Читать книгу Die dunklen Wasser von Vallon - Frauke Schuster - Страница 9

4. Kapitel

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Die Ruine lag still unter einem halben Mond; der junge Franzose schien in dieser Nacht nicht zu kommen. Möglicherweise hatte er das Versteck gewechselt, aus Angst vor den Bullen, die offene Feuer in einem trockenen südfranzösischen Sommer garantiert nicht guthießen. Erst recht nicht an Mistraltagen. Oder, wenn der Typ denn ein richtiger Zigeuner war, konnte er schlichtweg weitergezogen sein, an die Mittelmeerküste runter zum Beispiel, dahin, wo er noch mehr Touristen anbetteln oder beklauen konnte.

Zunächst fühlte sich Ken seltsam enttäuscht; bis ihm einfiel, dass er den verfallenden Raum nun als sein persönliches Versteck nutzen könne, was seine Laune besserte. In einem anderen Teil der Burg brach er dürre Äste aus dem überall wuchernden Gestrüpp aus Feigen und Dornensträuchern, zerrte sie als künftiges Feuerholz durch die Maueröffnung, um sie in einem Eck aufzustapeln; obwohl er in dieser Nacht keine Streichhölzer dabei hatte, konnte er für den nächsten Tag vorsorgen. Aus Darius’ Zelt könnte er eine Decke entwenden, die würde niemand vermissen, und er könnte sich Vorräte heraufschaffen, etwas zum Essen, ein paar Cola. Je mehr Ken darüber nachdachte, wie er sich einrichten wollte, umso begeisterter wurde er. Durch die Arbeit mit dem Holz war ihm warm geworden, und er setzte sich an die Stelle, wo der jugendliche Landstreicher gehockt hatte, um sein neues, geheimes Reich zu betrachten. Es würde wunderbar werden! Der Junge entdeckte sogar eine Mauernische, in der er seine Vorräte tagsüber verstecken und mit Laub und Reisig würde tarnen können, für den Fall, dass kulturinteressierte Touristen sich die Ruine anschauten. Ob der Vagabund den gemauerten Schrank auch genutzt hatte? Neugierig kniete Ken sich davor, aber innen war es zu dunkel, um etwas erkennen zu können, und hinein fassen mochte er nicht, aus Angst vor Giftschlangen und Skorpionen. Er kniff die Augen zusammen, um vielleicht doch ein wenig besser zu sehen – und im nächsten Moment fühlte er eine Hand, die seinen Haarschopf packte, ihm den Kopf brutal nach hinten riss. Und dann war etwas an seiner Kehle, etwas Kaltes, Glattes! Er wagte weder zu schreien noch sich zu bewegen.

»Tu fais quoi?«

Er konnte nicht antworten, verstand ja nicht mal die Frage, alles was er auf Französisch konnte, war …

»S’il vous plaît! Bitte!«, stieß er rau hervor und fühlte einen neuen, schmerzhaften Ruck an seinem Kopf.

»English?«, raunzte sein Peiniger. »Deutsch?«

»Deutsch.« Ken wisperte nur, hatte Angst, wenn er zu plötzlich oder zu laut sprechen würde, könne der andere erschrecken und ihm schnurstracks die Kehle durchschneiden. War das mit Darius passiert? Hatte Darius in der Ruine gemalt, und …?

Der Angreifer hielt Kens Kopf nach wie vor unangenehm weit zurückgebogen, und als der Kerl sich vorbeugte, konnte Ken sein Gesicht sehen, dasselbe hagere Jungengesicht, das er wenige Nächte zuvor beim Feuer beobachtet hatte.

»Ich hab – nichts getan«, flüsterte Ken. Die dunklen Augen des fremden Jungen forschten in seiner Miene. Endlich senkte der Vagabund die Klinge, nahm die Hand von Kens Haar.

»Setz dich dort drüben hin! An die Wand!« Sein Deutsch hatte einen starken französischen Akzent. Das Messer hielt er vor sich, in Richtung auf Kens Unterleib, und Ken gehorchte, bewegte sich langsam zur Mauer.

Der Franzose musterte ihn. »Das ist mein Platz, kapiert?«, bellte er nach einer Weile.

Ken sagte nichts.

»Was wolltest du hier?«

Schon vorher hatte Ken beschlossen, lieber nicht zu erwähnen, dass er bereits einmal nachts auf der Burg gewesen war. Er schwieg weiter.

»Rede!«, fuhr ihn der Franzose an.

Ken überlegte. »Es ist schön hier«, sagte er endlich leise. »Einsam.«

Verblüfft starrte ihn der fremde Junge an, dann begann er zu lachen. Doch es war kein vergnügtes Lachen, eher die verzweifelt-trotzige Variante, die Ken so gut von sich selbst aus seinen Tagen im Heim kannte.

»Schön!« Der Franzose warf mit einer jähen Bewegung das Messer in die Überreste der alten Feuerstelle, wo es zitternd in einem halb verkohlten Scheit stecken blieb. »Du findest es schön hier?«

Vorsichtig nickte Ken.

»Du findest es schön, weil es einsam ist …« Der andere setzte sich Ken gegenüber. »Bist du gern einsam?«

Ken wusste keine Antwort. Den größten Teil seines bisherigen Lebens war er einsam gewesen. Allerdings hatte er sich sein Leben nicht ausgesucht. Er zuckte die Achseln. Schweigend betrachteten sie einander, halb misstrauisch, halb neugierig.

»Bist du in Ferien da, mit deinen Eltern?«, fragte der Franzose nach einer Pause.

»Ich hab keine Eltern.« Ken starrte in die Asche, dachte an seine Mutter, die er gehasst hatte, weil sie ihn ins Heim abgeschoben hatte … Und über seinen Gedanken hörte er kaum, wie der andere Junge sagte: »Ich auch nicht.«

Sie schwiegen erneut, doch jetzt lastete das Schweigen nicht mehr auf ihnen, verband sie eher, und schließlich stand der fremde Junge auf und begann, aus Kens Ästen einen neuen Feuerplatz zu errichten, holte zuletzt aus seiner Jacke ein paar Zeitungsseiten, knüllte sie zusammen und zündete sie an.

»Ich heiß Luc«, rief er über die Schulter. »Und du?« Ken murmelte seinen Namen.

»Mit wem bist du hier?« Es schien Luc brennend zu interessieren, und Ken erzählte von Peter und Claudia und dass sie Freunde seines Onkels Darius waren. Zum Glück kam Luc nicht auf den Gedanken, nach dem Onkel selbst zu fragen, denn Ken war sich nicht sicher, wie viel er dem anderen anvertrauen konnte oder wollte.

