Читать книгу Donaufeuer - Frauke Schuster - Страница 10

4. Kapitel

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Wie sehen Sie denn aus? Sind Sie beim Umzug unter einen Schrank geraten, oder was?«, fragte Karim überrascht, als Milano am nächsten Abend im Tea Shop erschien. Ein riesiger blauer Fleck verunstaltete die rechte Gesichtshälfte des Biologen, direkt über dem Wangenknochen, und ein langer, verschorfter Riss zog sich quer über die Unterlippe.

»Ich ziehe nicht um!«, schnappte Milano mit zornfunkelnden Augen. Er trug die verrauchte, verknitterte Kleidung vom Vorabend, als habe er die Nacht durchgezecht.

Yasmina legte warnend ihre Hand auf Karims Arm. »Hatten Sie einen Unfall, Doktor Milano?«

Der Biologe sah sie an, sein Blick wurde um eine winzige Nuance freundlicher. In einer Verlegenheitsgeste fuhr er sich durch das dunkle Haar. »Ich, ja, ich bin mit dem Fahrrad … eine blöde Wurzel …« Er stotterte in untypischer Weise, und Karim dachte bei sich: Du bist mit dem Rad geflogen und hast dich danach nicht mal umgezogen? Die Story kannst du höchstens für die Tausendundzweite Nacht anbieten, aber niemals mir!

Wäre Milano eine Frau gewesen, hätte Karim auf einen prügelnden Ehemann getippt, doch wer sollte einen harmlosen Biologen schlagen? Gregor Strathmann etwa? Lachhaft! Ganz abgesehen davon, dass bei einer Prügelei zwischen diesen beiden wohl eher der Pharmakologe mit einem Veilchen enden würde …

Was also verbarg Wolf Milano? Karims Fantasie schlug Purzelbäume, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Auf jeden Fall, schwor er sich insgeheim, würde er dem Mann gegenüber ein gesundes Misstrauen beibehalten. Und seine Schwester daran hindern, sich mit ihm einzulassen!

In der Landshuter Straße, dritte Etage, öffnete ihnen eine Frau um die Sechzig mit der Fernseh-Fernbedienung in der Hand, die bereitwillig verriet, dass der Tom ihr Sohn war und die Sunny Night Dreams im schalldicht isolierten Kellerraum übten, vier Stockwerke tiefer, ohne Lift.

Die richtige Tür zierte ein mannsgroßes Beatles-Poster. Karims Klopfen wurde von der Isolierung geschluckt, sodass Wolf einfach öffnete. Der Übergang von Fast-Stille zu live gespieltem Pop kam so überraschend, dass Karim auf der Schwelle innehielt. Vor ihm lag ein ungewöhnlich geräumiger Keller, sämtliche Wände mit Konzertplakaten zugepflastert. Rechts von den Besuchern befand sich eine Art improvisierter Bar, die in einer früheren Inkarnation das sportlichere Leben eines Tischtennis-Tisches geführt haben musste; direkt vor ihnen spielten drei Musiker, während eine Sängerin, das Mikro in der Hand, ihre Hüften schwenkte und die Eindringlinge überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Karims Blick blieb an dem Keyboarder hängen, einem blonden Jungen mit verzweifeltem Gesichtsausdruck, der, gerade als Wolf einfiel, die dick gepolsterte Tür hinter sich zu schließen, den definitiv falschesten Akkord erwischte. Karim fuhr sich mit der Hand ans Ohr; er liebte Musik, reagierte höchst empfindlich auf Dissonanzen. Milano bemerkte offenbar nichts, aber er flüsterte auch gerade Yasmina etwas zu, legte ihr dabei die Hand auf die Schulter, was Karim augenblicklich missfiel.

Any Dream Will Do intonierte die Sängerin in hautengen, mit Strass-Steinchen aufgepeppten Jeans, ihre schwarze Mähne zurechtschüttelnd. Erfreut stellte Karim fest, dass sie, im Gegensatz zu dem deprimierten Keyboarder, ihre Töne traf, ebenso wie der rotbärtige, etwa dreißigjährige Gitarrist, der mit halb geschlossenen Augen entrückt die Saiten seines Instruments bearbeitete und gelegentlich, als erinnere er sich, dass so etwas wie andere Bandmitglieder existierten, verlegen zu dem fast kahlköpfigen Schlagzeuger hinübergrinste.

Karim, Yasmina und Wolf warteten geduldig auf das Ende des Stücks. Der Journalist fragte sich, was den Biologen treiben mochte, sich ihrer Suche nach den Gründen für den – wirklichen oder scheinbaren – Freitod einer jungen Ägypterin anzuschließen? War Milano insgeheim scharf auf die Frau gewesen? Oder hoffte er einfach, Strathmann sei in die Geschichte verwickelt, so dass er ihm eins auswischen könne? Oder, und das schien die unerfreulichste Möglichkeit, legte Milano ihn rein und wusste viel mehr über den Tod der Frau, als er zugeben wollte?

May I return to the beginning, the light is dimming, and the dream is, too … Der zum Hit gewordene Ohrwurm aus Andrew Lloyd Webbers Joseph-Musical. Zum Anfang zurückkehren … Das sollten sie auch im Fall Mona. Aber wo lag der Anfang?

»He, Bandary, träumen Sie, oder was?«

Die Musiker hatten aufgehört, streunten zu ihrer Bar, den Besuchern gelassen zunickend. Offenbar waren sie an Gelegenheits-Zuhörer gewöhnt.

Karim klopfte dem stark schwitzenden, blonden Jungen auf die Schulter. »Könnten wir Sie einen Moment sprechen?«

Der Junge drehte sich um, sein Glas in der Hand.

