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3. Kapitel

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Karim hatte eine Weile mit Isis gespielt, sich danach in den Chat geflüchtet, wie jedes Mal, wenn ihm das Leben zu kompliziert wurde – oder wenn er sich vor den Träumen fürchtete, jenen Horror-Träumen von Blut und Tod, die er nie, nie jemandem würde verraten können, nicht einmal Yasmina. Nachtvogel erzählte in bester Laune, wenngleich etwas wirr, von einem Theaterstück, das sie gesehen hatte, Hamlet, und Karim konnte nicht umhin, seine eifersüchtige Frage zu tippen: Warst du in Begleitung?

Sicher. Allein machts keinen Spaß.

Scheiße! Er starrte auf den Bildschirm, fingerte an dem Horus-Amulett, das er seit seiner Studentenzeit um den Hals trug. Vielleicht sollte er wirklich wieder seine Eltern besuchen, die Heiratskandidatinnen der Mutter an sich vorbeidefilieren lassen? Allein fand er ja wohl nie eine oder zumindest keine für Dauer … Flüchtig dachte er an Verena. An Felix, den er problemlos als seinen Sohn aufgezogen hätte, wenn Verena bei ihm geblieben wäre. Aus und vorbei. Besser wäre es, nicht mehr daran zu denken, aber die Wunde saß zu tief … Er konnte den Abend nicht leichthin vergessen, jenen grauenhaften Abend, als sie ihm mit der Kälte einer Familienpackung Tiefkühlfisch mitteilte, dass sie ihn verlassen werde. Dass sein Sohn nicht sein Sohn war, sondern der Spross dieser Gartenmöbelfabrikanten-Dynastie. Nicht einmal den üblichen, bescheuerten Standardspruch, dass es schön gewesen sei, dass sie Freunde bleiben würden, nicht einmal diesen kläglichen Trost hatte sie seinem geschundenen Ego gegönnt …

He, Goldfalke, hockst du in der Schmollecke oder was? Ich war mit einer Freundin dort. Kannst du wohl kaum was dagegen haben. Außerdem hab ich deinetwegen heute sogar mein Training geschwänzt!

Horus hatte geholfen! Über Karims Gesicht breitete sich ein Lächeln. Training? Was trainierst du? Er stellte sie sich im Aerobic-Anzug vor, eng anliegender, schwarzer Body, die weiße, runde Brust betonend. Jene Brust, die er fast meinte, unter seinen Fingern zu spüren. Deren Spitzen sich in Erregung aufstellten … Doch da war nur die graue Kunststoff-Maus in seiner zärtlichen Hand …

Kampfsport. Und ich meine damit nicht das Gerangel im Bett …

Taekwondo und Karate! Eine Amazone statt dem sanften Reh seiner Träume. Er fiel eben ständig auf die Falschen rein! Er brauchte keine Frau, die die Frühstückseier per Fußkick in die Pfanne beförderte, er wollte eine, die … Ja, was eigentlich?

Der Chat hatte seinen Reiz verloren; Karim unterhielt sich anstandshalber eine Weile weiter, loggte sich endlich mit einem Gefühl tiefer Depression aus. Noch im Bett dachte er darüber nach, was er denn von seiner Zukünftigen erwarte.

Nervös saß er auf dem unbequemen Stuhl. Die Tische in dem kleinen Café standen weit auseinander, blasse Inseln der Einsamkeit, zwischen ihnen schwappte eisgrünes Wasser, was Karim seltsamerweise als nicht allzu ungewöhnlich empfand. Seine Hand umklammerte den Stängel einer Lotusblüte, doch als die Frau durch die Tür kam, die Frau, auf die er wartete, nach der er und seine hormongesteuerte Leistengegend sich verzehrten, sah er auf die Blume hinab und stellte mit Entsetzen fest, dass sie sich in seiner Hand in eine zuckende, schwarze Echse verwandelte, die ihn aus tückischen Reptilienaugen anstarrte … Und die Echse begann zu tuten …

Das Telefon! Im Dunkeln tastete er nach dem Hörer, dankbar, dass die Technik den Albtraum unterbrach.

