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Wichtiger als Oa
ОглавлениеJuli 1969
Als Astronaut würde ich Oa nicht beeindrucken. Sie saß mit mir vor dem Fernseher und ich war enttäuscht darüber, dass sie sich beim Gequatsche der Männer im NASA-Hauptquartier langweilte. »Willst du das wirklich die ganze Nacht sehen?«
»Hab doch morgen schulfrei«, sagte ich und versuchte meine Müdigkeit zu verbergen.
Ich verstand ja nicht, warum da im Fernseher nichts weiter passierte. Die Mondfähre war vor einer halben Ewigkeit neben einem riesigen Krater in den Staub gesunken, doch dieser Armstrong kam einfach nicht heraus.
Immer wieder sah Oa zur Uhr. Schließlich erhob sie sich mühsam von der Couch und ging zum Fenster. »Wenn sie nur anrufen würde«, sagte sie und mir wurde klar, dass sie wegen meiner Mutter so ungeduldig war.
»Es wird schon nichts passiert sein«, sagte ich.
Seit meine Mutter für Robert Staudte arbeitete, kam sie immer ziemlich spät nach Hause.
Oa wollte das nicht akzeptieren. Sie wies meine Mutter immer wieder darauf hin, dass Robert Staudte verheiratet und seine Frau obendrein schwer krank war. Und dass sich die Leute das Maul darüber zerreißen würden. Meine Mutter hatte nur mit den Schultern gezuckt.
Ich hatte Robert Staudte noch nie gesehen. Trotzdem war er mir irgendwie sympathisch, seit ich mitbekommen hatte, dass er meine Mutter am Telefon zum Lachen brachte.
»Du kannst mich ja wecken, wenn sich da noch etwas tut«, sagte Oa, wandte sich vom Fenster ab und ging hinauf.
Ich nickte, ohne die grieseligen, grauen Schatten im Fernseher aus den Augen zu lassen. Irgendwann musste ich eingedöst sein. Ich fuhr hoch und sah sofort den Schatten an der Ausstiegsluke.
Ich raste im Dunkeln die Treppe hinauf, stieß Oas Kammertür auf, tastete nach dem Schalter, fand ihn nicht auf Anhieb und rief: »Jetzt geht es los.« Es kam kein Laut zurück. Als das Licht brannte, beugte ich mich über Oa, um ihr die silbergraue Locke aus der Stirn zu pusten, wie ich es früher immer getan hatte, wenn ich bei ihr schlafen durfte. Auch darauf reagierte sie nicht. Ich berührte ihren Arm und stupste ihn mehrmals. »Kannst du nicht aufstehen? Wegen deinem Rücken?« Sie habe letzte Nacht deswegen kaum ein Auge zugetan, hatte sie mir gesagt. »Soll ich den Doktor anrufen?«, flüsterte ich. »Oa?« Ich geriet in Panik, stürmte die Treppe wieder hinunter. Als die hektischen Stimmen in mein Bewusstsein drangen, vergaß ich, was ich tun wollte und ging wie hypnotisiert zum Fernseher. Darin sah ich Staub aufwirbeln, einen Schatten, der sich staksig vorwärts bewegte.
Draußen fuhr ein Wagen vor, der Kies knirschte, dann ging die Haustür und meine Mutter kam zu mir. »Warum stehst du denn da?« Sie nahm mein Kinn, ich wehrte ihre Hand ab. »Sag mal, du schwitzt ja.« Sie fühlte meine Stirn. »Wenn du dich da so reinsteigerst, machen wir das aus.« Sie nahm mir die Sicht, und ich machte einen Schritt zur Seite, schließlich sagte sie: »Wollte Oa das nicht sehen?«
»Ja, schon, aber sie kann nicht.«
»Sie kann nicht? Was ist denn mit ihr?«
Ich starrte weiter in den Fernseher. »Sie hat sich nicht bewegt, als ich sie wecken wollte«, sagte ich leise. »Es ist wieder ihr Rücken.«
»Was heißt, nicht bewegt, Patrick?« Meine Mutter hastete zur Treppe. Ich schämte mich dafür, dass mir die Mondlandung wichtiger als Oa war. Ich ging zur Treppe, sah hinauf, horchte, und ich zuckte zusammen, als Mutter an der Balustrade auftauchte, mit einem Gesichtsausdruck, der mir Angst machte. Etwas drückte gegen meinen Magen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, fing zu zittern an und verkrampfte mich. Als Mutter wie in Zeitlupe einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setzte, dabei eine Hand nach mir ausstreckte, wich ich zurück, warf mich herum und raste aus dem Haus. Ich stolperte durch den Garten, an Mutters Ente vorbei, hinauf zum Hügel zwischen Zaun und Waldrand, wo ich mich auf dem bemoosten Boden niederließ, auf den Vogel konzentrierte, der vom Gartenzaun in das Gestrüpp der Brombeersträucher hüpfte, bevor er in die klare Luft aufstieg. Aus dem Wald kroch der Morgen hervor und über den Fichten und Tannen verblasste der Mond.