»Sie sind der Charlie, nicht wahr? Der Freund von …«

Er brach ab, als der Keyboarder den Kopf schüttelte. »Ich bin der Rick.«

»Das merkt doch jeder gleich«, knurrte der Gitarrist in beißendem Ton. »Der Charlie, der kann nämlich spielen!«

»Hör auf, Tom!« Die Frau wirkte verärgert. »Kannst froh sein, dass der Rick einspringt!«

»Wo ist der Charlie? Der spielt doch normalerweise mit euch, oder?« Milano schien nach all der Warterei nahe daran, die Geduld zu verlieren.

»Der Charlie ist krank«, sagte die Frau nach einer verlegenen Pause.

»Im Dauersuff, meinst du«, korrigierte Tom, der Gitarrist, sein Pils hinunterstürzend. »Im Paradies der unseligen Wodkaträume, sozusagen.« Doch sein momentaner Ärger wandelte sich plötzlich in Sorge. »Hat er was ausgefressen, der Charlie?«

Karim stieß Yasmina an, dass sie antworten solle; eine Frau wirkte vermutlich Vertrauen erweckender. »Nein«, sagte die Schwester und lächelte ihr hinreißendes Lächeln, das Tom und Rick offensichtlich genauso verzauberte wie Milano, sodass sie für den Moment ihre Getränke vergaßen. »Wir wollten ihn einfach etwas fragen. Etwas Dringendes. Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Stadtamhof. Am Gries, die Nummer weiß ich nicht. Das Haus ist blaugrün, ziemlich am Anfang der Straße, links. Er hat ein Zimmer j.w.o, janz weit oben. Stil: ›Der arme Poet‹, bloß mit Friesennerz statt Regenschirm.« Die Sängerin gab bereitwillig Auskunft. »Seid nett zu ihm. Er hat vor kurzem seine Freundin verloren …«

Stadtamhof, die nördlichste der drei großen Donauinseln. Am Gries lag irgendwo ganz im Osten, wusste Karim. Sicherheitshalber warf er einen Blick auf den Stadtplan, ehe sie losfuhren.

Das Haus war leicht zu finden; im winzigen Garten davor rostete ein verbeultes Herrenrad unter einer krüppeligen, fast nadellosen Fichte.

Die mürrische ältere Frau, die sie einließ, schickte sie zu einer düsteren Treppe. Unterm Dach brauchte man weder Klingeln noch Klopfen, denn die Tür des Appartements stand sperrangelweit offen. In dem Moment, als sie eintraten, setzte die Musik ein. Nobody Knows the Trouble Ive Seen … das alte Spiritual. Und dieser Keyboarder war verdammt gut, wie Karim sofort erkannte!

Er saß auf einem Stuhl mit nur halb vorhandener Lehne, den Kopf mit der gebogenen Nase und dem halblangen, schwarzen Haar in den Nacken gelegt, während er zu seiner eigenen Musik summte. Karim hatte ihn sich jünger vorgestellt, wie Mona etwa, doch dieser Mann hatte die Vierzig sicher seit Jahren überschritten. Und sich überdies seit mindestens einer Woche nicht rasiert. Vielleicht nicht einmal gewaschen.

»Äh, hallo!«, versuchte Karim ihre Ankunft bemerkbar zu machen, aber der andere spielte in aller Ruhe seine Strophe zu Ende, ehe er die Finger von den Tasten und den Blick von der Decke nahm. Trotz des weit geöffneten Fensters hätte der Promillegehalt der Luft im Zimmer jeden Schwarzbrenner begeistert, und wegen der ausgeprägten Deckenschräge konnten Karim und Milano, die beide nicht klein waren, nur in der Mitte stehen.

»Sind Sie der Keyboarder namens Charlie?«

Dunkle Augen unter dichten schwarzen Brauen sahen Karim an.

»Shalom, Bruder, der bin ich. Und wer bist du?«

»Auf jeden Fall nicht dein Bruder!«, entfuhr es Karim, obwohl er es eigentlich nicht hatte sagen wollen.

Der Keyboarder lächelte, warf mit dem Fuß die Tür zu und wies auf die Schrift, die er in unregelmäßigen, roten Lettern auf die Innenseite gemalt hatte:

Why then will you hunt each other?

I am weary of your quarrels,

Weary of your wars and bloodshed,

Weary of your prayers for vengeance,

Of your wranglings and dissensions;

All your strength is in your union,

All your danger is in discord;

Therefore be at peace henceforward,

And as brothers live together.

»Warum wollt ihr euch gegenseitig jagen? Ich bin eurer Streitigkeiten müde, eurer Kriege und eures Blutvergießens … Das ist Longfellow, aus dem Hiawatha’, wusste Wolf zu Yasminas Überraschung.

Der Keyboarder nickte. »Richtig, Bruder. – Und was genau wollt ihr von mir?«

»Zum Beispiel wollen wir wissen, wie du wirklich heißt!«, verlangte Karim mit einer Schroffheit, die völlig unbeabsichtigt aus seinem Innersten aufzusteigen schien.

»Vor Jahren war ich Chaim. Aber ich bin dabei, es zu vergessen, Bruder.«

»Und weshalb willst du deinen Namen vergessen?« Karim hielt es für unnötig, den Mann zu siezen, der ohnedies jeden mit Du ansprach.

»Chaim war ich in Israel.« Der Keyboarder wandte sich wieder zu seinem Instrument.

»Auch Israelis pflegen ihre Namen nicht ohne triftigen Grund zu wechseln«, bemerkte Wolf.