»Karim?!« Wie zum Teufel schaffte Joe das, dass er mitten in der Nacht frisch wie die lauteste Morgenlerche klang? »Karim, ich hab einen Tipp gekriegt, du musst sofort nach Manhattan, in den Königswiesner Park! Ein Toter! Mord, so viel ist klar!«

»Warum fährst du nicht selber? Du wohnst fast dort!«

»Ich … na ja, ich bin nicht zu Hause …« Karim konnte das Weib in Joes Bett in Gedanken vor sich sehen: jung, top-gestylt, bis unters Haarspray verliebt und bewundernswert akrobatisch. Warum kriegte der Mistkerl alle rum, und er, Karim, schlief allein, und träumte von Echsen und Amazonen?

Königswiesen-Nord, wegen seiner Hochhäuser-Skyline von den Einheimischen liebevoll Manhattan genannt. Wie immer waren die von der Mittelbayrischen vor Karim am Tatort. Der Tote lag unter trügerisch idyllischen Bäumen, höchstens zweihundert Meter vom Parkplatz entfernt, der Spurensicherung wegen noch genau so, wie er gefunden worden war. Ohne zu wissen, weshalb, hatte Karim sich einen Deutschen vorgestellt, aber es handelte sich um einen jungen Türken mit einer blutverkrusteten Schädelwunde und den unübersehbaren Spuren einer offenbar aufs Brutalste eskalierten Schlägerei.

»Taxifahrer war der«, wusste ein Kollege von der Mittelbayrischen. »Ein netter Kerl, immer guter Laune und so. Sein Wagen steht im Parkweg. Wahrscheinlich hat er letzte Nacht die Falschen einsteigen lassen.«

»Die Tageseinnahmen?«

»Futsch, natürlich.« Der Kollege gähnte; sein blondes Haar stand steil in die Höhe, als habe er in der Eile seinen Kamm nicht gefunden. »Raubmord. Die Polizei sieht’s genauso. Kann ich wieder heim und mich ins Bett hauen.«

Karim trat zu den Polizisten, und einer der Beamten, ein sehr junger Mann, die Blässe des Schocks im Gesicht, konnte nur immer wieder den Kopf schütteln: »Seine Arme und Beine … Alle Knochen kaputt, als habe man ihm die Glieder mit einer Eisenstange zu Brei geschlagen. Schauen Sie bloß nicht zu genau hin, sonst kotzen Sie die Büsche voll, und die Spurensicherung ist sauer …«

Wieder einmal hatte Karim sein Notizbuch vergessen, kritzelte das Wichtigste in Miniaturbuchstaben auf die Rückseite eines Parkscheins, den er im Wagen zwischen den Sitzen ausgegraben hatte. Name: Mehmet Büyün. Alter: Einundzwanzig. Tod infolge Schädelverletzung. Entdeckt hatte die Leiche ein Jurastudent aus dem nahe gelegenen Wohnheim, der nach einem hitzigen Streit mit seiner Freundin durch den nächtlichen Park streunte, um seine Wut runterzukühlen. Als Täter kam der vor Entsetzen stammelnde Junge nicht in Frage, denn die Auseinandersetzung mit der Freundin hatte sich in der Magenta-Bar über den ganzen Abend hingezogen, was sich leicht nachprüfen lassen würde.

»Plus: Fundort ist nicht identisch mit Tatort«, erklärte der junge Polizist, dem es offenbar gut tat, über die grauenhafte Entdeckung reden zu können. »Die Kollegen sind absolut sicher. Der Taxifahrer wurde woanders getötet und dann in seinem eigenen Wagen hierher in den Park gebracht.«

Das Gelände wirkte seltsam gespenstisch, als Karim zum Auto zurückging, Realität gewordene Geisterbahnkulisse. Schemenhafte Menschen zwischen bedrohlich finsteren Büschen, die Schatten der Bäume durch die Polizeischeinwerfer scharf und langfingrig, als wollten sie nach ihm greifen. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, und Karim zuckte zusammen. Es musste nicht der Hund sein, es konnte, nein, musste sich um einen harmlosen Dackel handeln, der seinem schlafgestörten Rentner-Herrchen beim Nachtspaziergang Gesellschaft leistete, aber … Karim blickte mehr über seine Schulter als geradeaus, lief versehentlich fast in einen Baum; seine Schritte wurden schneller und schneller. Der Hund kläffte erneut, genauso heiser wie … Karim sprang ins Auto, drückte die Zentralverriegelung, ließ den Motor des Mazdas aufheulen, als er aufs Gas trat, um so schnell wie möglich fort zu kommen.