»Schläfst du in der Burg?«

Luc schüttelte den Kopf, ohne zu verraten, wo er zu übernachten pflegte, und Ken dachte bei sich, dass der Franzose für einen gewöhnlichen Landstreicher zu sauber wirkte, seine Lederjacke zu teuer, genau wie der Goldring im Ohr, aber vielleicht war das Zeug ja geklaut. Aus dem Versteck, in das Ken sich nicht zu fassen getraut hatte, holte Luc zwei Flaschen panaché und eine Tüte Cracker, bot Ken großzügig an, und sie tranken mit der lauwarmen Bier-Limonade auf ihre seltsame Brüderschaft.

»Du kannst wiederkommen, wenn du willst«, sagte Luc, als Ken aufstand.

»Wann bist du wieder hier?«

Der Franzose betrachtete ihn abschätzend. »Kannst du ein Geheimnis bewahren?«

Ken nickte; in seinem Leben hatte es immer mehr Geheimnisse gegeben als Menschen, mit denen er darüber sprechen konnte.

»Ich hol dich ab, morgen um zehn, am Camping. Dann zeig ich dir ein Geheimnis.« Luc erhob sich ebenfalls und begann, die Reste des Feuers auszutreten.

Lange Zeit hatte Darius still dagesessen, an die kalte Felswand gelehnt, die er nicht einmal sehen konnte, dankbar, dass er nicht in den Tod gestürzt war. Und nicht in eine mehrere Meter tiefe Fallgrube, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Von der Miniaturhöhle, in der er nun hockte, führten, wie er gleich zu Anfang, als er heruntergerutscht war, durch Tasten ausgekundschaftet hatte, mindestens zwei ›Wege‹ fort. Welchen sollte er nehmen? Trotz sorgfältiger, selbstkasteiender Rationierung schwanden die Vorräte im Rucksack stetig dahin; wie lange würde er hier im Berg noch überleben können?

Endlich raffte Darius sich auf, tastete sich in den näher gelegenen Felsspalt hinein, nur um nach einer halben Stunde festzustellen, dass der Durchlass so eng wurde, dass man nicht einmal mehr kriechend hindurchkam. Leise fluchend – mittlerweile hatte der Gefangene des Berges die spottenden Echos hassen gelernt – kehrte er um, nahm den anderen ›Weg‹, tastete sich vorwärts, immer in der Angst, ein unbedachter Schritt könne ihn in ein unsichtbares Loch stürzen lassen. Und eine halbe Stunde später – das nächste Problem: Wasser!

Stockfinster wie es war, konnte Darius lediglich feststellen, dass es plötzlich seine Schuhe durchweichte. Er ging in die Hocke, fühlte mit den Händen nach unten: Rund um ihn schien der Boden mit seichtem Wasser bedeckt. Würde es tiefer werden? Er rief sich die Überlebensregeln ins Gedächtnis: Auf keinen Fall durfte er riskieren, dass hier unten, in ewiger Kälte, seine gesamte Ausrüstung nass wurde! Er zog sich auf trockenes Gelände zurück, entledigte sich seiner Schuhe, band sie mit den Senkeln aneinander, wollte die Jeans hochkrempeln, entschied sich dafür, sie ganz auszuziehen und samt Unterhose in den Rucksack zu stopfen. Es war kaum anzunehmen, dass ihm mitten im Berg jemand begegnete, der sich an seiner ungewaschenen Nacktheit stören könnte.

Je weiter er marschierte, desto tiefer wurde der Teich, und, wie es ihm vorkam, immer eisiger. Zähneklappernd kämpfte Darius sich vorwärts, bis das Wasser sein Gesäß erreichte, fragte sich, was er machen solle, wenn es so tief wurde, dass er schwimmen müsste. Vorsichtig fühlte er nach der Decke der Höhle, konnte sie nirgends ertasten. Zumindest gab es also über ihm ein ausreichendes Luftpolster zum Atemholen. Dann, plötzlich, stieg der Boden wieder an. Darius rannte jetzt fast, so gut es in dem unterirdischen See ging, stieß auf einmal mit dem Knie gegen Felsen, tastete verzweifelt herum. Die Felskante bildete eine endlose Mauer, hoch und glatt; er konnte nicht aus dem Wasser! Seine Zähne schlugen aufeinander, zitternd watete er weiter, immer weiter, bekam endlich einen Vorsprung zu fassen, zog sich hoch, hockte auf einer Art winziger, mit makkaroniartigen Mini-Stalagmiten übersäter Plattform, aber wenigstens im Trockenen. Mit den Beinen der Jeans rieb er sich ab, breitete das Kleidungsstück über sich, schlang die Arme um den zusammengekauerten Körper, bis ihm zumindest etwas wärmer wurde und er merkte, dass seine Beine einschliefen.

Er wollte nicht weiter, wollte die Arme nicht von seinem Körper lösen, ihn nicht dieser spärlichen und doch so kostbaren Wärme berauben. Durchgefroren, ausgepowert und hungrig, war Darius egal, ob er starb. Nur das scheußliche Gefühl seiner taubwerdenden Beine, eine lächerlich kleine Unannehmlichkeit angesichts seiner fast hoffnungslosen Situation, rettete ihn vor dem Aufgeben, zwang ihn zum Aufstehen, ließ ihn mit den Füßen stampfen, um das lästige Ameisenkribbeln zu vertreiben. Die Bewegung brachte sein Blut in Schwung, wärmte ihn mehr, als seine hilflosen Arme das vermocht hatten.

Jetzt, im Stehen, tastete Darius wieder um sich, befühlte den Fels, stellte fest, dass er sich weiter hinaufziehen konnte, in etwas gelangte, was eine weitere Höhle sein musste, in der er sich rasch wieder ankleidete. Seine Hände fanden dicke, feuchte Stalagmiten, krumm wie alte Olivenstämme; er quetschte sich zwischen ihnen hindurch, ging vorsichtig weiter, jeden Tritt erst fühlend in dieser nachtschwarzen, stummen Welt, stieß sich den Kopf. Gott, was gäbe er jetzt für ein simples Streichholz! Dafür, auch nur für einen winzigen Moment seine Umgebung, irgendetwas, zu sehen! Ja, die ewige, absolute Finsternis war das Grauenvollste für ihn, den schon die Grauheit düsterer Novembertage einst aus Deutschland vertrieben hatte …

