Читать книгу Crossover - Fred Ink - Страница 14
ОглавлениеBirgit starrte zu der grausamen Szene hinauf und konnte ermessen, wie Jesus sich gefühlt haben musste, nachdem er ans Kreuz geschlagen worden war.
Gott hatte sie verlassen.
Sie wusste, dass solche Gedanken blasphemisch waren, aber spielte das noch eine Rolle? Das Wesen dort oben war nicht klassifizierbar, es glich nichts, was auf Gottes grüner Erde wandelte, und es war erfüllt von unstillbarem Hass. Sie sah sich einem Dämon gegenüber, daher würden weitere Sünden ihre Lage wohl kaum verschlechtern.
Der arme Mann schrie inzwischen nicht mehr. Aber seine Arme zuckten und seine Beine strampelten, während der Dämon sich immer tiefer in seinen Kopf hineinfraß. Obwohl sie nicht glaubte, dass es unter den gegebenen Umständen helfen würde, betete Birgit darum, dass er nicht mehr bei klarem Verstand war.
Es war ihr nicht möglich, den Blick von den erschütternden Vorgängen abzuwenden. Sie brannten sich dermaßen in Birgits Verstand, dass sie auf der Stelle versteinerte, als hätte sie ins Antlitz der Medusa geschaut. Sie wusste, dass sie gemeinsam mit Kati fliehen sollte, aber sie konnte nicht. Gleich würde der Dämon sich ihr zuwenden. Er würde sie fixieren, um sich dann abzustoßen und ihr Gesicht zu zerfetzen, bis es zu solch einer unförmigen Fleischmasse geworden war wie das des Wachmanns. Anschließend würde er sich Kati schnappen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
»Mami, Angst!«
Etwas warf sich gegen ihren Oberkörper und umschlang mit blutigen Armen ihren Kopf, aber es war nicht das Monster. Birgit roch Blumen, spürte Wärme, hörte ein Herz in schnellem Rhythmus schlagen.
Kati. Ihre Tochter. Sie hatte geschafft, was ihr nicht gelungen war, und als könnte sie ihre Kraft auf andere Personen ausdehnen, zerschnitt sie durch ihre bloße Anwesenheit die Fesseln der Angst.
Noch einmal regten sich die Mutterinstinkte in Birgit, griffen auf Kraftreserven zu, von denen sie bislang nichts gewusst hatte. Sie drängten das Dröhnen zurück, das seit dem Schlag zwischen Birgits Ohren hallte und erhöhten die Grundspannung sämtlicher Muskeln.
Birgit nahm Katis Kopf zwischen die Hände und sah ihr tief in die grünen, goldgesprenkelten Augen. »Mami beschützt dich. Aber du musst hier sitzenbleiben, okay? Kannst du das für mich tun?«
»Sitzen.« Kati nickte.
Birgit küsste sie auf die Stirn und war erfüllt von unbändigem Stolz. Obwohl die Verletzung sehr schmerzhaft sein musste, gelang es Kati, ruhig zu bleiben. Sie war so tapfer.
Birgit stand auf, wurde von Schwindel erfasst, streckte die Hand aus und stützte sich an der Wand des Treppenhauses ab.
Einige Stufen weiter oben lag der inzwischen reglose Körper des Wachmanns, an die Treppe geschmiegt und dermaßen zerfleischt, dass er auf grauenhafte Weise an rote Auslegeware erinnerte. Das Monster hatte von den Überresten des Kopfs abgelassen und sich dem Brustkorb zugewandt. Mit schnellen Bewegungen zerrte es unter Knacken und Knirschen Dinge hervor, die Birgit nicht sehen wollte. Sein blaues Leuchten versetzte zuckende Schatten in Bewegung, projizierte das Gemetzel an die Wände, umzingelte sie von allen Seiten mit unmenschlicher Grausamkeit.
Trotzdem gelang es Birgit, die ersten Stufen zu erklimmen. Sie zwang sich, den Blick auf ein bestimmtes Detail zu heften, auf die eine Sache, mit der sie die Lage vielleicht zu ihren Gunsten beeinflussen konnte: der rechte Arm des Wachmanns. Er deutete in Birgits Richtung, als würde er nach Hilfe suchen. Die Hand befand sich nur ein kleines Stück oberhalb von ihr. Und sie hielt noch immer den Griff der Pistole umschlungen.