Überregionale Zeitungen bewiesen kreative Fantasie, spekulierten neben der simplen Raubmord-Theorie über Ausländerhatz in der rechten Szene oder einen Bandenkrieg unter Drogendealern Karim musste zugeben, dass sich seine eigene Fassung der Nacht dagegen recht nüchtern anhörte, und er befürchtete, es könne Joe unangenehm auffallen. Womöglich seine Probezeit in Arbeitslosigkeit verwandeln, ein weiteres Gespenst schlafloser Nächte.

Doch er hatte seinen Chef unterschätzt. Den interessierte etwas anderes. »Zwei Tote, Karim, in so kurzer Zeit! Und beides Araber. Da muss es eine Verbindung geben, soviel Zufall existiert einfach nicht!«

»Ein Türke und eine Araberin«, berichtigte Karim, aber Joe hörte nicht zu.

»Du musst die Verbindung finden, Karim! Bleib dran, hörst du?! Bleib dran!«

Eine Verbindung zwischen Mona Wahied und dem Taxifahrer? Ausländerjagd … Karim erinnerte sich an Schlagworte, die er nicht einmal kennen wollte. Negerklatschen, zum Beispiel … Braune Stiefel mit weißen Senkeln im Marschtakt. Schläge und Tritte … Und plötzlich wieder Gaza. Allein die Vorstellung reichte für einen halben Herzinfarkt … Tränengas und Gummimantelgeschosse … Das Rattern einer Uzi … Blutige Kleider, sterbende Menschen … Särge, mal bedeckt mit der Flagge der Palästinenser, mal mit dem blau-weißen Tuch der Israelis …

Karim tat, was in schwierigen Zeiten immer half, er fuhr zum Tea Shop. Überrascht stellte er fest, dass Wolf Milano an dem Tisch im Eck ahwa trank und sich angeregt mit Yasmina unterhielt.

»Ya achi! Mein Bruder!« Sie begrüßte ihn wie immer, doch er erwiderte ihre Umarmung nur halbherzig, den Blick auf den Biologen gerichtet. Er hatte keine Ahnung, woran es lag, aber er mochte den Mann nicht mehr. Weil er sich an Yasmina ran machte? »Sie haben’s sicher gelesen?«

Milano nickte. »Mit dem Taxifahrer? Ja.«

»Und was meinen Sie?«, bohrte Karim nach.

»Dass jemand dringend Geld brauchte.«

»Sie sehen keinen Zusammenhang?«

»Mit dem Tod von Mona Wahied?« Der Biologe zögerte einen Moment zu lange, wie Karim fand, ehe er entschieden verneinte, um dann das Thema umzulenken: »Haben Sie eigentlich mal mit jemandem von Monas Familie geredet?«

Yasmina bot an, das zu übernehmen. »Ich habe mit ummi gesprochen. Sie hat über eine Bekannte gehört, dass eine junge Cousine Monas an der Campingplatz-Rezeption arbeitet.«

»Wer ist ummi?« Milano missfiel es sichtlich, wenn er etwas nicht gleich verstand.

»Meine Mutter.« Yasmina wandte sich an Karim. »Sie hat sich beschwert, dass sie dich seit ewigen Zeiten nicht mehr zu Gesicht bekommt.«

»Ich bin sehr beschäftigt.«

»Ja, vor allem mit deiner neuen Liebe«, neckte die Schwester.

Die Martial-Arts-Fanatikerin. Kung Fu und Tae-Bo. Eine Frau mit den Muskeln einer Kampfmaschine, den Oberschenkeln eines T-Rex … Karim wollte nicht daran erinnert werden. »Wir sollten vor allem Monas Freund ausfindig machen. Diesen Charlie. Wenn er in einer Band spielt, müssen die irgendwo auftreten, in Bars oder in der Alten Mälzerei, auf Hochzeiten, was immer.«

Er war entschlossen, nicht vor Milano zu gehen, seine Schwester nicht mit dem Mann allein zu lassen. Glücklicherweise musste der Biologe bald in das Institut zurück. Als die beiden Männer vor die Tür traten, sahen sie gerade das weiße Hinterteil des Bullterriers in den Minoritenweg einbiegen.

