Читать книгу Ich, Sergeant Pepper - Fred Reber - Страница 14
Ihr macht ja doch, was ihr wollt!
ОглавлениеSommer 1973
Aus meinem Besuch bei Julia und ihrer Großmutter wurde nichts. Matthews Vater hatte einen Truck besorgt, mit dem wir zum Entrümpeln des Hauses ins Kiefernwäldchen fuhren. Um aus drei Zimmern einen großen Raum zu schaffen, riss der Sergeant mit einem Vorschlaghammer eine Wand aus Rigips ein und legte so nach und nach zwei Stützbalken mit ihren Deckenverstrebungen frei. Ich trug mit Matthew und Ray das zerfetzte Füllmaterial zur Ladefläche des Trucks. Als wir während einer Pause auf der Veranda saßen und die Sandwiches verdrückten, die uns Matthews Mutter eingepackt hatte, meinte Ray: »Dir ist jetzt schon klar, warum Kevin auf das hier keinen Bock hatte?«
Matthews Vater hörte das. »Kevin Barkley?«, fragte er. Und ich fand es nur fair ihm zu sagen, dass ich Kevin kannte, und er mir irgendwann einmal zu verstehen gegeben hätte, dass er interessiert sei, bei uns einzusteigen.
Wir sollten uns wegen Kevin keine Illusionen machen und uns nach einem anderen vierten Mann umhören, antwortete der Sergeant und trieb uns zum Weitermachen an.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn verärgert hatte.
Was hatte Matthews Vater gegen Kevin? Lag es wirklich nur daran, dass er ihn mit sechzehn ohne Führerschein erwischte? Mir fiel der Tunnel wieder ein, der vom Keller dieses Hauses unter dem Wäldchen zur Kaserne führte. Nutzte Kevin ihn für geheime Zwecke? Ich beschloss, von dem Riss in der Kellerwand nichts zu erwähnen. Warum schlafende Hunde wecken?
Der Boden war mit Holzsplittern und sonstigem Bauschutt übersät. Staub tanzte im einfallenden Sonnenlicht. Die stickige Luft hatte sich längst wieder mit dem eigenartigen, widerlichen Gestank vermischt, vor dem ich mich schon geekelt hatte, als ich mit Kevin das erste Mal hier war. Er kam aus dem schmalen Raum, der als Badezimmer benutzt worden war, aus der Kloschüssel ohne Brille, dem schief und locker an der Wand hängenden Waschbecken. Ich zwang mich, nicht über die Herkunft der Flecken nachzudenken, die auch der Kachelboden aufwies. In einer Ecke, in der die Küche eingerichtet gewesen sein musste, stand ein Unterschrank mit einem Spülbecken. Ich drehte den Wasserhahn auf. Quietschend spuckte er eine rostige Brühe aus, die immer klarer wurde, je länger ich sie laufen ließ. Aus dem mannshohen Kühlschrank schlug mir ein weiterer übler Geruch entgegen. Er funktionierte genauso wenig wie sämtliche Lichtschalter. Obwohl eine Oberleitung vom Dach weg entlang der Wegschneise zum Drugstore führte, blieb alles tot.
Ich seufzte. Kevin hatte als Einziger erkannt, dass das alles hier absolut keinen Sinn machte, wie aussichtslos, hirnrissig, utopisch das alles wäre, dass wir uns hier eher die Krätze holen würden, als einen bemerkenswerten Song zu kreieren.
Ich stand kurz davor, allen meinen Unmut entgegenzuschleudern, doch mein Mund war wie ausgetrocknet. Als hätte Matthews Vater meine Gedanken erraten, sagte er, gleich morgen kümmere er sich um ein neues Klo und Waschbecken. Er habe auch schon mit jemandem gesprochen, der sich mit der Elektrizität auskenne. Dabei zwinkerte er mir zu.
Dennoch radelte ich deprimiert nach Hause.
»Ich komme mir so naiv vor«, betonte ich Julia gegenüber am Telefon.
»Glaubst du, John und Paul haben sich besser gefühlt, damals, als sie noch niemand kannte, in dem Musikkeller auf der Reeperbahn, in dem sie für eine warme Mahlzeit aufgetreten sind?«
Ihre Worte trösteten mich, für die Dauer des Gesprächs.
Später, grübelnd auf meinem Bett, gestand ich mir dann ein, dass ich die Welt erobern wollte, es mir aber nicht so mühsam vorgestellt hatte.