»Ich habe meinen Grund.« Die Finger des Keyboarders fanden erneut die Tasten, und seine alkoholraue Stimme sang das Pete Seeger-Lied: »Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben …?«

»Blumen gedeihen schlecht in Gaza …« Wieder war es, als spräche eine innere Stimme aus Karim, eine trotzige Stimme, die nicht zu seinem jetzigen Ich gehörte, sich tief aus der Vergangenheit ans Licht kämpfte.

Der Keyboarder hörte auf zu singen, starrte ihn aus umnebelten Augen an. »Du hast es erfasst, Bruder. Und deshalb bin ich jetzt Charlie. Damit ich die Blumen wieder sehen kann. – Und sie mich.«

»Können wir von was anderem reden?« Milano vermochte den Faden des seltsamen Gesprächs nicht zu greifen »Von Mona Wahied, zum Beispiel? Und von ihrem Tod?«, fügte er brutal hinzu.

Der Keyboarder stand auf und griff nach einer Flasche billigen Wodkas neben dem Instrument. Karim wollte ihn hindern; Yasmina hielt ihn zurück. »Nicht, achi!« Sie flüsterte die Worte. »Er wird nur sprechen, wenn wir es ihn auf seine Weise tun lassen.«

»Mona Wahied«, erinnerte Wolf Milano, während der Israeli den Wodka hinunterkippte als wäre es Wasser. »Ihr wart ein Paar?«

»Mona«, sagte Charlie, als er die Flasche absetzte, wobei der Alkohol auf sein fleckiges Hemd tropfte, »Mona war eine Suchende.«

»Und wonach hat sie gesucht?«

»Nach dem Leben.« Jetzt erst schien der Keyboarder wirklich zu begreifen, dass er mit völlig Fremden sprach. »Wer seid ihr überhaupt?«

Da er Yasmina anblickte, gab sie Auskunft, stellte sich und die Männer vor und fügte hinzu: »Mona war auch meine Freundin.«

»Und sie hat dir von mir erzählt?«

»Nein«, gestand Yasmina ehrlich. »Das heißt, zumindest nicht viel. Sie hatte mir nicht gesagt, dass du …« Sie wusste nicht weiter.

»Dass ihr Freund ein israelischer Jude war?« Charlie lachte heiser, unfroh. »Nein, Schwester, das würde sie wohl kaum jemandem aus der arabischen Gemeinde erzählen … Wenn das Abdul zu Ohren gekommen wäre …!«

»Abdul … Monas Cousin, meinst du den?«, fragte Wolf Milano.

»Ein Saukerl, wie er im Buch steht.« Charlies Antwort machte deutlich, was er von dem Mann hielt. Und trotz seines Alkoholkonsums schien der Keyboarder allmählich klarer zu sehen. »Was wollt ihr von mir?«

»Antworten!«, verlangte Milano hart. »Zum Beispiel die Antwort auf die Frage, warum Mona Wahied tot ist!«

Chaim-Charlie schwieg so lange, dass sie fürchteten, er werde in die Scheinwelt der Alkoholträume abdriften. »Die Polizei sagt, es war Selbstmord.« Er antwortete schließlich mit einer für einen Betrunkenen überraschenden Vorsicht.

Karim überlief es kalt. Auch Charlie glaubte nicht an Suizid! Und nach allem, was sie bisher wussten, hatte dieser Charlie Mona wohl am besten gekannt!

»Und was meinst du selbst?«, hörte er Milano fragen, der offenbar das Amt des Inquisitors an sich riss.

Charlie ließ die leere Wodkaflasche fallen, die zum Glück auf einem zerschlissenen Teppichrest landete und nicht zu Bruch ging. »Was ich sage, Bruder, ich, ein desertierter Soldat und Säufer, das interessiert kein Schwein.«

»Aber uns«, mischte sich Yasmina vorsichtig ein. »Charlie, ich will wissen, warum meine Freundin starb! Das musst du verstehen!«

»Meine Freunde sind in Gaza in die Luft gesprengt worden«, sagte der Keyboarder. »Und ich weiß bis heute nicht, warum sie sterben mussten.«

Sie starrten ihn an, und über Karim schwappte eine Woge überwältigender Trauer. Er wusste nichts zu erwidern.

»Aber in Monas Fall gibt es vielleicht Antworten.« Yasmina hob die Flasche auf und stellte sie aufs Fensterbrett. »Bitte, Charlie!«

»Es gibt nie so viele Antworten, wie es Fragen gibt …« Und wieder spielte Charlie, und seine Stimme sang das Bob Dylan-Lied: »How many times must the cannonballs fly, before theyre forever banned … The answer, my friend, is blowing in the wind, the answer is blowing in the wind …« Und plötzlich, unerwartet, strömten Tränen über sein vom Alkohol gerötetes Gesicht.

Unbehaglich sahen die anderen einander an. Yasmina zupfte Karim am Ärmel, deutete zur Tür. »Wir kommen morgen wieder, Charlie, ja?« Karim hörte das Mitleid aus ihrer Stimme, und es gefiel ihm nicht. Noch auf der Treppe folgte ihnen Charlies Gesang.

»Er ist völlig fertig, so wie es aussieht«, flüsterte Yasmina, kaum, dass sie aus dem kleinen Haus traten.

»Und er weiß etwas«, sagte Milano nachdenklich.