Karim fühlte, wie seine Hände zitterten. Unerklärliche Panik erfasste ihn; seine Lippen wollten nicht gehorchen, er begann zu stottern: »Ich … ich will das nicht mehr! Der Kerl, der beobachtet uns! Ich bin sicher, dass er uns beobachtet! Ich … ich …«

Er spürte, wie Milanos Hand ihn hart am Arm fasste. »He, Bandary, beruhigen Sie sich! Er ist weg, verstehen Sie? Er ist weg!« Der Biologe schüttelte Karim so lange, bis dieser sich wieder fing. »Sie haben wirklich ein massives Problem mit Hunden.«

»Es ist nicht der blöde Köter!«, hörte Karim sich fauchen. »Es ist … meine Schwester! Sie steht so oft allein im Laden, und wenn dieser Kerl dauernd hier rumschleicht …!«

»Er tut niemandem etwas. Er führt seinen Hund spazieren. Vielleicht ist wirklich nicht mehr dran!«

»Und wenn doch?«, fragte Karim verzweifelt. »Er ist ein Skinhead, das haben Sie selbst gesagt! Einer der militanten Sorte!« Und die Worte des Polizisten hallten in seinem Ohr: Skin-Treffen in Regensburg. Vielleicht hatten die Journalistenkollegen nicht Unrecht mit ihren Theorien von Rassismus und braunem Hintergrund … Schläge … Schläge, die seine Rippen splittern, seine Lippen platzen ließen … Wie sollte dieser idiotische Biologe seine Angst verstehen, ein Mann, dessen Job darin gipfelte, für Kaulquappen Tümpel zu graben, damit die Tierchen in netter Umgebung zu psychisch gesunden Fröschen heranwachsen konnten?! Ein Mann, der Blut höchstens sah, wenn er sich in den Finger schnitt! Der nie mit einem Sack über dem Kopf … Es kostete Karim unendliche Mühe, die Erinnerung abzudrängen, zu blocken. Wie so oft in Stresssituationen berührte er den Horusfalken, und wie fast jedes Mal fragte er sich, ob das Amulett Segen oder Fluch brachte. Er war nicht im eigentlichen Sinne abergläubisch, aber er wurde die Gewissensbisse nie richtig los, das Schuldgefühl, das ihn immer überkam, wenn er daran dachte, dass der Falke gestohlen war. Denn anders ließ sich das, was er getan hatte, wohl kaum bezeichnen …

Die Kleine war gerade siebzehn, mit der Realschule fertig. Und, verglichen mit anderen Teenagern, auffallend dezent gekleidet, in eine cremefarbene Langarmbluse und dunkle Jeans. Ebenso zurückhaltend geschminkt, mit lediglich einer Spur Mascara, einem Hauch Lipgloss, einer Andeutung von hellem Lidschatten. Für den Job am Campingplatz hatte sie sich beworben, weil sie der Kontakt mit den vielen Fremden reizte, die Regensburg besuchten. Bekommen hatte sie die Stelle aufgrund ihrer Eins in Englisch, wie sie Yasmina stolz erzählte, während sie bunte Prospekte auf die Rezeptionstheke räumte: Werbung für Ausflüge zur Walhalla, zur Tropfsteinhöhle Schulerloch, zum Donaudurchbruch bei Weltenburg.

»Standet ihr euch nahe, deine Cousine Mona und du?«

Leila verneinte. »Mona – hatte kein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Familie in Ägypten, und erst recht nicht zu meiner.« Die Eltern hatten der jungen Frau den Kontakt zu Mona verboten, schon damals, als Mona wegen ihrer ersten Liebe zum Christentum übergetreten war.

Hatte sie sich an das Verbot gehalten?

Das junge Mädchen zögerte, schlichtete einen Stapel Altstadtpläne im Miniformat exakt auf Kante, gestand schließlich, dass sie sich ab und an heimlich im Café Prock getroffen hätten, alle paar Monate höchstens, aber Mona hatte bei diesen Gelegenheiten nicht viel über sich erzählt. »Nur, dass Abdul ihr nachstelle. Obwohl unser Vater das nicht wollte.«

»Wer ist Abdul?«

»Mein Bruder. Monas Cousin. Er war von Mona fasziniert, obwohl er ihre – Art zu Leben genauso scharf verurteilte wie mein Vater. Mona sagte, er ginge ihr schrecklich auf die Nerven, aber manchmal hatte ich das Gefühl, sie spielte ganz gern mit ihm.« Mit plötzlicher Reife fügte Leila hinzu: »Sie spielte immer gern mit dem Feuer, Mona, meine ich.«

Hatte Mona Freundinnen gehabt? Yasmina überlegte, was sie noch fragen könne, selbst, wenn sie mittlerweile bezweifelte, dass Leila wirklich etwas Nützliches wusste.

Die junge Frau verneinte. Von Freundinnen hatte Mona nie gesprochen. Und über ihren Freund schon gar nicht.