Ein paar Tage später warteten sie auf dem Wendeplatz des Stadtbusses zwischen Gasstation und Drugstore auf mich, Ray mit seinem neuen Moped, Matthew war wie immer zu Fuß unterwegs. Wie gewohnt, setzte er sich auf meinen Gepäckträger, und ich fuhr wieder los. Ich bog in den unbefestigten Weg des Wäldchens ab und folgte, mühsam in die Pedale tretend, dem breiten und dunklen Zickzackmuster, das die Reifen des Trucks vom Sergeant in den weichen Boden gedrückt hatten. Ray folgte uns knatternd. Bald sah ich zwischen den Fichten etwas Metallenes in der Sonne schimmern. Ein grauer, dreckbespritzter VW-Bus stand neben der Veranda. Wir hielten an. Von Matthew und Ray bedrängt, hastete ich die Holzstufen hinauf. Die reparierte Fliegengittertür wurde von einem Werkzeugkasten am Zufallen gehindert. Wir blieben im Eingang stehen.
Ein großer, schlaksiger Kerl, vielleicht drei, vier Jahre älter als wir, schlitzte mit einer Klinge ein von der Decke hängendes Kabel auf und zwirbelte die feinen Drähte auseinander. Es war August, und er trug eine über den Ohren aufgerollte Wollmütze, blonde, dünne Strähnen lugten darunter hervor. Seine tiefblauen Augen musterten uns, einen nach dem anderen. »Wer von euch ist Matthew?«, fragte er mit sehr tiefer Stimme.
Matthew schien über das Ganze so verdutzt wie ich und meldete sich wie ein Erstklässler mit erhobenem Finger.
»Hab deine Eltern neulich im Offizierscasino kennengelernt. Sehr nette Leute«, sagte er, klappte das Messer zu und warf es in den Werkzeugkasten. »Ach so, ja, Thomas heiß ich. Aber alle nennen mich Tom.«
Ich sah Matthew an, der zuckte mit den Schultern.
»Ich zupfe Bass in einer Tanzcombo. Verdien nicht schlecht damit. Doch die ganze Schlagersülze hängt mir zum Hals raus, befriedigt mich einfach nicht mehr.« Tom streckte sich und vergrub die schmalen Hände in den Taschen seines Blaumanns. »Jobs wie im Offizierscasino, bei denen echt die Post abgeht, sind rar. Das habe ich dem Sergeanten auch gesagt, als wir uns in einer Pause an der Bar unterhalten haben.«
Es fiel mir schwer, mir Matthews Eltern ausgelassen auf einer Tanzfläche vorzustellen. Zu Hause hörten sie immer nur Mozart.
Tom musterte mich. »Du musst Patrick sein, sozusagen der Boss, richtig?«
»Sozusagen!«
»Mit zwanzig wäre ich zwar der Älteste in der Band, aber ich kann dich als Boss akzeptieren«, stellte Tom klar.
Damit war mir der Kerl sympathisch. Dennoch fragte ich ungläubig: »Heißt das, du willst bei uns einsteigen, ohne einen Ton von uns gehört zu haben?«
»Ich habe nix zu verlieren.« Er zuckte mit den Schultern. Mit der Combo sei nach den Auftritten beim deutsch-amerikanischen Volksfest Schluss. Außerdem käme er immer bei derartigen Bands unter. Und es würde ihn mächtig reizen, uns auf die Sprünge zu helfen. »Gebt mir etwas Zeit, dann erkennt ihr den Schuppen hier nicht wieder.« Er zog die Mütze vom Kopf und fuhr sich durch das spärliche Haar. Danach standen die dünnen Flusen in alle Richtungen.
Auch das noch! Neben Ray noch einer, der optisch nicht zu einer Beatband passte.
Wie sich herausstellte, gehörten Tom und seinem Vater der Elektrofachhandel drüben in der Stadt.
Jeden Nachmittag um sechzehn Uhr tauchte der VW-Bus zwischen den Fichten auf und hielt auf der Lichtung. Wir konnten die Uhr danach stellen.
Tom zog neue Stromkabel, dübelte und sägte. Wir halfen ihm beim Verschalen der Fensternischen mit Holzplatten für eine bessere Akustik. Matthews Vater installierte ein neues Klo, ein Waschbecken, dichtete den Abfluss im Boden ab, wo wir die Badewanne entfernt hatten, reinigte mit einem Dampfstrahler die Kacheln sowie die Dielenböden, entlüftete den rostigen Heizkörper, der noch funktionierte, desinfizierte den Kühlschrank. Wir tünchten die Wände, Decken und Stützbalken weiß. Zu viert hievten wir das Sofa aus dem Bus und über die Veranda ins Haus, das Tom organisiert hatte. Es war in einem einwandfreien Zustand. Der Sergeant verabschiedete sich. Während Matthew und Ray mit dem Moped losfuhren, um vorne beim Drugstore Cola und Hot Dogs zu holen, half ich Tom beim Anschrauben der Halogenstrahler. Ein Dimmer tauchte den Raum in eine heimelige Atmosphäre.