Immer noch frierend stapfte er voran, fand eine Öffnung in der Wand, durch die er sich mit Mühe zwängen konnte, wanderte weiter, ohne sich um Richtungswechsel, um aufwärts oder abwärts führende Streckenteile Gedanken zu machen, durchquerte andere Höhlen, kroch, den Rucksack voran schiebend, durch Engpässe, ohne erkennen zu können, wie und wo sie endeten. Sein Körper wurde zur Maschine, koppelte sich ab von dem müden Geist, und Darius ließ seine Beine laufen und klettern, dachte, wenn er überhaupt zu denken fähig war, dass sie ihn tragen sollten, bis er umfiele, und vielleicht kam der Tod dann sanft, im Schlaf oder im Stupor der Erschöpfung …

Irgendwann sank er tatsächlich auf den kalten Fels, doch sein störrischer Körper weigerte sich, aufzugeben, ließ seinen Magen brummen und knurren, bis Darius im Zeitlupentempo einen der drei letzten Energieriegel aus dem Papier schälte. Eigenartigerweise war ihm das Essen widerlich; nach dem ersten Bissen wurde ihm fast schlecht. Er schob den Riegel in die Hosentasche, lehnte den Kopf an die Wand hinter sich, schloss die Augen, öffnete sie wieder, und …!

Er blinzelte heftig, sein Herz raste, peitschte Adrenalin durch seine Adern. Da ganz hinten, da glaubte er, schemenhaft etwas wie eine dunkelgraue Öffnung im schwarzen Fels zu erkennen! Spielten seine Augen verrückt, weil er ihnen so lange nichts Nützliches hatte zu tun geben können, oder narrte ihn sein Gehirn, das ihm Trugbilder vorgaukelte, wie er sie zu sehen wünschte? Waren es die Vorboten des Todes, berichteten nicht sämtliche Nahtoderfahrungen von überraschendem Licht? Oder wurde er einfach wahnsinnig? Er konnte nichts sehen, hier, mitten im Berg! Oder?!

Darius tastete nach Wasser, fand ein Rinnsal an der Wand, betupfte damit sein plötzlich brennendes Gesicht, blinzelte erneut. Die schwach hellere Stelle blieb, wo sie gewesen war! Mit einem undefinierbaren Laut kam Darius auf die Füße, stolperte vorwärts, fiel über einen Felsvorsprung, landete auf Händen und Knien, rappelte sich wieder auf, lief weiter, lachte und schluchzte abwechselnd, als er merkte, dass der graue Schimmer heller und heller wurde. Dort vorn musste der Gang eine Kurve machen, hinter der das Licht war, und Darius rannte jetzt fast, mit letzter Kraft, konnte nun den Boden unter seinen Füßen erkennen, lief um die Biegung, und – tatsächlich! Der Gang endete in der Wand einer Höhle, deren Decke ein Loch aufwies, und zu diesem Loch strömte die Sonne herein! Darius rutschte die Felsen hinunter, drei Meter vielleicht, auf den gelb-braunen Boden der Höhle, stolperte zu dem warmen, lichten Fleck, den die fast senkrecht einfallende Sonne auf den Fels zeichnete, ließ sich darauf fallen und heulte vollends los.

»Wer, verdammt, wer?!«

Vorsichtig wich Farida zurück, bestrebt, den soliden Tisch zwischen sich und ihn zu bringen, ein unzureichendes Bollwerk gegen die Furcht. »Es war bloß … Alain …«

»Warum kommt er, wenn ich nicht da bin, der Scheißkerl?!«

Sie hatte es geschafft, sich Zentimeter für Zentimeter hinter den Tisch zu manövrieren, dennoch fühlte sie sich kaum sicherer, wusste, dass die Strafaktion dadurch nur um einen winzigen Moment aufgeschoben wurde. Bitte, Gott, ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe in meinem Leben, noch immer falsch mache, aber zeig Erbarmen, dies eine Mal wenigstens!

»Er ist … dein Bruder … Er wollte … zu dir …«

»Und hat mit dir gesoffen!« Eine wütende Handbewegung fegte die verräterischen Gläser vom Tisch, die Farida nicht mehr hatte wegräumen können, weil Gaston ungewöhnlich früh nach Hause gekommen war.

»Hätte ich ihn abweisen sollen? Ich dachte, du hättest gewollt, dass ich ihm etwas anbiete? Bitte, Gaston! Ich habe versucht zu tun, was ich glaubte, dass in deinem Interesse …«

Sie kam nicht weiter! Blitzschnell beugte er sich über den Tisch, packte ihren Arm, riss ihren Oberkörper nach vorn. Mit der andern zur Faust geballten Hand schlug er zu.

»Angel?« Wo sollte man an einem Zelt anklopfen? Zaghaft rüttelte Claudia an dem Gestänge. »Sind Sie wach? Sie hatten gesagt, wir müssten früh aufstehen, um den Fluss herunterzufahren!« Sie selbst hatte sich bereits passend ausstaffiert, mit grünem Sonnenkäppi und Plastik-Badeschuhen statt der geliebten eleganten Sandalen. »Angel! Wachen Sie auf!«

Peter kam vom Waschen zurück, das Hemd über der Schulter. Claudia bemerkte die Blicke, mit der die füllige Frau von der Nachbarparzelle den sonnengebräunten, schlanken Archäologen verfolgte, und sie sandte der anderen einen Dolchblick aus Damaszenerstahl, um sich gleich darauf mit Schuldgefühlen zur Ordnung zu rufen. Auf Peter Selmann hatte sie keinerlei Anrecht, so sympathisch sie ihn fand. Er war wie ein verlässlicher großer Bruder oder sollte es zumindest für sie sein. Mehr nicht …

»Kriegen Sie ihn nicht wach?« Peter bückte sich, um die Zeltklappe hochzuschlagen, steckte seinen Kopf ins Innere. »Angel?! Er ist nicht da!«

»Vielleicht ist er längst bei den Booten, eins für uns aussuchen!« In wenig positiver Stimmung lief Claudia zum Kajakverleih, doch dort langweilte sich nur der französische Vermieter, dessen bewundernde Blicke verrieten, dass er einem Flirt mit der zierlichen, schwarzhaarigen Italienerin nicht abgeneigt sein würde, aber Claudia war nicht interessiert.

In der morgendlichen Kühle stieg sie zum Fluss hinab, wo eine Gruppe ängstlich dreinschauender Touristen vom moniteur auf grüne Boote verteilt wurde, für die Grande Descente, die große Fahrt durch die Schlucht. Noch war das Wasser der Ardèche grün und klar, der Grund nicht von den Badenden aufgewühlt. Die ruhige Schönheit des Flusses unter den sich langsam auflösenden Dunstschwaden faszinierte Claudia, und fast hätte sie vergessen, weshalb sie gekommen war. Bis sie Peter rufen hörte. Und sich umsah, aber Angel nirgends entdeckte.

