscheit? Möglicherweise war er sogar bewaffnet! Mit einem Messer oder einer Pistole … Ken musste plötzlich daran denken, dass Darius in dieser Gegend verschwunden war und niemand wusste, ob der Onkel überhaupt noch lebte …

Nein, wahrscheinlich war es besser, nicht merken zu lassen, dass man den anderen beobachtet hatte. Dennoch blieb Ken lange, wo er war, um die seltsame Kameradschaft zwischen sich und dem Franzosen, der nichts von seiner Anwesenheit ahnte, auszukosten, ehe er sich ebenso lautlos, wie er gekommen war, wieder fortstahl.

»Wo hat Darius sonst noch gemalt, außer an der Ibie?«, insistierte Peter.

Arni und Angel waren von ihrer Tour zurück; müde und ausgepowert, schienen sie lediglich Interesse für die Flasche Vin de Pays auf dem Campingtisch vor Angels Zelt aufzubringen, keinesfalls aber für neugierige Fragen. Die blonde Paula rückte ihren Stuhl von der Anti-Mücken-Fackel fort, weil ihr, wie sie behauptete, der Citronella-Duft Kopfschmerzen verursache. Vielleicht waren es aber eher Claudias Hassblicke, denen sie sich zu entziehen versuchte.

»Wo schon?!«, knurrte Arni endlich. »Auf der Burg. Und in der Schlucht, natürlich.«

»Wie ist er dort hingekommen?«

»Mit dem Wagen. Und von der Panoramastraße runtergeklettert«, sagte Paula. »Aber das geht nicht überall.«

»Mit dem Boot kann er nicht weg sein«, dachte Peter laut. »Das liegt ja bei seinem Zelt.« Er fragte, was er schon x-mal gefragt hatte: »An jenem letzten Samstagabend, als er mit Ihnen im Squale Bleu war, hat er da gar nichts davon erwähnt, dass er am nächsten Tag einen Ausflug unternehmen wollte?«

»Hab ich Ihnen schon tausendmal erklärt: Nein!«, schnaubte Angel. »Und am Morgen, als ich aufgewacht bin, war er fort!«

»Hatten Sie Streit, am Abend vorher?«

»Selbst wenn ginge es euch einen Scheißdreck an!«

Peter schwieg eine Weile. »Theoretisch könnte Darius also auch bereits in der Nacht verschwunden sein?«

»Wie denn?! Sein Wagen stand neben dem Zelt. Soll er ihn über die Schranke getragen haben?!« Angels Zorn war offensichtlich, doch Peter kümmerte sich nicht darum.

»Die Schranke öffnet um sieben«, murmelte der Archäologe. »Folglich kann Darius nicht früher aufgebrochen sein. – Was haben Sie gemacht, als Sie feststellten, dass Ihr Trainingspartner weg war?«

»Trainiert, wie immer!«

»Wir betreiben keinen Kindergarten!«, blaffte Arni dazwischen. »Bei uns kann jeder kommen und gehen, wie’s seinem gestörten Hirn beliebt. Und überhaupt: Was soll die Fragerei? Wird ein Archäologe in Italien so miserabel bezahlt, dass er nebenbei als Privatdetektiv jobben muss?!«

Nackt drehte sich Farida vor dem hohen Schlafzimmerspiegel. Das dünne, rote Kleid lag neben ihr auf dem Boden, und sie strich vorsichtig über die zarte Haut ihres Bauchs, bildete sich ein, eine minimale Wölbung wahrzunehmen. Frost- und Hitzeschauer überliefen sie in unregelmäßigen Rhythmen; ihr Körper reagierte genauso unschlüssig und wechselhaft wie ihr Kopf. Sie hätte gern einen dieser Tests gekauft, aber wo? Gaston kannte jeden in Vallon; eine Apotheke aufzusuchen war zu riskant! Vielleicht könnte Alain …? Nein, sie durfte ihm nichts verraten, jetzt noch nicht. Nicht, bevor sie sicher sein konnte, wie er … Farida sank auf die Kante des ungemachten Betts und stützte den Kopf in die Hände. Sie wusste selbst nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass – oder besser nicht. Bisher hatte sie immer gedacht, das Leben im bled, in dem entlegenen Dorf in Algerien, wo sie täglich die Ziegen ins oued getrieben hatte, sei allzu schwer, aber mittlerweile hatte sie begriffen, dass auch Frankreich keineswegs das Paradies war, für das sie es anfangs gehalten hatte …

Kader war es gewesen, ihr ältester Cousin, der Farida aus dem bled fortgeholt hatte. Sie sah ihn und sich an Bord des Schiffs, an der rostigen Reling.