Karim atmete die frische, kühle Nachtluft in tiefen Zügen, froh, dem alkoholgeschwängerten Kabuff des Musikers entkommen zu sein. Aber es gab andere Dinge, Dinge, denen man nicht so leicht entrinnen konnte … Und es erschreckte ihn zutiefst, dass es ausgerechnet ein israelischer Ex-Soldat war, mit dem er, der Araber, diese Erfahrung teilte …

Alex schlief auf dem Sofa, als Wolf Milano in seine Wohnung zurückkehrte. Erleichtert stellte der Biologe fest, dass wenigstens der Schläger Bert verschwunden war. Er holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank, um den Alkoholgeschmack fortzuspülen, der seit dem Besuch bei Charlie hartnäckig in seiner Nase und an seinem Gaumen zu hängen schien, und trat zu dem Schläfer heran, in den Zügen des Mannes nach denen des Jungen von einst suchend. Es wollte ihm nicht gelingen, sie zu finden.

Seufzend bezog er sein Bett frisch, stopfte die Wäsche, in der Bert geschlafen hatte, voll Abscheu in die Waschmaschine und legte sich schlafen, sorgfältig darauf bedacht, eine Stellung zu finden, in der seine von dem Schläger malträtierten Rippen nicht allzu sehr schmerzten.

»Frühstück!« Alex weckte ihn, eine Flasche Pils in der Hand. »Übrigens, falls Bert zurückkommt, solltest du dir verdammt gut überlegen, ob du ihn wieder provozieren willst. Der Bert, der hat mal jemanden richtig kalt gemacht, glaub ich!«

Vorsichtig setzte Wolf sich auf, nur um festzustellen, dass sein Körper sich anfühlte, als sei er unter einen Schneepflug geraten. Eigentlich war ihm kalt genug … »Wo ist er jetzt?«

Alex zuckte die Achseln, wollte ihm das Bier in die Hand drücken, trank selber, als Wolf ablehnte.

»Ich weiß ein Zimmer für dich«, sagte Wolf. »Hier kannst du nicht bleiben.« Er schluckte, als er sah, wie Alex’ Augen sich augenblicklich zu Schlitzen verengten, hasste sich selbst für die Furcht, die seine Kehle zusammenschnürte.

»Angst, ich könnte deinen High-Society-Freunden ans Bein pinkeln?«

So ist es, hätte Wolf ihm mit Freuden hingerieben; stattdessen sagte er lahm: »Es geht nicht! Ich nehm’ oft Arbeit mit heim, und dann brauch ich Ruhe!« Nun konnte er sich eine Spitze trotz allem nicht verkneifen: »Vergiss nicht, dass ich den Stoff erarbeite, den du grade versäufst!«

Alex griente. »Du bist und bleibst ein Ackergaul. – Meinetwegen, zeig mir die Bude!« Er ließ die Flasche aufs Sofa fallen, betrachtete stirnrunzelnd das gerahmte Aquarell neben dem Fenster – Schneewolf in Polarnacht, die Schnauze gen Himmel gereckt –, riss es urplötzlich vom Nagel und zerschlug es über seinem Knie.

»He, was soll das?!« Wolf sprang auf. »Lass die Finger von meinen Sachen!« Ungerührt schnippte Alex Glasscherben von seinem Bein. »Es gefiel mir einfach nicht, Lupo …«

Mit Absicht hatte Wolf ein Zimmer nördlich der Donau gewählt, in der Vilsstraße, genügend weit von seiner eigenen Wohnung entfernt und, viel wichtiger, weit weg von BioVerdes. Dafür ganz in der Nähe des riesigen Weichser Einkaufszentrums, denn Alex würde es in einer reinen Wohngegend nicht lange aushalten. Der Vermieter war ein schmieriger Typ, Marke Gelegenheits-Junkie, der keine Fragen stellen würde, solange er jeden Monat Cash kriegte.

»Was ist mit dem Einstand?« Demonstrativ öffnete Alex den leeren, innen vom Schimmel angegrauten Kühlschrank, und Wolf rasselte eine Felslawine von der Seele, denn offenbar war der andere mit seiner schäbig möblierten, neuen Bleibe zufrieden.

»Normalerweise zahlt den der, der einzieht.«

»Und wovon?«

Ohne sich auf Diskussionen einzulassen, holte Wolf zwei bauchige Flaschen Chianti aus dem Einkaufszentrum.

»Hast du wenigstens einen Job?«, fragte der Biologe, als sie später gemeinsam an dem kahlen Tisch saßen, eine aufgerissene Tüte Salzbrezeln zwischen sich und die erste Flasche, dank Alex’ fleißigem Einsatz, dreiviertel leer.

»Klar doch.« Träge fischte Alex drei Handys aus einer seiner Plastiktüten, reihte sie vor sich auf dem Tisch auf. Nach einem weiteren Schluck Chianti begann er, sie zu vertauschen, schneller und schneller, wie beim Hütchenspiel.

»Und wo?« Wolf war nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte, erkundigte sich trotzdem.

»Auf’m Schrottplatz. Bei Brandlberg. Nähe Kalkwerke.«

»Wie bist du an den Job gekommen?«

»Hab jemanden kennen gelernt.« Der Wein machte Alex zugänglicher als gewöhnlich. Bei ihm musste man genau das richtige Quantum erwischen: Zu wenig Alkohol im Blut machte ihn mürrisch und reizbar, bei zu viel wurde er gewalttätig. Wie Wolf aus leidvoller Erfahrung wusste.