Sie warteten auf ihrer Parzelle. Vielleicht war er in den Waschräumen oder im Shop, um etwas für die Tour zu besorgen? Doch die Sonne stieg höher, ließ ihre Strahlen das Tal erst sacht erwärmen, um es schließlich gnadenlos aufzuheizen.

»Schläft Ken noch?«, fragte Claudia endlich.

Peter schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm Geld gegeben, damit er ein Rad mieten kann. Soll er sich ein bisschen in der Gegend umsehen, der arme Kerl.«

»Schwör mir, dass du nichts sagst, zu niemandem! Ich mach dich fertig, wenn du was verrätst!« Lucs Augen blitzten für einen Moment so drohend, dass Ken Furcht fühlte und eiligst versicherte, dass er schweigen würde.

Sie waren mit den Rädern zunächst nach La Combe gefahren, von da aus etwa einen halben Kilometer Richtung Ibie-Tal, als Luc sich umgesehen hatte und rasch in einen Pfad eingebogen war, der steil den links der Straße aufragenden, bewaldeten Berg hinaufführte. Doch es ging nur ein paar Meter bergan, ehe Luc sich erneut nach links wandte, in einen anderen Weg, der sich kaum als solcher erkennen ließ und binnen kurzem in einem mannshohen Gestrüpp aus krüppeligen Eichen und stacheligem Wacholder endete, wo sie die Fahrräder versteckten.

Ken war dem älteren Jungen gefolgt, ohne Fragen zu stellen, doch seine Neugier wuchs von Minute zu Minute.

»Warte hier!« Luc verschwand zwischen den niedrigen Bäumen, und Ken setzte sich auf einen umgestürzten Stamm. Er hörte Rascheln, hatte den Eindruck, dass Luc sich nicht weit entfernte, und gleich war der andere auch wieder da, ein breites Grinsen auf dem Gesicht und ein schwarz lackiertes Motorrad durchs Gebüsch schiebend.

Kens Augen weiteten sich. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, vielleicht einfach ein zweites Versteck des Franzosen, aber jedenfalls nicht das!

»Gehört die dir?«

Obwohl die Maschine mit Blättern übersät war, blitzten die Chromteile wie Christbaumschmuck; man konnte sehen, dass das Gefährt liebevoll gepflegt wurde. Luc nickte, die Hand voll Besitzerstolz auf dem Sattel. »Eine hundertfünfundzwanziger Honda. Fünfzehn PS.«

»Wo hast du sie her?«

»Du fragst zu viel!«, knurrte Luc, lenkte jedoch selbst wieder ein. »Sie ist nicht geklaut, wenn du das befürchtest. Ich hab sie jemandem abgekauft.«

»Aber du hast keinen Führerschein!«

Luc ließ die Frage unbeantwortet, löste eine riesige Plastiktüte vom Lenker, holte zwei Helme heraus, warf einen Ken zu. »Die waren im Kaufpreis inbegriffen. Wenn wir ohne fahren, stoppen uns die flics sofort!«

Eine Viertelstunde später brausten sie durch das stille Tal der Ibie, und Ken klammerte sich an Lucs Bauch fest. Der Franzose wusste eine verborgene, den Touristen unbekannte Badestelle am Fluss, und die Jungen verbrachten Stunden damit, entweder im Wasser oder auf den heißen, blassen Steinen zu liegen, fast ohne zu sprechen.

Als er erwachte, war die Sonne weitergezogen, aber die Höhle nach wie vor halbwegs warm und seine Kleider getrocknet. Darius fühlte sich hundeelend, vielleicht vor Hunger, aber nichtsdestotrotz heilfroh, dem ewigen Dunkel entronnen zu sein. Er setzte sich auf, um seine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen – und eine Woge der Depression überschwappte ihn so unerwartet wie eine Monsterwelle: Er kannte diese verdammte Höhle! Es war genau das verfluchte Loch, in dem er an dem Stalagmiten gehangen hatte und aus dem er versucht hatte zu fliehen! Im ersten Moment fragte er sich, ob er völlig verblödete, weil er die Grotte nicht sofort wiedererkannt hatte, dann begriff er den Grund: Riesige Felsblöcke hatten sich an mehreren Stellen von der Decke gelöst und im Herabstürzen die unter ihnen wachsenden Stalagmiten zertrümmert! Schutt und Geröll bedeckten die Reste des von ihm entfachten Feuers und des bei seinem Aufbruch zurückgelassenen Mülls. Das hatte das Aussehen der Höhle drastisch verändert.

Plötzlich war Darius wieder nach Heulen zumute. »Scheiße, verdammte Scheiße!«, brüllte er zum Himmel hinauf. »Das war ein verdammt blöder Scherz, auf den ich verdammt gut hätte verzichten können!«

Er sank zurück, die Hände vor dem Gesicht und sich auf die Lippen beißend, um nicht zu flennen wie ein Kind. Und war überhaupt nicht darauf gefasst, dass von oben Antwort kam: »Qui est-ce? Wer ist das?«

Darius fuhr auf, öffnete den Mund, um zu schreien, brachte vor Aufregung keinen Ton heraus.

»Sind Sie da unten?«

»Oui! Au secours! Hilfe!« Jetzt brüllte Darius, was seine Lungen hergaben, und seine Gedanken galoppierten schneller als sein Lieblingstekkiner in der Toskana. Vielleicht gab es einen Gott, der ihn errettet hatte, ihn, einen Kerl, der sich im Himmel bestimmt nicht viel Freunde geschaffen hatte! Darius lachte und weinte zugleich. »Hier! Ich bin hier unten! Holen Sie mich raus!«

Er hörte Geräusche oben, dann erschien ein Kopf, doch Darius konnte kein Gesicht erkennen, denn er schaute in einen taghellen Himmel hinauf, dass ihm die Augen getränt hätten, wenn sie nicht schon ohnedies voll Wasser gewesen wären.

»Darius Thanner?«, fragte die körperlose Stimme, überrascht und ungläubig.

Ein Suchtrupp!, schoss es Darius durch den Kopf. Die haben nach mir gesucht, die haben todsicher alles dabei, Seile und so! In ein paar Minuten bin ich draußen, und heute Abend sitz ich im Blauen Hai und schütte mich zu wie nie zuvor!

»Darius Thanner?!« Die Stimme wurde ungeduldig, wütend fast, weil er versäumt hatte zu antworten.