»Kannst du dir vorstellen, weshalb sie sich … das Leben …«

»Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen«, sagte Leila.

»Wo fangen wir an?«, fragte Karim mit nicht gerade übertriebenem Enthusiasmus. Milano und er hatten verabredet, gemeinsam durch die Kneipen zu ziehen, um den mysteriösen Keyboarder aufzustöbern, aber den Journalisten drängte es an den PC, in die Chatrooms. Vielleicht würde er heute eine finden, die keine Amazone war, sich mit Seidenmalerei oder andalusischem Hoftanz beschäftigte anstatt mit dem Erwerb bunter Gürtel, dazu gedacht, der staunenden Männerwelt ihre Gefährlichkeit zu demonstrieren …

»Irish Harp? Ich hab übrigens versucht, ihn im Internet zu finden, diesen Charlie. Dachte, er inseriert seine Auftritte vielleicht im Netz. Aber unter Regensburg war da nichts.«

Karim meinte, dass man den Musiker im Web nur unter dem Namen der Band finden würde. Und den hatten sie nicht.

»Ja«, sagte Milano, als er in den Wagen stieg, »leider.«

Die irische Kneipe war rappelvoll, die Luft zum Ersticken dick, aber Wolf boxte sich gekonnt zur Theke durch, um ein Kilkenny zu ordern. Und während er nebenbei zwei junge Frauen betrachtete, die Geburtstag, Junggesellinnenabschied oder Scheidung mit einem ausgelassenen Gelage und explosionsartigen Lachanfällen feierten, fragte er die Barkeeper nach dem Keyboarder Charlie, doch sie kannten ihn nicht. Im Don Juan und im Frizz hatten die beiden Freizeitdetektive genauso wenig Erfolg.

»Hören Sie«, schlug Karim schließlich vor. »Warum fahren wir nicht einfach zum Kneitinger raus? Auch wenn dieser Charlie dort nie gespielt hat, irgendeiner der Studenten kennt ihn bestimmt, oder weiß zumindest, wo er auftritt.«

Der Kneitinger, Regensburgs größter Biergarten mit über tausend Sitzplätzen unter obligatorischen Kastanien, war aufgrund der noch immer frischen Nächte zu dieser späten Stunde – immerhin ging es mittlerweile auf Zehn – fast leer. Umso belebter präsentierte sich die zugehörige Gaststube. Karim und Milano wählten einen Platz ziemlich in der Mitte; Karim bestellte Cola, Milano Wein.

»Sie trinken keinen Alkohol?«

»Ich bin Moslem.«

»Oh, ja, natürlich.«

Karim hasste es, wenn die Leute ihn nach diesem Geständnis anstarrten wie ein exotisches Tier, aber Milano tat nichts dergleichen, sondern wandte sich zu der fröhlichen Gruppe, die sich gleich neben ihnen munter zuprostete.

»He, kennt einer von euch einen Keyboarder namens Charlie?«

»Der Charlie, der sitzt da drüben!« Einer der Angesprochenen wedelte vage in Richtung des nächsten Fensters, doch als Karim aufspringen wollte, fügte der junge Mann mit spitzbübischem Grinsen hinzu: »Aber Keyboard spielt der nicht, höchstens Schach, und selbst das grottenschlecht.«

Der Nächste, den sie fragten, war ein missmutiger Chemiestudent im fünften Semester, der, was man ihm nicht ansah, zu reichlich getankt hatte, um sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Trotzdem wusste er genau, dass er erstens die Klausur in physikalischer Chemie total versiebt hatte und mindestens drei Charlies kannte, aber nicht wusste, ob irgendeiner davon Keyboard spielte.

»Keyboard? Ein Keyboarder namens Charlie?«

Die Gläser in der Hand, hatten sie sich bereits durch das halbe Lokal gefragt, ehe Milano auf das Mädchen stieß. »Ihr sucht den Charlie?«

»Wenn er Keyboard spielt …«, präzisierte Milano vorsichtig.

Sie war ausgesprochen hübsch, mit langen, dunklen Haaren und einem zarten, noch winterblassen Gesicht, musterte den Frager aufmerksam, als habe er ihr eine Prüfungsaufgabe gestellt.

»Der Tom und der Charlie, die spielen mal hier und mal da«, wusste sie. »Steht ihr beide auf Bob Dylan?«

»Wie heißt die Band?«, erkundigte sich Karim rasch, ohne ihre Frage zu beantworten.