»Ich bin froh, dass du mitkommst, Farida. Urdia schafft die Arbeit nicht mehr allein, jetzt, mit den Zwillingen.«

»Ich tu’s gern, Cousin Kader. Ich werde deiner Frau helfen, so gut ich kann.« Farida log nicht, doch während sie den Blick starr auf den Horizont gerichtet hielt, fühlte sie neben der Freude über das neue Leben, das sie in Europa erwartete, unbestimmte Angst. Nie zuvor war sie so weit draußen auf dem Meer gewesen. Und wenn das Schiff unterging …?

Die Türklingel! Eilig streifte Farida sich das Kleid über.

»Mach auf! C’est moi! Ich bin’s!«

Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, um sicherzugehen, dass der Mann ihrem Gesicht nichts ansehen würde, und öffnete die Tür.

»Gaston war an der Tankstelle! Er fährt nach Montélimar, kommt bestimmt nicht vor Abend heim!« Alain drängte die junge Frau in den Flur zurück, schloss die Tür mit dem Fuß, und zog Farida an sich. Sein Gesicht, länglich wie das eines Pferdes, erinnerte sie an Kader; vielleicht hatte sich deshalb alles so entwickelt?

»Bist du sicher? Gaston hat mir nichts davon gesagt.«

»Aber ja, ganz sicher!« Und schon begann Alain, den Reißverschluss seines Blaumanns aufzuzerren.

Als Darius erwachte, war die Welt schwarz, und im ersten Moment meinte er, es müsse gegen Mitternacht sein. Bis ihm klar wurde, dass die Finsternis um ihn herum nichts mit der Tageszeit zu tun hatte. Er lag in diesem beschissenen Berg, und das niedergegangene Geröll hatte ihm nicht bloß die Lampe geraubt, sondern zudem den Rückweg zur Höhle abgeschnitten! Über dem Analysieren seiner absolut nicht viel versprechenden Situation musste Darius eingeschlafen sein. Gnädiger Schlaf, in dem er von saftigen toskanischen Wiesen träumte, einem Paradies, das er vermutlich nie wieder betreten würde! Sein Knöchel protestierte, als er aufstand, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Langsam tastete er sich vorwärts, bis auf einmal …! Starr blieb er stehen, ließ sich auf die Knie nieder, fühlte ins Dunkel. »Verdammt, verdammt!« Er flüsterte nur, zu entsetzt selbst für zornige Schreie. Direkt vor ihm endete die Spalte, in der er sich befand, an einer senkrecht abfallenden Klippe, an einem Abgrund, von dem er nicht wusste, wie tief er war, da er ja nichts sehen konnte.

Im Dunkeln sterben! Der Gedanke, einfach hocken zu bleiben, bis er verdurstete oder verhungerte, war Darius unerträglich. Noch immer hatte er seinen Rucksack und sein Schweizer Messer. Wenn keine andere Möglichkeit bleiben sollte, würde er auf jeden Fall den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen, dem Schicksal ein letztes Spiel verderben, so wie er auch sein Leben stets selbst gestaltet hatte! Gedanken an Claudia drängten sich auf, die Frau, die seit einem Jahr dieses Leben mit ihm teilte. Claudia … Und vor ihr die verführerische Lydia … Noch früher Raffaela, seine italienische Ehefrau, die tödlich verunglückt war, vor unendlich langer Zeit … Und all die Frauen zwischen Raffaela und Lydia, die er hatte kennen und lieben dürfen …