»Also, wenn dein Karren mal ne Panne hat, kann ich dir günstig Ersatzteile verschaffen.«

Wolf schwor sich insgeheim, dass er die eher in Usbekistan denn in Brandlberg holen würde! »Ich muss zur Arbeit.« Mit dem Kopf wies er auf die Handys: »Was ist das?«

»Moderne Telekommunikation. Nie davon gehört?« Alex griente selbstgefällig. »Absolute Schnäppchen. Dir mach ich glatt’n Sonderrabatt, wenn du eins willst!«

»Steck dir deine Telekommunikation sonst wohin!« Wolf zögerte, ehe er einen Schein aus der Brieftasche zog. »Der muss die Woche reichen, kapiert?«

Mit zornigen, ausladenden Schritten lief er den langen Gang hinunter, riss die Tür zum Sekretariat auf, ohne anzuklopfen. »Wo zum Teufel ist Strathmann?«

Die junge Aushilfssekretärin, an seine wechselnden Launen nicht gewöhnt, zog sich hinter ihren halbrunden Schreibtisch zurück, als fürchte sie einen physischen Angriff. »Dr. Strathmann … hat eine Besprechung.« Nervös fummelte sie mit dem Terminkalender, der prompt zu Boden fiel. Mit rotem Kopf klaubte sie ihn auf. »Bis um elf. Aber gleich danach …«

»So lang kann ich nicht warten. Wo ist die verdammte Konferenz?!«

»In Zimmer – warten Sie, ich sehe nach – in Zimmer 203. Aber Sie können dort nicht einfach …«

»Ich kann!« Wolf schmetterte die Tür hinter sich zu.

Glücklicherweise kannte er das Besprechungszimmer, was eine lästige Suche ersparte. Vor dem Raum holte er tief Luft, griff nach der Klinke und stieß die Tür weit auf, wie vorhin, ohne anzuklopfen.

Vier Paar Augen starrten ihm konsterniert entgegen, nur das fünfte blieb kühl-abwartend und gehörte zu Gregor Strathmann.

»Ich muss Sie sprechen, Strathmann!«, fauchte Wolf. »Jetzt!«

Die vier Herren an dem ovalen Tisch musterten ihn mit unverhohlener Neugier und einem gewissen Abscheu aufgrund seiner in ihren Kreisen unüblich rauen Manieren, ohne dass er sich das Geringste daraus machte.

»Falls Sie es nicht sehen sollten, Milano, ich bin in einer wichtigen Besprechung!« Strathmann sprach fast zu gelassen, genoss die moralische Überlegenheit, die ihm Wolfs unüberlegter Auftritt in den Augen seiner Gäste von vornherein verlieh.

»Und jetzt sprechen Sie eben mit mir!«

»Hören Sie, wer immer Sie sein mögen, das ist keine Art …«, fing der graumelierte Herr im edlen Boss-Zwirn links neben Strathmann an, im Ton eines Vaters, der ein aufsässiges Kind tadelt, doch Wolf ließ ihm keine Chance: »Halten Sie sich raus! Strathmann, kommen Sie!«

»Ich denke nicht dran. Sie können in meinem Büro auf mich warten.« Demonstrativ wandte sich Strathmann wieder den Papieren auf dem Tisch zu, aber im nächsten Moment war Wolf bei ihm, fegte die Akten samt dem daneben stehenden Glas zu Boden, dass das Mineralwasser auf die Hose des Graumelierten spritzte, der seine kultivierte Ruhe verlor und empört aufschrie: »Was fällt Ihnen ein, Sie … Sie …«

»Entschuldigen Sie, Karl.« Strathmann reichte dem Melierten eine Papierserviette und wandte sich an die Runde. »Meine Sekretärin wird Ihnen Kaffee servieren; indessen werde ich dieses … Problem«, dabei sah er Wolf an, als ekle er sich vor ihm, »kurz regeln.« Mit gespielter Gelassenheit erhob er sich, sprach ein paar Worte für die Sekretärin in sein Handy und ging hinaus, ohne Wolf eines Blickes zu würdigen.

Wolf Milano blickte von dem sich hektisch das Bein trocknenden Graumelierten zu den geschockt-neugierigen Mienen der drei anderen Männer und sagte mit plötzlicher Ruhe: »Was für Geschäfte immer Sie mit Strathmann zu machen beabsichtigen, ich bin sicher, dass sie Ihnen nicht zum Vorteil gereichen werden. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Draußen auf dem Gang ließ Strathmann die Maske des Mannes, der alles im Griff hat, fallen: »Sie sollten einen Psychiater aufsuchen, Milano!«, zischte er wütend. »Sich für einen Benimmkurs anmelden! Oder ist das bei Ihnen im Institut der übliche Ton, dass man ungefragt in eine wichtige Konferenz platzt und dort eine Sintflut anrichtet?«

»Halten Sie bloß den Mund!«, bellte Wolf zurück. »Ist das in Ihren Augen etwa die anständige Art, dass Sie hinter meinem Rücken einen Bericht an die Geschäftsführung schicken, in dem Sie sich beklagen, ich hätte eine unverhältnismäßig teure Firma mit der Entsorgung Ihrer Giftmüll-Erde beauftragt? Dass Sie, ohne sich mit mir abzustimmen, den von mir erteilten Auftrag canceln und an einen dubiosen Billig-Anbieter vergeben?!«

»Wenn Sie nicht die letzte Konferenz geschwänzt hätten, hätten Sie gern mit über die Entsorgungsprobleme diskutieren können«, konterte Strathmann eisig.