»Der Schuppen braucht einen Namen«, sagte Ray, als er mit Matthew zurückkam. »Was haltet ihr von Woodstock?«
»Gefällt mir«, sagte ich spontan. »Prima Idee.«
»Wieso Woodstock?«, fragte Matthew.
»Ich wäre so gern dabei gewesen«, sagte Ray und schwärmte von Janis Joplin.
»Kennst du die?«, raunte Matthew mir zu. Es hätte mich gewundert, wenn er schon einmal etwas von ihr gehört hätte. Ich klärte ihn auf. Und er räumte ein: »Ich verstehe aber immer noch nicht, was das alles hier mit Woodstock zu tun hat?«
»Es ist symbolisch, Matt«, kommentierte Ray, »soll den Geist brüderlicher Gemeinschaft vermitteln, den der Liebe und des Friedens.«
»Gib mir lieber einen Hot Dog«, forderte Tom.
Ray reichte ihm einen. »Ich finde die Idee der Hippies gut.«
Ich starrte Ray an. Es gelang mir nicht einen Lachanfall zu unterdrücken, denn neuerdings verpasste sein Vater ihm einen Bürstenhaarschnitt. Ich ließ mich rücklings auf das Sofa fallen und wälzte mich prustend darauf. Ich konnte nicht aufhören. Schließlich plumpste ich auf den Bretterboden und spürte an meiner Hüfte den Eisenring, mit dem die Luke hochgehoben werden konnte. Unter den verständnislosen Blicken der anderen, beruhigte ich mich.
Kopfschüttelnd ging Matthew nach draußen.
»Solange ich nicht wie ein Schamane mit Blumen und sonstigen Natursymbolen hier rumlaufen muss, ist mir alles recht«, betonte Tom und folgte ihm.
Ray reichte mir einen verpackten Hot Dog, dann ließ auch er mich allein.
Ich stand auf, und setzte mich draußen neben Matthew, der seine Beine über die Veranda baumeln ließ. Ray lehnte an der zurückgeschobenen Seitentür des Busses, Tom saß neben ihm auf dem Fahrzeugboden. Gierig aßen wir unsere Hot Dogs.
»Ray, Woodstock trifft es ziemlich genau«, sagte ich mit vollem Mund, bekam aber keine Antwort.
So hing ich weiter meinen Gedanken nach. Mich wunderte plötzlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen war, durch die Luke hinunterzusteigen. Schließlich spürte ich meinen Groll auf Kevin erneut aufkeimen. Es mussten nun vier Wochen sein, in denen ich nichts von ihm gehört hatte.
»Was ist eigentlich mit Kevins Mutter?« Ich sah Matthew an.
»Ich glaube, sie war eine unglückliche Frau. Sie hatte immer eine Alkoholfahne.« Matthew strich sich seine Haare aus der Stirn. »Und sie war eine rasante Fahrerin. Peggy und ich hörten oft ihre quietschenden Reifen, wenn sie beim Drugstore vorne in die Kurve ging. Einmal knallte es entsetzlich, als ihr Wagen in die Zapfsäulen der Gasstation raste und in Flammen aufging.«
Daran musste ich denken, als ich Tage später in das Wäldchen einbog und ein über mir hinwegzischender Starfighter die Luft vibrieren ließ. Es hörte sich an, als fliege er tiefer, als er durfte. Ich bremste ab, sprang vom Fahrrad und zog im Reflex den Kopf ein. Erst da bemerkte ich den Chevy auf dem Parkplatz neben dem Drugstore. Das Verdeck war zurückgeklappt und Kevin saß einfach nur da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und schien nach oben in die Sonne zu starren. Seine Augen konnte ich wegen der verspiegelten Brillengläser nicht erkennen. Ich fuhr zu ihm hin. Eine rosa Blase wuchs aus seinem Mund, nachdem sie geplatzt war, spuckte er den Kaugummi neben dem Wagen auf den Asphalt. Er sagte, als wären wir verabredet: »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
Diese überhebliche Art sollte mich einschüchtern, soweit kannte ich ihn.
Während ich noch überlegte, was ich betont gleichgültig antworten könnte, deutete er zum Wäldchen und sagte: »Ihr habt meine Idee ziemlich gut umgesetzt.«
»Du hattest ja kein Interesse mehr.«
»Sagt wer?« Er sah mich über den Rand der Sonnenbrille an.