Wie es den Astronauten jetzt wohl erging? Mein Herz klopfte heftiger, als ich zwischen den Sträuchern einen Wagen durch die Allee kommen und am Zaun anhalten sah. Meine Mutter eilte aus unserem Haus auf den Mann zu, der gerade ausstieg. Als er sie umarmte, wusste ich, dass es Robert Staudte sein musste.
˃Vom Mond zurück und aus dem Meer gefischt˂, stand in großen Buchstaben auf der ersten Seite der Zeitung. Sie lag am Morgen auf dem Küchentisch, während Opa Neumann mir die Fliege band.
Wie gerne hätte ich das gesehen. Ich hatte die vergangenen beiden Tage bei Oma und Opa Neumann verbringen müssen. Sie hatten mir weder Fernsehen noch Radio hören erlaubt.
Ich fürchtete mich davor, meine Mutter wiederzusehen, und als sie kam, hielt ich den Atem an. Sie bemerkte mich gar nicht, sprach leise mit Oma und Opa Neumann, bis sie meine Hand nahm, und wir zur Kirche aufbrachen.
Die meisten Menschen, die uns ihr Mitgefühl aussprachen und die Hand drückten, kannte ich nur vom Sehen. Dann stand Julia vor mir. Sie umarmte mich fest und ließ mich erst wieder los, als ihre Großmutter sie am Arm packte und sie von mir wegzog.
Während der Messe saß ich neben Opa Neumann. Immer wieder blickte ich mich suchend um, konnte Julia und ihre Großmutter aber nirgendwo sehen. Ich musste Julia unbedingt die Kassette mit ihren Lieblingssongs von den Beatles geben, die ich für sie aufgenommen hatte. Meine Mutter hatte mich für die letzten Tage vor den Sommerferien vom Unterricht befreit, und ich wusste nicht, ob ich Julia noch einmal sehen würde, bevor sie mit ihren Eltern nach Rom flog, wo ihr Vater herkam, und wo sie künftig leben würde.
Das Getöse der Orgel erschreckte mich, und ich war froh, dass Opa Neumann mich vor sich her ins Freie schob. Meine Mutter nahm meine Hand, und ich trottete neben ihr über den Friedhof, zu jenem Erdloch, neben dem der Sarg aufgebahrt stand. Als er in das Grab abgeseilt wurde, und der Chor ein »Kyrie Eleison« anstimmte, zischte einer von den Düsenjägern vorüber, die Oa so gefürchtet hatte. Er bohrte sich neben der Kirchturmspitze in den Himmel.
Dann nickte meine Mutter mir zu, und ich trat vor und starrte auf die Rose in meiner Hand.
»Wirf’ sie rein«, sagte meine Mutter leise.
Es war später Nachmittag, als Mutter und ich uns auf den Heimweg machten. Während sie meine Tasche packte, versprach ich Oma und Opa Neumann sie bald wieder zu besuchen.
»Ich habe deine Lehrerin gebeten, Willi dein Zeugnis mitzugeben«, sagte meine Mutter, als sie vor dem Haus in der Siedlung anhielt, in dem Willi wohnte.
Ich stieg aus. Willi kam mir entgegen.
»Wie geht es dir?« Er gab mir den großen Umschlag.
»Endlich Sommerferien«, sagte ich ausweichend und verlegen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sagte: »Ja, und heute Nacht fahre ich mit meinen Eltern nach Sylt.«
»Also, dann, bis September«, sagte ich steif. Ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte, und ich sah es Willi an, dass es ihm ähnlich erging. Lebte seine Oma noch? Er hatte mir nie von ihr erzählt.
»Kopf hoch und mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben«, sagte Willi.
»Sowieso«, antwortete ich und war froh, als ich mich wieder in den Wagen setzen konnte. Meine Mutter zog die Handbremse an und ließ den Motor aufheulen. Dann griffen die Räder und überwanden den Hügel. In den letzten Lichtflecken der untergehenden Sonne bogen wir in die Allee ein. Je näher unser Haus kam, umso stärker wurde der Druck auf meiner Brust. Beim Aussteigen war die großflächige Brandstelle, die den staubigen Weg zum Wald unterbrach, nicht zu übersehen.
»Was ist denn hier passiert?«
»Robert hat mir gestern beim Entrümpeln geholfen. Die einfachste Lösung war, alles zu verbrennen«, sagte meine Mutter, während sie die Haustür aufsperrte. Die im Haus angestaute Hitze kam uns entgegen und trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Mutter ließ die Tür weit offenstehen.
Ich gab ihr den Umschlag mit dem Zeugnis. Es interessierte mich nicht. Den Klassenwechsel hatte ich sowieso geschafft.