»Eine Konferenz, von der Sie mich genau zwei Stunden vorher verständigt hatten! Als ich bereits auf dem Weg zum Flughafen war, um ein Seminar in Hamburg zu halten!«

»Ihre sonstigen Verpflichtungen sind für die PharmaSystra nicht von Belang.«

Wolf Milano wusste, dass er sinnlos herumstritt. Strathmann war aalglatt, schwer zu fassen und noch schwerer, seit Mona Wahied ihn, Wolf, nicht mehr heimlich von wichtigen Entwicklungen in Kenntnis setzen konnte. »Sie wollen mich loswerden«, sagte er, nun eher resigniert. »So wie Sie Mona Wahied loswerden wollten – oder losgeworden sind? Vielleicht wissen Sie mehr über den Tod der Frau, als Sie der Polizei erzählt haben?!«

Strathmann hielt seinem Blick stand. »Und was ist mit Ihnen? Glauben Sie, ich hätte nicht bemerkt, wie Sie ihr nachgestiert haben, wann immer Sie hier waren? Vielleicht sollte ich die Polizei mal zu Ihnen schicken, Milano! Vielleicht sind Sie nicht nur ein arroganter, rechthaberischer Obergrüner, sondern gar … ein Mörder?«

Wolf musste an sich halten, um dem Mann nicht hier und jetzt die Hände um den Hals zu legen. Flüchtig dachte er daran, wie viel Genugtuung es ihm bereiten würde, Alex und Bert dafür zu bezahlen, dass sie Strathmann einen Freundschaftsbesuch abstatteten …

»Ya ibni! Mein Sohn!« Karim quälte das übliche schlechte Gewissen, als ihn die Mutter liebevoll umarmte, obwohl er sich so lange nicht hatte blicken lassen. Verlegen fragte er, ob Yasmina ebenfalls zum Essen käme.

Magda verneinte. »Sie musste mit Maha zum Arzt. Die Kleine ist auf dem Spielplatz vom Klettergerüst gestürzt und hat sich nur ein bisschen die Hand verstaucht. Aber du kennst Mina; sie wollte unbedingt, dass das Gelenk geröntgt wird. Und anschließend geht sie mit dem Kind zu dieser Frau Sanders, damit deren Nellie und Maha miteinander spielen können.«

Bevor Karim dazu kam, das erwartete Bedauern über den Unfall auszudrücken, stand sein Vater in der Tür. »Sieh an, der Herr Journalist schaut mal wieder vorbei!« Karim fragte sich wie jedes Mal, ob er sich die Note Spott und Verachtung, die er herauszuhören meinte, nur einbilde und wusste es nicht.

»Kommt essen!« In Magdas Stimme schwang leise Furcht; vermutlich fürchtete sie, ihr Sohn könne wie so oft anfangen, mit Youssef zu streiten, und Karim mochte sie zu sehr, um ihr das anzutun, freute sich stattdessen wortreich und ehrlich über die gebackenen Auberginen, die zu seinen Lieblingsgerichten zählten.

»Wie läuft das Geschäft, ya abi?« Versäumte er bei einem Besuch, sich nach Youssefs Gemüsegroßhandel zu erkundigen, war der Vater wochenlang eingeschnappt; stellte er die erwartete Frage, musste er auf die unvermeidlichen Vorhaltungen gefasst sein, warum er nicht ins Geschäft einsteigen wollte, wie Youssef El-Bandary das für den einzigen Sohn geplant hatte …

»Ausgezeichnet, wie immer! Wir haben diesem modernen Trend Rechnung getragen und Biogemüse in unser Angebot aufgenommen. Wenn ich mich auch frage, warum ich mir mit dem Geschäft so viel Mühe gebe, wo sich mein einziger Sohn überhaupt nicht dafür interessiert.«

Karim zwang sich, die Spitze zu überhören, pries jetzt die gefüllten Weinblätter, und Magda strahlte. »Isst du überhaupt anständig, wenn du allein bist? Du kommst viel zu selten, dass ich dir was Gutes kochen kann.«

»Ich hab viel Arbeit.« Karim wusste, das war seine Chance, auf Mona Wahied zuzusteuern. Er erwähnte den Artikel, den er über ihren Tod verfasst hatte, hängte rasch die Frage an: »Kennt ihr diesen Abdul, ihren Cousin?«

»Flüchtig«, sagte Magda. »Er hat keinen besonders guten Ruf, hört man.«

»Den hatte dieses Mädchen erst recht nicht«, knurrte Youssef hart. »Wenn meine Tochter sich so aufgeführt hätte wie diese Mona, das hätte ich sofort abgestellt! Einsperren würde ich so eine! Ihre Familie ist wahrlich nicht zu beneiden!«

Wohnten Monas Eltern hier in Regensburg?

Karims Mutter verneinte. Den Gerüchten nach war Mona Vollwaise gewesen, und die hiesige Verwandtschaft beschränkte sich auf ihren invaliden Onkel und dessen Kinder.

»Warum hat dieser Abdul einen schlechten Ruf? Ich meine, was erzählt man über ihn?«

»Na ja«, Magda warf ihrem Mann einen vorsichtigen Blick zu. »Er ist … ein bisschen zu arg hinter den Frauen her, zumindest sagen das alle.« Das alle bedeutete in ihrer Terminologie, wie Karim wusste, die verheirateten Frauen der arabischen Gemeinde Regensburgs. Und die waren in familiären Angelegenheiten besser informiert als jeder Geheimdienst.

»Aber Mona Wahied mochte ihren Cousin nicht?«

»Ich will diesen Namen nicht ständig an meinem Esstisch hören!« Youssef wurde laut, und Karim wusste aus Erfahrung, dass es besser war, das Thema zu wechseln.

»Kennt ihr diese Nellie Sanders, zu der Maha jetzt so häufig geht? Besucht sie dieselbe Schule?«

Erst als sein Vater nach dem Essen ins Büro fuhr, wobei er demonstrativ versäumte, sich von Karim zu verabschieden, konnte ein freieres Gespräch stattfinden.