Trotzig riss Darius sich zusammen. Noch war er nicht tot! Noch stand nicht fest, dass er nie wieder eine Frau in den Armen halten würde! Er kontrollierte, ob der Rucksack ordentlich geschlossen war, durfte nicht riskieren, seine wenigen Vorräte zu verlieren, schöpfte mit einer Hand Wasser aus einem ertasteten, flachen Becken, um zu trinken, und kehrte zu dem Felssturz zurück, um ihn zu untersuchen. Seine Hände fühlten Stein, unnachgiebigen Fels, dazwischen Schutt und Geröll. Er räumte mit den Händen, verzweifelt, Stunde um Stunde, wie ihm schien, in der Hoffnung, wenigstens die Lampe zu finden, doch vergebens. Erschöpft, mit blutenden Fingern und dem Geschmack von Kalkstein auf der Zunge, sank er in sich zusammen, erfrischte sich erneut aus seiner Pfütze und glaubte, es keinen Moment länger ohne Tageslicht und sei es noch so gewitterverhangen dunkel aushalten zu können!

Quatsch!, rief er sich selbst energisch zur Ordnung. Du hältst es aus, weil du es aushalten musst! Stell dich nicht an wie ein weichgekochtes Weichei! Auf allen vieren krabbelte er zurück zu der Stelle, wo er den Abgrund gefühlt hatte. Darius legte sich vor die Kante, da, wo die Felsspalte aufhörte, tastete erneut nach unten. Senkrechter Felsabfall. Aber wie weit? Stein! Er musste einen Stein hinunterfallen lassen! Darius stand auf – sein Knöchel verfluchte ihn erneut, was er ignorierte – und kehrte zu dem Felssturz zurück, wo er eine Handvoll verschieden großer Steine in die Hosentaschen schob.

Am Abgrund legte Darius sich wieder hin, ließ den ersten Brocken fallen. Der Aufschlag kam fast sofort. Darius triumphierte. Es konnte nicht tief sein! Doch was genau bedeutete nicht tief? Zwei Meter? Fünf? Und unten vielleicht ein Nagelbett aus feinen, spitzen Stalagmiten, begierig, ihn aufzuspießen wie ein Hähnchen für den Grill? Oder vielleicht war dieser Stein nur auf einen winzigen Vorsprung gefallen, neben dem es fünfzig Meter abwärts ging, direkt in den brodelnden Höllenpfuhl?

Nun ließ Darius systematisch Steine fallen, warf auch ein paar weiter fort, um abzuschätzen, was sich vor und unter ihm befand. Nein, da war nichts sonderlich Tiefes. Stattdessen solider Boden, nicht zu weit entfernt.

Außerdem, sagte sich Darius, hab ich sowieso nicht viele Wahlmöglichkeiten. Er atmete tief durch, drehte sich so herum, dass er nun mit den Füßen in Richtung Abgrund lag, sagte laut und deutlich: »Also, eigentlich, hab ich ein verdammt feines Leben gehabt!«, und schob sich rückwärts in die Dunkelheit, bis er ins Rutschen geriet, sich nirgends mehr festhalten konnte.

Es war Peters Idee, sich die Skizzenblöcke in Darius’ Zelt genauer anzusehen. Vielleicht ließ sich ein Hinweis darauf finden, wohin Darius am liebsten zum Malen gefahren war.

Arni und Paula, die offenbar mehr Zeit bei Angel am Campingplatz zubrachten als in ihrem eigenen Haus, spielten mit ihrem mürrischen Kumpel auf der rissigen Erde unter den Brotbäumen eine selbst erfundene Pétanque-Version, während Claudia und Peter die Box mit Darius’ persönlichem Eigentum aus dem Zelt holten und sich damit auf ihre Parzelle zurückzogen.

»Ihr verrennt euch total! Nicht mal die Polizei glaubt, dass Darius was passiert ist!«, rief Paula, die silberglänzende Kugel in der Hand, zu ihnen hinüber. Unwillig runzelte Claudia die Stirn, und Peter warf ihr einen besorgten Blick zu, ehe er den ersten Aquarellblock aufschlug. Eine schnell hingeworfene Skizze auf dem obersten Blatt, das Motiv leicht zu erkennen: Der Blick vom Campingplatz auf den Fluss, in warmer Abendsonne. Ein krummer Baum – war es eine Weide? – im Vordergrund. Kleine Wellen mit tanzenden Lichtpunkten kräuselten die Wasser der Ardèche bei den Felsen, fast meinte man, das unaufhörliche Murmeln zu hören. Wenn Darius über die Ausdauer verfügt hätte, sein Kunststudium zu Ende zu führen, hätte er tatsächlich ein ausgezeichneter Maler werden können, dachte Peter.