Birgit leckte sich die Lippen. Sie musste auf Armeslänge an den Dämon heran. Ihr war keineswegs entgangen, wie flink das Monster war. Falls es sie bemerkte, ehe sie die Waffe an sich genommen hatte …
Aber wenn sie es erst gar nicht versuchte, würde eine schreckliche Möglichkeit unweigerlich zur Gewissheit werden. Irgendwann musste der Blutrausch nachlassen. Der Dämon würde sich an die anderen Opfer erinnern, die unterhalb von ihm in der Falle saßen.
Besser, ich sterbe bei dem Versuch, ihn aufzuhalten. In dem Fall habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen.
Ein zögerlicher Schritt, dann noch einer. Sie streckte sich, stützte sich mit der freien Hand auf der Treppe ab … und erreichte die Pistole trotzdem nicht. Noch zwei Stufen fehlten, mindestens.
Über ihr verwandelte sich das Knacken in schmatzende Geräusche. Mit lautem Klatschen schlug etwas neben ihr auf die Stufen. Birgit musste sich auf die Faust beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
Ein schneller Blick zurück. Kati saß gegen die Wand gekauert, hatte die Knie eng an den Körper gezogen, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Gutes Mädchen.
Zwei weitere Schritte, gefolgt von einem dritten, zur Sicherheit. Sie war jetzt so nahe, dass sie trotz des Gestanks des Gebäudes und ungeachtet des sauren Dampfs, der von der Leiche aufstieg, den Geruch des Monsters wahrnahm. Wieder sprangen Alarmglocken in ihrem Stammhirn an, meldeten einen Feind, der nicht geduldet werden durfte. Was immer dieses Biest war, es würde sie erst dann in Frieden lassen, wenn einer von ihnen nicht mehr am Leben war.
Birgit presste die Lippen so fest zusammen, dass es schmerzte, und streckte sich noch einmal nach der Pistole.
Sie bekam den Lauf zu fassen. Als sie vorsichtig daran zog, rührte die Waffe sich jedoch nicht. Die Finger des Toten gaben seinen Besitz nicht frei. Als könnten sie sich am Leben festkrallen, wenn sie nur fest genug zupackten. Das durfte nicht wahr sein! Der restliche Körper lag schlaff da, nur die rechte Hand hatte sich verkrampft. Wie war so etwas möglich?
Herr, ich brauche deine Unterstützung, dachte Birgit verzweifelt. Was immer du im Austausch von mir fordern wirst, ich werde es dir geben. Nur bitte hilf mir jetzt, meine Tochter zu retten!
Sie zog erneut an der Pistole, kräftiger diesmal. Durch den Ruck bekam sie die Waffe teilweise frei, allerdings geriet dadurch auch der tote Wachmann ins Rutschen. Birgit sprang zurück und versuchte verzweifelt, die beiden Finger aufzubiegen, die den Griff noch immer umschlossen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Wesen herumfuhr. Es kreischte, und weil es kaum einen Meter entfernt war, fuhr ihr der Ton ohrenbetäubend laut in den Schädel.
Immer energischer bog sie, zog, rüttelte. Über ihr duckte sich das Biest, um sie anzufallen.
Birgit schrie auf. Sie schaffte es nicht.
Ein Hagel aus feuchten Klumpen und spitzen Trümmern peitschte ihr Gesicht. Das Biest hatte sie erwischt! Kreischend machte sie einen Satz nach hinten, schlug zwei Herzschläge später auf dem kalten Beton des Treppenabsatzes auf, rang nach Luft. In blinder Panik schlug sie um sich, versuchte, den Dämon irgendwie abzuschütteln.
Bis ihr klar wurde, dass er nicht da war.
Ungläubig blinzelnd, spähte sie die Treppe hinauf. Das Licht war deutlich schwächer geworden, nur das Blut des Monsters leuchtete noch immer. Es bedeckte genug von der Umgebung, um Birgit erkennen zu lassen, dass der Dämon nicht mehr am Leben war. Er hing über der Leiche des Wachmanns, zwei Tote in einer letzten, grausigen Umarmung.
Jemand hat ihn getötet.
Gott hatte ihr ein Wunder geschickt.
Birgit rieb sich übers Gesicht, verschmierte die leuchtenden Rückstände, die daran klebten. Auf dem Hosenboden schob sie sich zu ihrer Tochter hinüber. Kaum hatte sie Kati erreicht, schlang sie die Arme um sie und begann, hemmungslos zu schluchzen.