»Dieser Abdul, ummi. Weißt du, wo er arbeitet?«

In einer Bank, erzählte Magda. Und er sollte ein ausgesprochen intelligenter junger Mann sein, vor allem, was Geldangelegenheiten betraf. Magda zögerte, wiederholte dann, was sie vorher gesagt hatte: »Aber privat hat er einen schlechten Ruf.«

»Bloß, weil er ein Frauenheld ist?«

Die Mutter schwieg eine Weile. »Laa, nein. Nicht nur deshalb.«

»Was stellt er also an?«, drängte Wolf Milano, als sie sich abends im Tea Shop trafen, um von dort aus gemeinsam zu dem Keyboarder zu fahren.

Karim warf einen kurzen Blick zu seiner Schwester, die die letzten Teegläser forträumte. »Er … nun, er behandelt Frauen nicht gut.«

»Heißt im Klartext?«

»Er war mal verlobt, aber er hat die Frau geschlagen. Brutal geschlagen. Daraufhin haben ihre Eltern die Verlobung gelöst.«

»Kein Wunder, dass Mona ihn abwies«, sagte Yasmina von der Theke her.

»Sie spielte mit ihm«, erinnerte Wolf. »Das hatten Sie uns selbst erzählt.«

Ja, dachte Karim, und wer mit dem Feuer spielt, kommt manchmal darin um … Und er wusste, dass sich neben Strathmann und Charlie jetzt ein weiterer Verdächtiger geradezu aufdrängte.

Im Wagen, auf dem Weg nach Stadtamhof, überlegten sie, wie sie am unauffälligsten an diesen Abdul rankommen könnten.

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte Yasmina leise.

Wolf Milano blickte sie an, begriff eher als Karim. »Sie meinen, Sie müssen selbst mit ihm …?«

»Bloß reden«, beschwichtigte Yasmina rasch, als sie die Miene ihres Bruders sah.

»Und wenn er ausrastet?« Karim gefiel die Idee nicht. Er spürte Milanos forschenden Blick und ärgerte sich. War es nicht die normalste Sache der Welt, dass ein Mann sich um seine Schwester sorgte?

Die Musik war bereits auf der Straße zu hören, dröhnend laut und derart traurig, dass es Karim irgendwo tief in seiner Brust berührte. Eine Musik, die zum Weinen verlockte, die die gesamte Welt einlud, an ihrer überwältigenden Trauer teilzunehmen. Ein wundervolles, schmerzerfülltes Requiem. Leider in gehörschädigender Lautstärke.

»Die Polizei sollte man rufen!«, empörte sich eine Gruppe Frauen, die müßig in der Straße stand und zornige Blicke zu Charlies Fenster sandte. »Seit über einer Stunde geht der Krach jetzt so!«

Die Haustür stand offen, auf der Treppe war die Dezibelzahl unerträglich hoch. Karim hatte das Gefühl, sein Blut würde in einem heftigeren Rhythmus durch seinen Körper pulsen als normal. Er eilte den anderen voran, stürzte in Charlies Zimmer und riss den Stecker des Keyboards aus der Dose.

Die Stille kam so abrupt, dass die Töne des Requiems weiter im Raum zu schweben schienen – leise nachschwingend, überirdische Stimmen aus einer anderen Welt. Der Welt, der Mona jetzt angehörte? Und der Keyboarder saß stumm, die schlanken Finger auf den Tasten, den Oberkörper zusammengesunken, während Tränen über seine Wangen liefen, ungehindert auf das Instrument tropften.

Zur Erleichterung der Männer nahm Yasmina die Situation in die Hand. Sie suchte in der winzigen Nasszelle nach einem Waschlappen, den sie Charlie brachte, damit er sein Gesicht abwischen konnte, und während der Israeli sich zu fangen versuchte, befüllte sie die kalkverkrustete Kaffeemaschine, die nebst Kaffee mit vor über einem Jahr abgelaufenem Datum auf einem mit Notenblättern, Brotkrümeln und Bleistiftstummeln übersäten Tisch in der Ecke stand.

»Das Stück, das du gespielt hast, was war das?«, fragte Karim, um die Stille zu überbrücken.

Der Keyboarder antwortete nicht, aber Yasmina, die bei der Kaffeemaschine geblieben war, las die Schrift auf den obersten, vollgekritzelten Blättern: Requiem für einen Engel …

Erst als die halbtote Maschine gurgelnd und spuckend eine braune Brühe produzierte, Yasmina dem Musiker einen Becher brachte, schien Charlie ihre Anwesenheit zu registrieren. »Erev tov, Schwester«, sagte er mit schwerer Zunge und wedelte unbestimmt in Richtung Wolf und Karim. »Shalom, Brüder.«

Karim konnte sich nicht überwinden, den Gruß zu erwidern und schämte sich dafür.

»Wenn du ausgetrunken hast, Charlie, gehen wir ein bisschen spazieren, ja?«, schlug Yasmina vor. »Es ist herrlich draußen.« Sie hegte die Hoffnung, die Abendluft würde den Betrunkenen ausnüchtern, und zu ihrer Freude schien er einverstanden, denn er kippte den Kaffee hinunter und stapfte vor den drei anderen hinaus.

»Willst du nicht absperren?«, fragte Wolf überrascht.

Charlie drehte sich um, blinzelte: »Wozu?« Und er stolperte die Treppe hinab.

Zu Yasminas Überraschung war es draußen der Musiker, der die Führung übernahm, ohne auf irgendwelche Fragen zu antworten die Donau entlanglief, die Steinerne Brücke überquerte, sie am Schuldturm vorbei in die Liliengasse führte.