Ich bemühte mich dem unergründlichen Blick seiner dunklen Augen nicht auszuweichen. »Dieser seltsame Typ da im Haus hat mir vorhin erzählt, er gehöre zur Band.« Der gereizte Unterton in seiner Stimme trat noch stärker hervor.
»Du hast Tom also schon kennengelernt.«
»Er ist ja nicht zu übersehen.« Es klang gereizt.
»Das auch.«
»Was heißt das?«
Das war die Höhe. Ausgerechnet er machte mir nun Vorwürfe. Ich musste mich bemühen nicht zu platzen. »Tom spielt Bass und wir brauchen einen.«
»Hast du schon einen Ton von ihm gehört oder behauptet er das nur?«
»Er spielt in einer Tanzcombo. Bis Ende des Monats noch im Offizierscasino.«
Unter Kevins schallendem Gelächter zuckte ich zusammen. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, erwiderte er: »Ein echter Profi also.«
»So, wie wir alle«, rief ich unbeherrscht.
»Halt mich bitte auf dem Laufenden.« Kevin startete den Wagen und brauste mit quietschenden Reifen davon.
Am liebsten hätte ich Arschloch hinterhergerufen. Ich hielt den Fahrradlenker fest umklammert und bebte so sehr vor Zorn, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Es würde mit ihm nicht funktionieren.
Schnell hatte ich mich wieder im Griff und fuhr zum Woodstock.
Ray saß mit geschlossenen Augen auf den Verandastufen, wackelte mit vorgeschobener Lippe unablässig mit dem Kopf und schlug mit den Händen auf seine imaginären Trommeln ein. Der schüchterne Matthew stand am anderen Ende der Veranda und beobachtete ihn.
»Sorry, ich wollte schon früher hier sein.« Ich sprang vom Rad.
»Kevin war da«, sagte Matthew, während Ray weiter durch die Luft fuchtelte. Im nächsten Moment trat Tom aus dem Haus, trug eine Kabelrolle und seinen Werkzeugkasten zum VW-Bus.
»Vorerst gibt es hier nichts weiter zu tun«, meinte er. »Da ich bis zu meinem Auftritt im Casino noch reichlich Zeit habe, könnten wir nach München fahren und uns im Musikshop mal erkundigen, was wir an Equipment brauchen und dafür hinblättern müssen.«
Das ließ mich die Begegnung mit Kevin vergessen. Ich nickte.
Tom kannte einen der Verkäufer des Musikhauses. Dieser erlaubte Ray ein Schlagzeug mal so richtig zu bearbeiten, Matthew durfte auf einer Hammondorgel und einem Synthesizer spielen, und ich versuchte mich auf einer Gibson Flying V. Sie reizte mich, weil sie so spacig aussah und mich die V-Form an einen Pfeil erinnerte. Ich spürte, dass es uns allen dreien nur so in den Fingern juckte mit der Band endlich richtig loszulegen.
Als Tom mit dem Verkäufer die Summe ermittelt hatte, die wir für Instrumente und Equipment aufbringen mussten, verließen wir ziemlich schnell und ernüchtert den Laden.
Unsere im letzten Sommer bei Robert Staudte mühsam verdienten Moneten reichten hinten und vorne nicht. Er hatte uns bei der Inventur im Lager Stoffballen, Knöpfe, Garnspulen, Reißverschlüsse und ähnliches zählen lassen.
»Wir brauchen dringend wieder einen Ferienjob«, brach Matthew während der Rückfahrt das Schweigen.
Ich hörte ihm an, dass er dazu nicht die geringste Lust verspürte. Wenn ich ehrlich war, ich auch nicht.
Tom ließ mich an der Allee raus. Nach etwa der Hälfte des Weges zum Haus, näherte sich hinter mir ein Wagen. Ich drehte mich um. Kevin kurbelte das Beifahrerfenster herunter. »Im Rattlesnake spielen die Spikes. Die musst du unbedingt hören.«
Ich kannte den Schuppen vom Hörensagen. Er zog die Amis an.
Eigentlich hatte ich keine Lust, war hundemüde vom tagelangen Schuften im Übungsraum, demotiviert von der Tatsache, dass uns die Kohle für Instrumente fehlte, aber ich wollte die Gelegenheit nutzen, um mit Kevin Klartext zu reden.
»Dort lungern immer irgendwelche Musiker herum, die eine Band suchen«, sagte er, als ich einstieg. »Vielleicht lernen wir einen Bassisten kennen.«
Rückwärts ruckelten wir auf dem unebenen Weg zur Landstraße.
Warum fiel es mir so schwer, ihm zu sagen, dass ich entscheiden würde, wer in der Band spielte, und wie sehr ich mich die ganze Zeit über ihn ärgerte. Würde er es verstehen, wenn ich ihn fragte, was er mit seinem Verhalten bezweckte?