» Sunny Night Dreams. Üben tun sie immer beim Tom.«

»Und wo genau ist das?«

»Landshuter Straße. Die Adresse steht in der Homepage von der Band. Aber wenn ihr mit dem Charlie reden wollt, solltet ihr nicht zu spät am Abend hingehen …«

»Warum?«

»Weil er nach zehn grundsätzlich stockbesoffen ist.«

»Ein Säufer«, sagte Karim verächtlich, als sie zum Auto zurückkehrten. »Deshalb hat Mona nie über ihn geredet, ihn nicht mal ihrer Cousine vorgestellt, keine zu engen Freundschaften geschlossen! Aus Scham!« Er wollte gleich losziehen, diesen Tom aufsuchen, aber Milano erinnerte ihn, wie spät es war. Zu spät, um bei irgendeinem Unbekannten aufzukreuzen. »Und überhaupt, wie brauchen den Keyboarder nüchtern, okay?«

Er schob die Tür auf und begriff sofort, dass der Kerl diesmal noch in der Wohnung war. Ihm wurde heiß und kalt zugleich; unentschlossen blieb er im dunklen Flur stehen, schluckte hart.

»Komm rein, Lupo, ist schließlich dein Wohnzimmer!«, hörte er Alex’ Stimme, verwischt und schleppend.

Was sollte er tun? Fortlaufen? Aber wohin? Resigniert durchquerte er den Flur, blickte ins Wohnzimmer und hätte am liebsten sofort kehrtgemacht. Flaschen auf dem Tisch, auf dem Fußboden, auf der Hifi-Anlage. Eine zersprungene CD blinkte zu seinen Füßen ein mattes SOS zur Deckenlampe. Auf dem Sofa Alex, die ausgetretenen Latschen auf dem Tisch, die verschiedenfarbigen Augen vom Suff gerötet. Im Sessel ein wildfremder Glatzkopf, im dreckigen Muskelshirt mit dem zumindest in Wolfs Augen wenig verlockenden Aufdruck Fuck me!, auf dem Bodybuilder-Oberarm einen tätowierten Piratenkopf nebst dekorativen Knochen – eine Flasche Gin in der Hand.

»Was zum Teufel willst du in meiner Wohnung?! Und wer ist der Kerl, der hat hier überhaupt nichts verloren!«

»Reg dich ab, Lupo!« Alex grinste, wie immer völlig unbeeindruckt von Wolfs Zorn. »Das ist der Bert, mein Freund. Wir schlafen heut hier.«

Für den Moment stand Wolf starr, dann rastete er aus. »Von wegen hier schlafen! Das ist Einbruch, was ihr macht! Ich zeig euch, wo ihr schlafen werdet!« Er wollte den Bodybuilder aus dem Sessel reißen, doch der Mann war schwer, und der Biologe musste den Versuch wieder aufgeben, entschied sich stattdessen für verschärfte Verbalattacke: »Verschwinde von hier, du Scheißkerl, oder ich hol die Polizei!«

Im nächsten Moment stand der Bodybuilder vor ihm, überragte ihn um einen halben Kopf. »Wie hat der mich eben genannt, Alex?«

»Scheißkerl hat er dich genannt«, sagte Alex feixend, in freudiger Erwartung.

Wolf begann seinen Fehler zu begreifen, zu spät. Im nächsten Moment flog er gegen die Wand, stieß sich den Kopf. Und dann war Bert über ihm.

Bert schlief im Bett, ein Fuß hing seitlich unter der Decke heraus, die nackten Zehen grau vor Schmutz, mehrere Nägel abgebrochen. Alex hatte das Sofa beschlagnahmt, schnarchte mit dem Knurren eines Coyoten. Mühsam schleppte sich Wolf hinunter in den Wagen, fuhr zur Bio Verdes hinaus, wo er in einem Abstellraum eine Matratze aufstöberte, die er in sein Büro zerrte. Die ganze Zeit hatte er gewusst, dass Alex wieder draußen war, aber sich verzweifelt bemüht, es zu ignorieren, die unvermeidliche Begegnung hinauszuschieben. Vermutlich würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als dem Kerl ein Zimmer zu suchen und zu zahlen, anders würde er ihn und seinen Gorilla-Begleiter nie los. Aber das war nicht das Schlimmste: Er musste herauskriegen, wo die beiden Typen sich rumgetrieben hatten, vor allem, wo Alex sich in jener ganz bestimmten Nacht herumgetrieben hatte …

Donaufeuer

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