»Ja, der bin ich! Machen Sie rasch! Holen Sie mich rauf!«

»Sind Sie verletzt?«

Der soll nicht so viel quatschen, dachte Darius, und jetzt war er es, in dem sich vehement der Zorn meldete. »Mein Fuß tut weh, aber das ist scheißegal! Lassen Sie einfach ein Seil runter, ich komm schon irgendwie rauf!«

Der Kopf verschwand. Darius meinte, oben Schritte zu hören. Na, dem Himmel sei Dank, hatte der Idiot endlich kapiert, dass er ihn erst raufholen und dann interviewen konnte! Darius vermochte kaum noch zu stehen, hielt sich an einem dünnen Stalagmiten fest. Er merkte, dass er vor Ungeduld am ganzen Körper zitterte. Wie lang, zum Teufel, brauchte der Kerl, um seine Mannschaft zusammenzutrommeln und das Seil abzurollen?! Darius beschäftigte sich damit, sich auszumalen, was er abends beim Squale Bleu alles bestellen würde. Als Vorspeise Salat mit warmem Ziegenkäse, eine Riesenschüssel voll! Dann panierte Tintenfischringe, triefend fett. Und völlig prosaische Pommes, so salzig wie möglich. Salz hatte er bei seiner Müsliriegel-Diät vermisst. Leichte Schuldgefühle überfielen ihn, als ihm klar wurde, dass sich seine Gedanken aufs Essen stürzten; sollte seine Sehnsucht nicht in erster Linie Claudia gelten, und Ken, statt Käse und Calamari?

Teufel, wo blieb der Kerl?! »Hey!« Darius brüllte hinauf, froh, wieder auf menschliche Antwort hoffen zu können statt auf eine Kakophonie höhnischer Echos von unbarmherzigen Wänden. »Hey, wo bleiben Sie? Ich hab lang genug im Loch gesteckt!«

Im nächsten Moment war der Kopf wieder da. »Je suis navré. Es tut mir Leid.« Warum klang die Stimme fast hämisch oder bildete Darius sich das ein? »Aber ich fürchte, Sie werden es noch eine Weile in Ihrem Höhlenhotel aushalten müssen!«

Was sollte das heißen?! »Was meinen Sie?« Eine Woge von Panik schwappte über Darius. Gleich darauf beruhigte er sich. Vermutlich hatte der Typ kein Seil und nichts dabei, war so ein trotteliger Naturfreak auf Botanisier-Wanderung, ohne Handy, der erst bis zum nächstgelegenen Ort latschen musste, um kompetente Hilfe aufzutreiben. »Können Sie mir wenigstens was zu essen runterwerfen, bis Sie eine Rettungsmannschaft verständigt haben?«

Eigenartigerweise antwortete der andere nicht sofort, und als er es endlich tat, schien seine Auskunft reichlich kryptisch: »Ich könnte es – unter gewissen Umständen!«

»Mann, seien Sie nicht umständlich! Ich bin am Verhungern!«

»Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«

»Wieso? Wollen Sie eine Verkehrskontrolle durchführen?!« Von Minute zu Minute kochte Darius’ Wut höher. Was sollte der Scheiß?! Wollte der Typ ihn verarschen?!

»Ihren Ausweis gegen eine anständige Mahlzeit!«

Darius’ wacklige Knie schienen ihren Geist völlig aufzugeben; er sank an dem Stalagmiten entlang zu Boden. Wer zum Teufel war da oben? Irgendein Ganove, der Darius’ Notlage ausnützen wollte, um sich einen neuen Pass zu verschaffen? Um damit vielleicht ein Verbrechen zu vertuschen, das dann ihm, Darius, angelastet werden würde? Nein, danke!

»Und wenn ich keinen Ausweis habe?«

»Führerschein?«

Darius durchkämmte seine Brieftasche. Wie viel Geld hatte er?

»Hundert Euronen, und Sie ziehen mich aus dem Loch! Aber Sie bekommen die Kohle erst, wenn ich oben bin!« Und dann kriegst du eins auf die Nase, Sauhund, das garantier ich dir!

»Ich will kein Geld. Sondern ein Dokument mit Ihrem Namen!«

Hektisch wühlte Darius in seiner Börse. Die Kreditkarten würde er dem Typen auf keinen Fall überlassen genauso wenig wie den Pass!

»Ehering mit Gravur wäre auch akzeptabel!«, rief der von oben, und in einem neuen Anfall von Wut brüllte Darius zurück: »Dann schicken Sie mir einen Priester, und ich heirate auf der Stelle! Wenn’s sein muss, sogar Sie!«

Schließlich entschloss er sich, seinen Führerschein zu opfern. »Aber erst mein Essen!«

»Das muss ich aus Vallon holen«, sagte der andere. »Oder glauben Sie, hier kommt jede Stunde Essen auf Rädern vorbei? Im Übrigen darf ich Sie erinnern, dass Sie nicht in der Situation sind, um Bedingungen zu stellen?! Ich lasse jetzt an einem Bindfaden eine Tüte hinab, und Sie stecken den Schein hinein! Und keine Tricks oder ich lass die Schnur los und Sie für die nächsten hundert Jahre in Ihrem Loch!«

Die Tüte trug witzigerweise einen Aufdruck des Office de Tourisme von Vallon und warb für Urlaub in der Region. Nie wieder!, schwor sich Darius sauer, während er die Plastikkarte hineinwarf. Der Mann zog das Ganze hoch, sah sich den Führerschein an und rief zufrieden hinab: »Was wollen Sie essen?«

»Die Speisekarte vom Squale Bleu rauf und runter! Und vergessen Sie den Wein und die Servietten nicht!«, brüllte Darius zurück. Der Kopf verschwand, und Darius streckte sich auf dem Felsen aus und vermutete düster, dass er den Schurken nie wieder sehen würde.