Countrymusik, so gar nicht mein Fall, drang aus der Kneipe, die in der Nähe vom Stadtpark in einer kaum beleuchteten Seitenstraße lag. Ich wunderte mich über die vielen jungen Leute, die vor dem heruntergekommenen Schuppen auf dem Trottoir tanzten.
Ein bulliger Typ stand breitbeinig und mit verschränkten Armen vor dem Eingang. Kevin schien den Mann zu kennen. Sie steckten die Köpfe zusammen. Ich konnte nichts verstehen. Dabei musterte mich der Mann immerzu grimmig, schüttelte schließlich den Kopf und brummte: »Erst ab achtzehn.«
»Sorry, Fellow.« Kevin zog eine Grimasse. »Dann werde ich mich da drinnen wohl alleine umhören müssen.« Er drückte mir die Wagenschlüssel in die Hand und meinte, er versuche so schnell wie möglich zurückzukommen.
Er sei auch noch keine achtzehn, wollte ich ihm stecken, doch da verschwand Kevin hinter dem bulligen Türsteher schon im Club.
Wütend stapfte ich zum Chevy, den wir am Park abgestellt hatten. Wieso fiel ich immer wieder auf Kevin herein? Er passte nicht zu uns!
Im Wagen stellte ich das Radio an. Es lief Jazz. Je länger ich einem klagenden Saxophon zuhörte, umso melancholischer wurde ich. Mir war zum Heulen zumute.
Ich schreckte hoch, als die Fahrertür aufgerissen wurde.
Kevin klappte mit einem breiten Grinsen den Sitz nach vorne. Ein Mann stieg ein. Als er saß, fuhr er sich durch das strähnige Haar. Dabei bemerkte ich ein Goldkettchen mit Totenkopfanhänger am Handgelenk sowie die hässliche Narbe, die von der rechten Augenbraue die Schläfe entlanglief, und unter dem buschigen Backenbart verschwand. Ich erinnerte mich an das hagere Gesicht. Es war der Mann, den ich schon öfter in Kevins Begleitung in der Stadt gesehen hatte. Obwohl ich seine Augen kaum erkennen konnte, spürte ich, dass der Mann mich feindselig anstarrte.
Kevin stellte das Radio aus.
»Du hast mir nicht gesagt, dass du nicht alleine bist.« In der Stimme des Mannes schwang ein heller, monotoner und dadurch bedrohlich wirkender Sing Sang mit.
»Ist mein Leibwächter«, erwiderte Kevin und fuhr los.
»Ha«, machte der Mann.
»Unser Fahrgast hat im Village eine Verabredung«, klärte Kevin mich auf.
»Er ist also nicht dein Bassist?«, fragte ich.
»Nein, ist er nicht.« Kevins Stimme klang gereizt. »Aber, wenn du Lust hast und magst«, er wandte den Blick in meine Richtung, »hören wir uns morgen mal in München um.«
Der glaubte wirklich, dass ich ihm das noch weiter abnahm.
Warum sagte ich ihm nicht, dass er sich verpissen solle?
Kevin setzte mich an der Allee ab. Wütend über mich selbst, stapfte ich los.
Im Haus wartete meine aufgebrachte Mutter auf mich. Sie habe ja Verständnis für die Band, was aber nicht bedeuten solle, dass ich kommen und gehen könne, wann immer mir danach sei. Peinlich war es mir nur, weil Robert im Wohnzimmer auf der Couch saß und alles mitbekam. Kleinlaut fragte ich ihn nach einem Ferienjob, doch er hatte nichts für uns.
Dann fiel meiner Mutter ein, Ray habe angerufen.
Ich wählte seine Nummer. Der Kumpel hatte erwähnt, auch seine Eltern gingen diesen Abend tanzen ins Offizierscasino. Die Mutter musste beim Vater lange darum betteln. Und ohne dass Ray es mitbekam, hatte Matthew leise angemerkt, Rays Herrschaften seien extrem schwierige Leute, die zu niemanden Kontakt pflegten.
Ray meldete sich. »Na endlich. Ich habe einen Job für uns. Matthew und ich warten morgen früh auf dich am Kasernentor. Um acht. Vergiss deinen Ausweis nicht.«
Als wir uns dort trafen, sah ich den Chevy das Village in Richtung Stadt verlassen.
»Kevin ist ja heute früh unterwegs«, wunderte sich auch Matthew. »Habt ihr den erkannt, der neben ihm saß?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht erzählen wollte, wie Kevin mich wieder vorgeführt hatte.