Auch die nächsten Bilder zeigten den Fluss, oft als grünes oder türkisfarbenes Schmuckband tief unter dem Betrachter liegend; der Maler musste in der Nähe der Corniche, der am Rande der Schlucht entlangführenden Straße, gestanden haben. Und dann, plötzlich, Motivwechsel: Paula! Im knappen Bikini, eine Hand gegen einen Feigenbaum gestützt, die blonden Haare dunkel von Nässe, ein Handtuch in der Hand, das sie hielt oder das Darius so gemalt hatte, als handele es sich nicht um ein gewöhnliches Alltagsutensil, sondern um den transparenten Schleier einer Bauchtänzerin, dazu angetan, ihre Schönheit zu betonen. Und irgendetwas lag in Paulas Pose, etwas, das sich nicht direkt greifen ließ, aber überaus provokativ wirkte … Peter starrte so lange auf das Bild, dass Claudia misstrauisch wurde.

»Zeigen Sie her!« Sie entriss ihm den Block, ehe er umblättern konnte.

»Das ist …!« Ihr unfreiwilliger Ausruf brachte die Pétanque-Spieler herbei, die sich um ihren Stuhl versammelten. Peter, der Paula beobachtete, sah keine Spur von Verlegenheit in deren Miene. Angel pfiff anerkennend durch die Zähne. »Darius hat echt was drauf, wenn er will!«

Im nächsten Moment hatte Arni den Block in der Hand, riss die Seite heraus, zerfetzte sie vor aller Augen.

»Spinnst du?! Das ist Darius’ Kram!« Angel versuchte, ihm die Einzelteile des Blatts zu entwinden; Arni trat nach ihm, mit einer Wildheit, die Peter dem so fein wirkenden Typen nie zugetraut hätte. Angel, nach einem heiseren Aufschrei, revanchierte sich mit gleicher Münze, allerdings mit deutlich mehr Härte und besserem Ergebnis. Im nächsten Augenblick lagen die beiden am Boden und rangen miteinander.

»Ihr Idioten!« Paula griff sich die Wasserflasche auf Peters Tisch, leerte sie über die Kampfhähne aus, die fluchend auseinanderrollten. »Arni! Knallst du durch, oder was?!«

Der kurze Ausbruch von Feindseligkeit erstarb ebenso rasch, wie er aufgeflammt war, sodass Peter sich hinterher fragte, ob er ihn sich nur eingebildet habe.

»Dieser Block enthält fast ausschließlich Bilder vom Fluss«, sagte er in dem Bemühen, etwas wie Normalität herzustellen.

Paula blätterte die Seiten rasch durch, vielleicht, um mehr Porträts von sich zu finden. Claudia zeigte Peter einen anderen Block: »Zweimal die Burg. Ansonsten auch meist die Ardèche.«

»Aber diesmal nicht von oben, sondern vom Flussufer aus«, sagte Angel, der über ihre Schulter spähte. Claudia starrte auf die Signatur und das Datum unter dem letzten Bild. »Das alles muss er gemalt haben, am Tag bevor er … verschwunden ist.« Sie presste kurz die Lippen aufeinander. »Wenn er zuletzt am Fluss gemalt hat, fahren wir morgen die Ardèche runter!«

»Machen wir beim Training doch dauernd!«, knurrte Arni ärgerlich. »Was wollen Sie da finden?«

»Habt ihr überhaupt Erfahrung mit Kajaktouren?« Angel versuchte, mit seiner Kugel zu jonglieren, fing sie unter schlängelnden Verrenkungen, die denen eines Dickensschen Uriah Heep würdig gewesen wären, wieder auf. Claudia blickte Peter an. Der schüttelte den Kopf. »Dann werde ich euch führen.« Der Bärtige grinste, schleuderte die Silberkugel gegen den hölzernen Zielball, das so genannte Schweinchen. »Sonst endet eure Flussreise ja bloß in einem unfreiwilligen Badeausflug …«

Die dunklen Wasser von Vallon

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