Die Mauern der Ruine ragten still in den tiefblauen Nachmittagshimmel, als Peter die Burg erreichte. Angel war den ganzen Vormittag nicht aufgetaucht, und Peter wollte die Zeit nützen, um sich in Vieux Vallon umzusehen, während Claudia sich mit Kopfschmerzen hingelegt hatte. Die nach oben offenen, sonnendurchfluteten Räume der Burg standen sämtlich leer; nur in einem einzigen schienen gelegentlich Landstreicher zu hausen. Peter setzte sich in den Schatten einer Mauer, schloss für eine Weile die Augen und fragte sich, warum Darius’ Kajakkumpel das Verschwinden ihres Trainingspartners so beharrlich ignorierten. Weil es ihnen gelegen kam? Oder gar weil sie – ihre Hände dabei im Spiel gehabt hatten? Arnis Eifersucht auf Darius war deutlich. Und zwischen Angel und Darius hatte es ebenfalls Streit gegeben, aber weswegen? Peter wusste, dass er die von den Campingplatznachbarn erhaltene Information nicht überbewerten durfte. Darius besaß nicht das friedlichste Naturell, brauste schnell auf, selbst wegen Kleinigkeiten, war andererseits jedoch selten nachtragend. Überhaupt – warum sollte man gleich an ein Verbrechen denken? Darius konnte ebenso gut einen Unfall gehabt haben, in den Klippen der Schlucht abgestürzt sein zum Beispiel …

Als Peter sich endlich zum Weitergehen aufraffte, stieß er hinter der Burg auf eine kleine, alte Frau in dunklem Gewand, die vergeblich versuchte, den mit blauen Früchten beladenen Ast eines Feigenbaums zu sich herunterzuziehen. Ihr unbewegtes Gesicht mit den arabischen Zügen sah den Archäologen unter dem Kopftuch heraus an, ohne dass sie eine Bitte formulierte. Peter kam ihr trotzdem zu Hilfe; sie füllte rasch ihren Korb, murmelte etwas, was der Italiener nicht verstand, doch als Dank akzeptierte. Wenn er hier oben schon keine nützlichen Hinweise bezüglich Darius’ Verschwinden entdecken konnte, so hatte er wenigstens eine gute Tat vollbracht.

Auf dem Rückweg fuhr Luc an dem früheren Versteck des Motorrads vorbei, fast bis La Combe, dann einen Pfad bergauf, wo er die Maschine abstellte und Ken winkte, ihm zu folgen. Schweigend liefen die Jungen einen Waldweg entlang, bis zu einer gestuften Felswand, von deren oberstem Rand sie, tief unter sich, zwischen gelbbraunen Wiesen und tiefgrünen Weinfeldern, einen einsamen Hof liegen sahen: Ein quadratisch gedrungenes Steinhaus, das Dach mit ocker- bis rötlichfarbenen, halbrunden Ziegeln gedeckt. Daneben ein Stall, halb Stein, halb Holz, diverse Schuppen. Luc setzte sich ins Gras, warf den Helm neben sich und fischte ein faltbares Fernglas aus einer der Taschen seiner Cargo-Hose. Er hob das Glas an die Augen und richtete es auf das Gehöft, auf dem sich winzige Menschen bewegten wie die Figuren eines Computerspiels.

Neugierig wartete Ken auf eine Erklärung, aber Luc hielt Worte offenbar nicht für nötig. Ab und an setzte er das Glas wieder ab, starrte auf den Waldboden, abwesend mit der Spitze seines Turnschuhs die trockenen Blätter zerreibend.

»Warum machst du das?« Die Frage war harmlos gemeint, doch Luc sprang auf, fuhr herum und schlug mit der freien Hand sofort zu, Ken ins Gesicht. Im nächsten Moment brannte in Kens Kopf eine Sicherung durch; er warf sich auf den Franzosen, blindwütig auf ihn eindreschend. Luc, obwohl größer und älter, stolperte rückwärts, ließ das Glas los, das unbeachtet zu Boden fiel, versuchte zurückzuschlagen, aber ein Fußtritt Kens brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er stürzte rücklings, verschwand über die Kante, prallte etwa einen Meter darunter auf einen Felsen. Wo er reglos liegen blieb!

Ken stand wie erstarrt. »Luc!« Durch seine Adern schien plötzlich Eiswasser zu schießen statt Blut. »Luc!« Er sprang selbst hinab, sich an einem biegsamen Ast festhaltend, der seinen Sprung abfederte. »Luc, was ist?! Sag, dass du lebst!« Er kauerte sich neben den anderen, sah keine Verletzungen außer einer aufgeschürften Wange und einem blutenden Ellbogen, betastete vorsichtig Lucs Hals, wie es ihm im Erste-Hilfe-Kurs der Schule gezeigt worden war, fühlte nichts oder war nicht sicher, ob er etwas fühlte.

Sollte er weglaufen, abhauen?! Niemand wusste von seiner Beziehung zu Luc; er hatte Peter nur erzählt, er würde irgendwo durch die Gegend radeln! Er konnte zu Fuß zum Versteck der Fahrräder laufen, es war nicht weit, wenn er sich recht erinnerte, und falls jemand Luc fand, würden sie vielleicht – hoffentlich – denken, dass der Franzose von allein abgestürzt sei.

Andererseits, wenn Luc noch lebte …?! Müsste er, Ken, nicht Hilfe holen, die Ambulanz oder so? Aber wie, er besaß kein Handy!

»Verdammt, warum hast du das getan?!« Luc! Er sprach mit geschlossenen Lidern, ohne sich zu rühren.

»Du bist nicht tot?« Ken heulte fast vor Erleichterung, wich jedoch zugleich zurück; möglicherweise war der Franzose jetzt erpicht darauf, es ihm heimzuzahlen!

»Warum, verdammt?« Endlich schlug Luc die Augen auf, fixierte Ken drohend.

»Ich …«, Ken leckte sich nervös über die Lippen. »Im Heim … Da hab ich mir geschworen …«

»Was?! Red schon!«

»Dass mich niemand mehr schlagen darf«, murmelte Ken.

»Und deshalb bringst du mich halb um, du Arsch?!«

»Ich wollte nicht …« Ken zuckte die Achseln.

»Du bist ganz schön verkorkst, Mann!« Und Luc setzte sich auf, spie Blut auf den Felsen; er hatte sich bei dem Sturz auf die Zunge gebissen.

»Du hast zuerst zugeschlagen.« Es war keine Anschuldigung, sondern eine Feststellung. »Wieso eigentlich? Was habe ich gesagt?«

»Nichts.« Luc befühlte sein Handgelenk. »Ich kann’s einfach nicht leiden, wenn man mir zuviel Fragen stellt …«

Ken starrte ihn an und sprach sicherheitshalber nicht aus, was er dachte: Du bist mindestens genauso verkorkst wie ich!

»Es gefällt mir nicht, dass Sie den Jungen den ganzen Tag herumstreunen lassen! Wir tragen die Verantwortung für ihn!« Missbilligend sah Claudia Ken nach, der das Fahrrad an eine Pappel lehnte und gleich zum Fluss hinablief.

Peter seufzte. Auch er hätte lieber gewusst, wo und wie Ken seine Tage verbrachte, aber ihm war klar, dass sein Verhältnis zu Darius’ Neffen auf dem fast bedingungslosen Vertrauen basierte, das er dem Jungen bezeugte.