Über uns schlug die US-Flagge im Wind, während wir uns beim wachhabenden GI in die Besucherliste eintrugen. Unsere Identitycards würden wir beim Verlassen des Militärgeländes wiederbekommen.
Rays Moped knatterte los. Matthew setzte sich auf den Gepäckträger meines Fahrrads.
»Ich will ja nicht meckern, aber wäre es nicht sinnvoller, du würdest bei Ray hinten aufsitzen?«
»Sein Parka muffelt so nach Mottenkugeln«, ließ Matthew mich wissen und hielt sich unter meinem Sattel fest.
Ergeben strampelte ich los. Hinter mir wurde das Schlagen der US-Flagge an der Wache im Wind leiser. Ich überlegte, wo ich ein Fahrrad auftreiben könnte. Es wurde Zeit, dass Matthew fahren lernte.
Ray war vor uns am Casino. Ein GI ließ uns ins Gebäude, zeigte uns den Kühlraum, in dem das übrig gebliebene Essen vom Vorabend aufbewahrt wurde, und von dem wir uns nehmen durften. Danach verschwand er.
Es stank nach Alkohol und Zigaretten. Ich riss sämtliche Fenster auf und versuchte dabei den Scherben zerbrochener Gläser auf dem Boden auszuweichen. Ich starrte auf ein von Rotwein getränktes Tischtuch, das angebissene Hühnerbein unter einem Stuhl, die schimmernden Fettflecken daneben und die breitgetretene Schokoladencreme, die wie Scheiße aussah.
Hatten wir es so nötig, uns das anzutun? Ich wandte mich Ray zu. »Was zahlen die uns eigentlich?«
»Einen Dollar die Stunde«, sagte er und kam mit einem Teller voll Kuchen aus dem Kühlraum. Er stellte ihn auf die Theke. »Für jeden von uns.« Er schien mir anzusehen, dass Kopfrechnen gar nicht mein Ding war und fügte hinzu: »Sind ungefähr drei Mark zwanzig.«
»Davon werden wir nicht reich«, sagte ich.
»Wir können ja Stunden schinden.« Ray grinste. »Vor heute Abend ist hier nichts los.« Er wusch drei Gläser, füllte sie mit Coca-Cola und stellte sie neben den Kuchen. »Probiert mal die Torte mit Preiselbeeren! Die ist von meiner Mum.«
»Schinden ist gut«, meckerte ich. »Wir können froh sein, wenn wir bis dahin überhaupt fertig werden.«
»Alles halb so wild«, sagte Ray mit vollem Mund. »Ich kümmere mich um Gläser und Geschirr …«
»Ich wische die Böden«, sagte Matthew hastig und zog mit spitzen Fingern die besudelten Decken von den Tischen.
»Dann bist du dieses Mal mit den Toiletten dran«, sagte Ray zu mir.
»Dieses Mal?«
Ray fuhr sich über die Stoppelhaare. »Während des deutsch-amerikanischen Volksfestes rechnen sie auch nächsten Freitag und nächsten Samstag mit uns.«
»Was? Du kannst doch nicht …« Ich drehte mich zu Matthew um. Er hatte angefangen die Stühle auf die Tische zu stellen. »Ich habe ihm gleich gesagt, dass wir erst mit dir reden müssten.«
Ich strafte Ray, der sich ein weiteres Stück Torte in den Mund stopfte, beim Hinausgehen mit einem bitterbösen Blick.
»Brauchen wir jetzt den Zaster oder nicht?«, rief er mir nach.
Ich stieß die Tür zu den Toiletten auf und es dauerte eine Zeitlang, bis mir klar wurde, dass das Ding da vor mir auf dem Steinboden ein benutzter Pariser war.
Wir schufteten bis zum Nachmittag. In all den Stunden wechselte ich mit Ray kein Wort.
»Er hat es nur gut gemeint«, fing Matthew auf dem Weg zum Woodstock hinter mir auf dem Gepäckträger an. Ray fuhr voraus und saß auf den Verandastufen, als wir ankamen.
»Hast du deinen Schlüssel vergessen?«, fragte Matthew.
Tom hatte das Schloss an der Eingangstür ausgetauscht und für jeden von uns einen Schlüssel machen lassen.
»Den hat Kevin sich gestern Abend geholt.«
Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich das realisiert hatte. »Und wozu?«
»Was weiß denn ich?«, konterte Ray. »Er bekommt doch sowieso einen.«
»Einen Schlüssel? Wie kommst du denn auf diese Schnapsidee?«
»Er hat mir zu verstehen gegeben, er hätte mit dir alles klargemacht.«
»Wenn er das glaubt.«
»Er freut sich darauf, wenn es demnächst losgeht hat er gesagt.«
Ich blickte zu Matthew, verdrehte die Augen, dann sperrte ich mit einem mulmigen Gefühl die Tür zum Übungsraum auf. Bei Kevin war ich mittlerweile auf alles gefasst.