»Hier hat sie gewohnt.« Es waren die ersten Worte, die er sprach, und Karim fragte hastig nach: »Mona?«

»Wer sonst, Bruder?«

»Charlie, hast du einen Schlüssel?«, drängte Wolf, und der Keyboarder nickte, wie in Trance. »Natürlich, Klar hab ich einen Schlüssel.«

»Würdest du uns reinlassen? In ihre Wohnung?«

Der Musiker grub in der einen Hosentasche, dann in der anderen. »Den Schlüssel hab ich nicht dabei.«

Yasmina sah, wie ihr Bruder hinter dem Rücken des Israeli die Augen verdrehte, kämpfte ihr Lachen nieder und wandte sich an Charlie: »Aber du hast wirklich einen Schlüssel, und du zeigst uns die Wohnung?«

»Morgen«, sagte Charlie langsam. »Morgen früh zeig ich sie euch. Vielleicht.«

Wolf murmelte, dass er am Morgen einen Termin habe.

Rasch beeilte sich Karim zu versichern, dass er und Yasmina auf jeden Fall kommen würden. »Wir holen dich ab, Charlie.« Und er bemühte sich, die Worte nicht wie eine Drohung klingen zu lassen.

Er kniete neben dem Tisch, mit schweren Eisenketten gefesselt. Er wusste, dass sie nebenan waren, hörte durch die offene Tür ihr gemeines, hartes Lachen, ohne dass er sie sehen konnte. Die Angst vor den namenlosen Gestalten schnürte ihm den Hals zu, er zerrte an den Ketten, sinnlos! Sie zogen sich weiter zu, vermehrten sich, umschlangen ihn enger und enger. Er konnte kein Glied mehr rühren, kaum atmen, würde ersticken, grausam ersticken!

Und plötzlich standen sie vor ihm, fast im Finstern, in dunkle Gewänder gehüllt. Er hörte sein eigenes, gequältes Keuchen, konnte keine Gesichter sehen, wohl aber die Steine, die sich aus sich selbst heraus mit Blut überzogen. Im Dunkeln leuchtendes Horror-Blut, das zu Boden troff, mehr wurde, immer mehr, bis es den Fußboden überschwemmte, die Hose an seinem Knie tränkte … »Nein, nicht! Minfadlak! Bitte nicht!« Er hörte sich flehen, hilflos, roch das Blut und seine eigene Angst, aber sie hatten kein Erbarmen, hoben die Steine, und plötzlich … Die Ketten hatten Köpfe bekommen, Schlangenköpfe, die sich drehten und wanden, um ihn zu beißen, zu töten! Er schrie, schrie so laut er konnte, in panischer Angst.

Als Karim aufwachte, lag er vor dem Bett auf dem Laminatboden, hoffnungslos in die Decke verwickelt. Noch immer in Panik kämpfte er sich frei, rannte ins Bad, schöpfte mit beiden Händen kaltes Wasser, ließ es über sein brennendes Gesicht rinnen. Sein Herz hämmerte in einem rasenden Stakkato; er fühlte sich sterbenskrank, als müsse er sich im nächsten Moment übergeben.

Der alte Traum. Der Traum seiner Jugend. Albtraum seiner Jugend. Adil und er. »Komm mit uns!«, rief Adil. »Auch du bist unser Bruder. Komm, oder bist du in deinem Deutschland ein Feigling geworden?!« Und Karim roch den trockenen Staub der Straße, den leichten Tabakdunst, der von dem Café gegenüber heranwehte, und die Übelkeit überwältigte ihn vollends.

Der Traum war einer der Gründe, weshalb er das Haus seines Vaters so selten aufsuchte. Youssef El-Bandary war Araber geblieben, trotz all der Jahre in Deutschland. Und wenn es nach Youssef ginge, würde er seinen Sohn nach wie vor jeden Sommer nach Gaza zwangsverschicken, zu Adil und Onkel Nagib … Nach Besuchen bei seinem Vater träumte Karim oft die schreckliche Szene mit den Steinen. Den Steinen, die sein Gesicht zu entstellen, in eine Maske aus Blut, Angst und Schmerz zu verwandeln suchten … Wie damals, bei dem Soldaten …

Im nächsten Moment fand sich Karim vor der Toilette, auf den Knien. – Zurück ins Bett? Unmöglich. Der Traum mochte sich wieder heranschleichen, ihm erneut die Luft abdrücken, die Scham bescheren, die er zu vergessen suchte.

Er fand sich am Computer wieder, im Chat, nach dem er sich die letzten Nächte gesehnt, und den er doch geflissentlich gemieden hatte.

Wo hast du gesteckt, Goldfalke? Ich hoffe, du warst nicht krank.

Sie sorgte sich um ihn! Er vergaß, dass er Amazonen nicht mochte, tippte ohne zu überlegen: Ich fühle mich krank.

Was ist passiert?

Plötzlich kam er sich idiotisch vor, einer Frau, die er nicht mal kannte, Dinge anzuvertrauen, die er bisher niemandem außer Yasmina gesagt hatte. Eigentlich nichts. Ich habe schlecht geträumt.

Zu schade, dass ich dir schöne Träume nicht als Mail-Anhang schicken kann …

Er lächelte, das Würgen in der Kehle ließ nach, doch er fühlte sich schwach, fiebrig.

Wenn du es mir wünscht, ist es, als hättest du es mir gegeben, schrieb er und fühlte angenehme Wärme seinen Körper durchströmen. Aber ins Bett kehrte er die ganze Nacht nicht mehr zurück.

Donaufeuer

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