»Er zigeunert auch wieder nachts herum!« Claudia war noch nicht fertig. »Wenn dem Jungen etwas zustößt, wie wollen Sie das Darius erklären? – Peter! Irgendwas stinkt hier zum Himmel! Erst ist Darius verschwunden, und jetzt Angel! Was, wenn Ken der Nächste ist?!«

»Glauben Sie nicht, dass ich mich das längst selbst frage?« Peter setzte sich auf den Klappstuhl vor dem Wohnwagen. »Ich rede mit dem ragazzo, versprochen.«

Er versuchte es, als Ken eine halbe Stunde später triefnass vom Baden zurückkam und hungrig nach Essen fragte.

»Gleich, Ken. Claudia kocht schon. Spaghetti mit Tintenfisch. Setz dich einen Moment zu mir, per piacere.«

Er spürte das Misstrauen des Jungen erwachen, noch bevor zu sehen war, wie sich dessen Körper versteifte. »Ich hab nichts getan!«

Peter schmunzelte. »Wenn man dich hört, wär ich mir da gar nicht so sicher.« Als sich die Miene des Jungen augenblicklich verfinsterte, fügte der Archäologe hastig hinzu: »Ken, ich will nicht fragen, wo du warst. Ich will dich einfach warnen: Wir haben keine Ahnung, was in dieser Gegend vorgeht! Wir wissen nicht, ob dein Onkel einen Unfall hatte oder …« Er ließ seine Befürchtungen unausgesprochen. »Claudia und ich … wir machen uns Sorgen. Wir sind verantwortlich für dich und wir …«

»Ich tu nichts!«, beharrte Ken, sprang auf und rannte fort, in Richtung Toiletten.

Claudia, die durch das offene Fenster alles mit angehört hatte, steckte den Kopf heraus. »Irrsinnig erfolgreich war die Belehrung ja nicht! Ob er wieder geklaut hat?«

»Bei allem, was ihm passieren könnte, wäre diese Möglichkeit wohl die harmloseste«, murmelte Peter und stand auf, um die fröhlich gelben Kunststoffteller und die unzerbrechlichen Weingläser zu verteilen.

Nach dem Essen, beim Instant-Espresso – Claudia schauderte, welche Härten das Campingleben den Menschen abverlangte – tauchten Paula und Arni auf. Mittlerweile hatte Claudia herausgefunden, dass Arndt Ritter als Immobilienmakler in Vallon arbeitete, was seine gediegene Kleidung erklärte; schließlich musste er den Kunden gegenüber seriös wirken.

»Wie war die Paddeltour?« Paula sandte Peter ein strahlendes Lächeln.

»Wir waren nicht auf dem Fluss!«, fauchte Claudia. »Euer Freund Angel scheint nicht unbedingt der zuverlässigste Typ!«

»Ich weiß nicht, was diesen Sommer in Angel gefahren ist.« Paula löste einen ihrer Zöpfe, um ihn geschickt neu zu flechten. Sie hatte sich so neben Peters Stuhl platziert, dass ihre Hüfte bei der kleinsten Bewegung den Arm des Archäologen streifte. »Angel kommt seit Jahren zum Kajakrennen. Und immer war er einer der Ausgelassensten. Aber dieses Mal …«

Weder Claudia noch Peter entging Arnis finsterer Blick. »Er wird seine Gründe haben«, vermutete der Makler.

»Dieses Rennen«, mit einer Handbewegung lud Peter die Besucher ein, auf den herumstehenden Campingliegen Platz zu nehmen, »dieses Rennen in der Klasse zwei, dabei geht es um Geld, hatten Sie erwähnt?«

Paula nickte. »Meist nicht um sehr viel.« Sie erzählte, dass die wirklich bedeutenden Regatten wie der Ardèche-Marathon im Herbst stattfanden, wenn der Fluss mehr Wasser führte. Dieses Jahr jedoch würde ein Stahlfabrikant aus Marseille für das Sommerrennen zusätzliche Preise stiften. »Für den Sieger der Klasse zwei gäbe es damit fünfundzwanzigtausend Euro. Das ist eine Sensation und wird den Wettkampf ungemein aufwerten!«

Peter horchte auf. »Und wer sind die Favoriten? Oder kann man da noch nichts sagen?«

»Von den Leuten, die das erste Mal antreten, weiß man natürlich nichts Genaues«, erklärte Arni. »Aber es gibt zwei Lokalmatadore in der Klasse zwei, die den Fluss seit ihren Kindertagen und zu jeder Jahreszeit befahren, und fast immer gewinnt einer von ihnen: Der eine ist Gaston Lechamp, der Pächter des Squale Bleu, der andere Yves Forger, ein Arzt aus Vallon.«

»Und wo steht Darius?«, fragte Claudia rasch, die ahnte, worauf Peter hinauswollte.

»Darius hätte bestimmt Chancen.« Paula sah zu Arni. »Genau wie Angel und Arni.«

»Angel und Darius sind besser als ich«, brummte der Makler. »Um Klassen besser.«

Wie ein gehetztes Wild blickte Farida sich um, ehe sie die Tür des flachen, aus graubraunen Steinen erbauten Häuschens am Fuß des Bergs aufschob. Keiner von Gastons Freunden durfte sehen, dass sie hierher kam. Und doch war dieses abgelegene, stille Haus für sie wie ein winziges Stück Heimat.

»Bist du es, meine Tochter?« Die Stimme, zeitlos alt, erfüllte Farida mit einer innerlichen Wärme, wie sie sie in diesem Land selten empfand.

»Ich bin es.« Sie trat in die Stube, wo Marie mit dem Kontrollieren ihrer Kräutervorräte beschäftigt war. An quer über die Decke gespannten Schnüren baumelten Bündel trocknender Pflanzen; Regale an den Wänden beherbergten dunkle und helle Gläser mit alkoholischen Auszügen, Teeblättern und geheimnisvollen Pülverchen. Auf dem großen Tisch in der Mitte stapelten sich Papiertütchen mit den Heilmitteln, die im Lauf des Tages von Maries Kunden geholt werden würden. Auf dem Boden davor bot ein Bastkorb frische, blaue Feigen dar. Über dem ganzen Zimmer hing der würzige Duft des südfranzösischen Sommers, eine Wolke aus Lavendel, Thymian, Rosmarin und vielem mehr, was das Land dem kundigen Sammler schenkte.

Farida setzte sich auf einen der einfachen Holzstühle. »Ich muss es wissen, meine Mutter!«, brach es aus ihr heraus.