Ich starrte auf die Wolldecke, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, und die zurückgeschlagen auf dem Sofa lag. Daneben stand eine angetrunkene Wasserflasche auf dem Bretterboden.
Der Fremde mit der Narbe hatte also tatsächlich die letzte Nacht hier gepennt.
»Damit das klar ist«, sagte ich und legte wütend die Decke zusammen. »Wer immer sich hier aufhält und etwas benutzt, räumt auch wieder auf.« Die Flasche leerte ich in das Spülbecken.
Matthew stand in der Tür, fuhr sich immerzu durch die Haare und wich auch keinen Schritt zurück, als ich wieder ins Freie drängte. Ray fischte die Sandwiches aus der Satteltasche des Mopeds, die er im Casino hatte mitgehen lassen. Er wollte mir eines anbieten, doch ich ignorierte es.
»Es gibt da noch ein Problem, das wir schleunigst lösen müssen.«
Matthew und Ray sahen mich an.
»Ich bin dafür, Kevin …« Weiter kam ich nicht. Motorgeräusche wurden lauter, zwischen den Bäumen tauchte der Chevy mit offenem Verdeck auf.
Kevin stellte den Motor aus und schwang sich über die Fahrertür. »Nun hat das Blasen von Trübsal aber ein Ende, Fellows.« Trotz der Hitze trug er Cowboystiefel, seine Arme steckten bis zu den Ellbogen in den ausgeleierten Manteltaschen. Er senkte den Kopf, blinzelte mir über den Rand seiner Sonnenbrille zu, dann flatterten Geldscheine durch die Luft. Unablässig warf er sie uns entgegen. Er schien die Manteltaschen voll davon zu haben.
»Ich denke, jetzt kann die Band durchstarten.« Er schnippte mit den Fingern und zeigte auf die Scheine, die zur Veranda segelten. »Dass der Zaster von mir ist, müsst ihr niemanden gegenüber erwähnen. Versprochen?«
Ich brachte kein Wort heraus. Matthew und Ray schien es genauso zu gehen.
»Gestern Abend war ich noch auf einen Sprung im Offizierscasino«, fuhr Kevin fort. »Ich muss schon sagen, der Eierkopf am Bass hat echt was drauf.«
»Tom«, herrschte ich ihn an. »Er heißt Tom.«
»Ich habe es kapiert.« Kevin grinste.
Ich musste mich zusammenreißen, dass ich ihm nicht die Sonnenbrille von der Nase schlug. Matthew fasste mich am Arm. Er schien zu spüren, dass ich kurz vor einer Explosion war.
Ray sprang herum, sammelte die Geldscheine auf und rief: »Mensch, Patrick, ist das cool.«
Er wedelte mit einem Bündel vor meiner Nase herum. Es waren Dollar.
»Gib sie ihm zurück! Wir werden sie nicht nehmen.«
»Was?« Ray hielt inne und starrte mich ungläubig mit seinen hellen, blauen Augen an.
»Du hast schon richtig verstanden«, schrie ich.
Kevin lachte auf.
»Woher hast du das Geld?« Ich fixierte ihn.
»Sei doch jetzt kein Spielverderber.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ist es so wichtig, woher es kommt?«
»Für mich schon!«
»Er hat es sich geliehen«, sagte Ray fast atemlos. Dann sah er zu Kevin. »Hast du doch?«
Kevin antwortete nicht.
»Von wem?« Um meine Wut zu unterdrücken, schluckte ich. »Oder ist das zu viel verlangt?«
»Von seinem Dad«, stieß Ray hervor. »Er hat es von seinem Dad.«
»So, von seinem Dad?«, presste ich hervor. »Und das weißt du ganz genau?«
»Ja, er hat es mir gestern Abend gesagt.« Ray bekam einen hochroten Kopf. »Als er sich den Schlüssel geholt hat.« Wir wussten beide, dass er mich anlog. Aber ich konnte ihn so gut verstehen. Er wünschte sich, wie ich, nichts sehnlicher als endlich Musik zu machen. Doch mich störte es einfach kolossal, dass wir mit niemanden darüber reden sollten, woher das viele Geld auf einmal kam. Was war faul daran? Hatte der Fremde damit zu tun? Mich beschlich das Gefühl, wenn wir es nahmen, würde es uns kein Glück bringen. Davon abgesehen, dass wir immer nach Kevins Pfeife tanzen müssten.