Die Kräuterfrau zog das Tuch um ihre Schultern zurecht, das sie selbst an den heißesten Sommertagen nie ablegte, und setzte sich der Besucherin gegenüber. Ihr verrunzeltes Gesicht war noch älter als ihre Stimme, aber ihre Augen blickten jung und scharf, und Farida wusste, dass sie tief in die Seelen der Menschen schauten. »Hat er dich geschlagen?«

Farida senkte den Blick auf ihren Schoß. »Das ist unwichtig. Ich bin gekommen, weil …?«

Die Alte sah sie lange an. »Die Antwort ist ›ja‹, meine Tochter«, sagte sie schlicht. Eine ihrer dürren Hände kam herüber, legte sich auf Faridas junge Finger. »Was wirst du jetzt tun?«

Doch Farida vermochte es nicht zu sagen.

»Wo um alles in der Welt waren Sie?!« Claudia sprang auf, sobald sie den Mann im Licht der Abenddämmerung den Weg herabschlendern sah.

Angel warf ihr einen Blick zu, der weder freundlich noch unfreundlich wirkte, gleichgültig eher. »Was interessiert’s euch?«

»Wir wollten den Fluss runterfahren! Sie hatten versprochen, uns zu führen!«

»Ein andermal.« Angel verschwand in seinem Zelt. Paula lief ihm nach; Arni blieb bei den anderen stehen.

»Könnten Sie uns morgen den Fluss zeigen?«, fragte Peter ruhig, aber der Makler schüttelte den Kopf, sagte, dass er am nächsten Tag diverse Auswärtstermine habe. »Ich könnte erst abends herkommen, und dann ist’s zu spät. Als Anfänger und bei dem derzeitigen niedrigen Wasserstand müssen Sie mit einer Tourdauer von circa fünf bis sechs Stunden rechnen. Und wegen der Hitze ist es ratsam, frühmorgens aufzubrechen und mittags eine längere Pause einzuplanen.«

»Ich wäre sowieso nicht mit dem Kerl gefahren«, maulte Claudia, als Paula und Arni wieder abzogen. »Er ist mir unsympathisch!«

»Wir fahren allein«, sagte Peter.

Die Sirene heulte los, als Claudia von den Waschräumen zurückkehrte. Unwillkürlich umklammerte sie ihren Kulturbeutel fester. Hatte es nicht erst kürzlich gebrannt? Sie blickte zur Straße, sah lediglich das rhythmisch aufblitzende Licht der Einsatzfahrzeuge, die in Richtung Schlucht rasten. War es normal in dieser Gegend, dass es alle paar Tage brannte? Oder gab es einfach häufig Fehlalarm? Claudia blickte sich um. Niemand außer ihr schien sich zu sorgen. Bei dem großen Wohnmobil vor ihr spielte eine Gruppe deutscher Urlauber mit viel Gelächter Canasta. Um die Kante des Sonnensegels lief eine Lichterkette mit Dutzenden kleiner Lämpchen in Weiß-Blau, was dem Stellplatz die Partyatmosphäre eines süddeutschen Biergartens verlieh, und auf dem Tisch brannte eine jener bläulichen Anti-Mücken-Leuchten, die für Camper zur Standardausrüstung zu gehören schienen.

Daneben, vor einem kleineren Campingwagen, saß ein älterer Mann mit seiner Frau bei einer Flasche Roten. Die beiden sprachen nicht, und Claudia spürte bei ihnen jene tiefe, vertraute Verbundenheit, wie sie sich nur einstellt, wenn man einander sehr lange kennt – und liebt, dachte sie mit einem Stich. Ach, Darius, was ist los mit dir?! Warum können wir nicht hier sitzen und einfach gemütlich Urlaub machen?!

Die Sirenen verklangen, aber Claudia meinte leichten Brandgeruch wahrzunehmen, den eine sanfte Brise herantrug.

»Es brennt wieder«, sagte sie nervös zu Peter, der sich im Vorzelt für die Nacht einrichtete. »Ich kann den Rauch riechen.«

Er lachte leise. »Non avere paura! Keine Angst! Der Rauch kommt von einem Grillfeuer am Ende des Weges. Sie sollten besser schlafen, die Flussfahrt wird anstrengend.«

Claudia kam sich vor wie eine Idiotin. Als sie im Wohnwagen die Jalousien hinabließ, sah sie Kens Zelt und fragte sich plötzlich, ob der Junge überhaupt darin sei.

Der Himmel zeigte sich bewölkt, die Nacht stockfinster und kühl. Darius kauerte sich in der Höhle zusammen, den Rucksack auf seinen Füßen, für ein Minimum an Wärme. Seit seine Wut nach dem Auftauchen des unverschämten Fremden verraucht war, hatte sie nichts als tiefe Depression hinterlassen. Eine für Darius völlig untypische Niedergeschlagenheit. Wenn er denn hier unten verrecken musste, warum nicht wenigstens schnell? Der Himmel lockte ihn nicht besonders, und Hölle oder Fegefeuer mit ihrer Hitze schienen momentan geradezu ersehnenswerte Aufenthaltsorte …

»Sind Sie wach?« Der Schein einer starken Taschenlampe fiel auf ihn wie ein Spotlight.

»Mir ist kalt und ich krepiere vor Hunger!«, brüllte Darius hinauf. Im nächsten Moment plumpste etwas Dunkles neben ihm auf den Fels; er griff hastig danach: Ein Bündel aus Decken. Gleich darauf senkte sich eine an einen Bindfaden gebundene Tüte langsam zu Boden.

»Machen Sie sie los!«, forderte die Stimme von oben Darius auf. »Aber keine Tricks, oder Sie kriegen nie wieder was!«

Darius’ Finger zitterten, als er gehorchte und das Essen roch, bevor er es sehen konnte.

»Und wann holen Sie mich hier raus?«, schrie er wütend.

Doch das Licht entfernte sich, und er erhielt keine Antwort.

Für den Moment war es unwichtig. Darius wickelte sich in zwei Decken, öffnete die Tüte und war froh, darin ein Akku-Nachtlicht nebst einer Packung Batterien zu ertasten. Er knipste das Lämpchen an – natürlich war das dämmrige Licht zu schwach für etwaige Notsignale – legte es neben sich, wickelte das in Alufolie gepackte Essen aus und hätte vor Verwunderung fast gelacht: Der Unbekannte servierte ihm ein komplettes Menü: Ein Teller mit Hors d’Oeuvres, eine Riesenportion Quiche mit Gemüse und Speck sowie als Dessert frisches Obst, bereits ansprechend zerkleinert. Dazu eine Flasche Vin de Pays. Wie ein Wolf fiel Darius über die Mahlzeit her.

Die dunklen Wasser von Vallon

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