»Und warum kannst du es nicht einfach sagen, dass das Geld von deinem Dad ist?« Ich ließ nicht locker.
»Weil es nicht die Wahrheit ist«, blaffte Kevin mich an und ging zum Wagen. Ehe ich seine Worte kapierte, saß er hinter dem Steuer und der Motor heulte auf. Der Chevy schoss rückwärts schlingernd auf den Waldweg zu, wendete, wobei die Hinterräder für einen Augenblick in dem weichen Boden der Lichtung durchdrehten. Dann griffen sie und der Wagen fuhr davon.
Ich ignorierte, dass Ray mir die Geldbündel geben wollte und sperrte das Woodstock ab. Ich fragte Matthew, ob ich ihn heimfahren solle. Er schwang sich auf den Gepäckträger und fragte: »Und was machen wir jetzt?«
»Das hat Ray doch schon entschieden«, sagte ich wütend und fuhr los.
Vielleicht machte ich es mir zu einfach, so zu tun, als wäre es allein Rays Entscheidung, das Geld zu nehmen. Ich war mehrmals nahe dran, den Kumpel anzurufen. Er war es, der sich am späten Sonntagnachmittag meldete. Er war bei Matthew. »Ich habe nachgedacht«, kam es leise aus dem Hörer, fast verschwörerisch. »Tom sagen wir einfach, dass meine Mum uns das Geld leiht, wir es ihr zurückgeben, sobald mit unseren Auftritten etwas reinkommt.«
Während ich ihm zuhörte, starrte ich im Spiegel über der Garderobe auf meine Pickel. Sie vermehrten sich auf der Stirn, zwischen den Augenbrauen.
Ich ließ mich auf der Treppe nieder.
»Patrick?«
»Hm«, machte ich, und hörte Ray atmen.
»Das wird Tom uns bestimmt abnehmen. Meinst du nicht auch? … Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Dann sag doch was.«
»Ihr macht ja doch, was ihr wollt.«
Tom schluckte unsere Lüge. »Nobler Zug von deiner Mum«, sagte er unterwegs nach München mit einem Blick in den Rückspiegel. »Wir dürfen sie nicht enttäuschen.«
Ray saß neben mir auf der Rückbank und strahlte über das ganze Gesicht. Wie abgebrüht er war.
Ohne Tom wären wir nicht nur beim Kauf des Equipments aufgeschmissen gewesen. Er half uns beim Aufbau und Verkabeln der Gesangsanlage, der Verstärker und einem Tonbandgerät zum Aufnehmen. Ray betrachtete von allen Seiten voller Stolz sein Schlagzeug und erklärte uns, dass die Trommeln, die auf der Bass Drum befestigt sind, sowie die, die rechts vom Drummer stehen, Tom-Toms heißen. Immer wieder schlug er sie und fragte uns: »Hört ihr den Unterschied?«
Tom ließ seinen Bass wummern und rief: »Here we go.«
Mit vor Aufregung zitternden Fingern legte ich den Schalter an der Gesangsanlage um. Ein schrilles Pfeifen erfüllte den Raum und quälte unsere Gehörgänge. Sofort kam mir Julias Lieblingslied in den Sinn. Meine Lippen berührten das kalte Metall des Mikrofons. Blackbird singing in the dead of night.
Matthew probierte und fand mit dem Keyboard die Akkorde, während ich ihm mit der Akustikgitarre folgte, Tom mit dem Bass eine Hookline setzte, und Ray mit dem Besen über seine Trommel wischte.
»Yeaiiih«, schrie ich, immer wieder, bis mir die Stimme wegkippte.
Wir diskutierten über künftiges Songmaterial, und ich schlug vor, dass wir uns zunächst an den Songs der Beatles aus ihren Anfangstagen versuchen sollten. Die kannte jeder von uns, sogar Matthew. Wenn er bei mir war, hörten wir uns stundenlang meine Platten an.
»Wo ist jetzt dieser Kevin eigentlich?«, fragte Tom.
Ich sah ihm an, dass er von mir eine klare Ansage erwartete. Ich warf Ray einen hilfesuchenden Blick zu. Er hob fast unmerklich die Schultern. Matthew beugte sich über die Tasten seines Keyboards und spielte verhalten irgendeine Melodie.
Tom ließ nicht locker. »Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass er wirklich an der Band interessiert ist?«
»Ich werde mir eine E-Gitarre kaufen«, sagte ich mit fester Stimme. Mit dem bisschen Geld, das übriggeblieben war, wollte ich eigentlich ein Mischpult und ein Effektgerät anschaffen, aber es schien mir vernünftiger zu sein, wenn ich mich so unabhängig wie möglich von Kevin machte.