In der Küche starrte ich Oas Stuhl an. In mir zog sich alles zusammen. Ich sank auf die Eckbank und sah meiner Mutter dabei zu, wie sie eine Scheibe Brot mit salziger Butter bestrich. Als sie mir den Teller reichte, sagte ich mit einer Stimme, die mir fremd war: »Ich habe keinen Hunger.«
»Aber trinken musst du etwas«, antwortete sie und füllte ein Glas mit Leitungswasser. Ich nahm es und leerte es in einem Zug.
»Ich muss morgen wieder ins Geschäft«, fuhr sie fort. »Vielleicht wäre es besser, du würdest eine Zeit lang bei Oma und Opa bleiben. Sie würden sich bestimmt freuen.«
»Ich komme schon klar«, betonte ich. Um das Zittern in meiner Stimme zu verbergen, würgte ich das Brot doch hinunter.
Meine Mutter beugte sich zu mir und drückte ihre Lippen in meine struppigen Haare. »Du riechst. Geh duschen!«
Als ich aus dem Bad kam, blieb ich wie gelähmt vor Oas Kammertür stehen.
»Patrick?«
Ich zuckte zusammen. Schräg gegenüber stand die Tür von Mutters Zimmer offen. Mutter lag im Dunkeln mit einer Zigarette auf dem Bett, und streckte einen Arm nach mir aus. Ich ging zu ihr und legte mich neben sie.
»Versprichst du mir, immer gut auf alles hier aufzupassen, wenn ich nicht da bin?«
»Hm«, machte ich, es hörte sich an wie ein Krächzen.
»Wir beide werden ein tolles Team. Und wenn wir immer zusammenhalten, sind wir unschlagbar.«
Ihre Worte drückten wie eine Faust auf meinen Magen. Ich war froh, dass sie nichts mehr sagte.
Ich sah, wie sich das Mondlicht langsam im Zimmer ausbreitete und die Schatten in den Flur warf. Über mir knisterte die Zigarette, wenn meine Mutter an ihr zog, und ich wartete gespannt darauf, ob das Mondlicht Oas Kammertür erreichen würde.
Meine Mutter weckte mich mit dem Geräusch, das die Vorhänge machten, als sie sie zuzog. »Damit die Sonne das Haus nicht wieder so aufheizt.« Sie ging zum Spiegel und musterte sich darin. Sie trug ein graues Kostüm und darunter eine schwarze Seidenbluse. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt. Mir schnürte etwas die Kehle zu. Ich setzte mich auf. Wo war die Mutter, die mir tausendmal besser gefiel? In einem wesentlich kürzeren Rock, mit widerspenstigen Locken, die ihr Gesicht umschmeichelten.
»Na, dann«, sagte sie. »Wenn was ist, du hast ja die Büronummer.« Sie drehte sich nicht mehr um, als sie das Zimmer verließ. Mein Blick blieb an Oas Kammertür hängen. Ich lauschte dem Geklapper der Pumps auf der Treppe, dem Zuziehen der Vorhänge unten in der Küche und im Wohnzimmer. Dann rief meine Mutter: »Ich geh jetzt.«
Ich ließ mich zurückfallen und machte die Augen so fest zu, dass mir ganz schummrig wurde. Unten schnappte die Haustür ins Schloss. Stille. Und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass Oa nie mehr hier, und ich immer allein sein würde, sobald meine Mutter das Haus verließ. Mein Atem ging stoßweise, die Verzweiflung drückte auf meine Brust.
Mir fiel ein, was meine Mutter gestern gesagt hatte. Dass Robert ihr beim Entrümpeln geholfen hatte. Beim Entrümpeln von was? Mit einem Satz war ich auf den Beinen, hastete hinaus in den Flur und stieß die Tür von Oas Kammer auf. Stickige, warme Luft kam mir entgegen. Große Leinentücher verhüllten die Spiegelkommode, den Ohrensessel und den Schrank. Zögernd griff ich nach dem Laken, das sich über das Bettgestell spannte und hob es hoch. Mein Blick fiel durch die Sprungfedern auf den Dielenboden. Schaudernd ließ ich den Zipfel fallen und sah dem Laken dabei zu, wie es langsam auf die Sprungfedern sank und deren Konturen nachzeichnete.
Ich fuhr zusammen, als unter mir der Dielenboden knarrte. Ich spürte, wie ich schwitzte und schlich in mein Zimmer. Ich starrte die Pepperjacke an, die über der Stuhllehne hing, und ich dachte daran, wie Oa über das ganze Gesicht strahlte, nachdem ich die Jacke ausgepackt und angezogen hatte. Wie lieb das von ihr war, sie mir zu nähen, wo ihr die Beatles doch immer zu wild waren.
Warum hatte Oa nicht gesagt, dass es ihr nicht gut ging? Ich hatte Mutters Büronummer. Ich hätte anrufen können.
Mir zitterten die Knie. Ich ließ mich auf das Bett fallen, vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und heulte, bis der Druck in meiner Brust sich allmählich löste.
Es war drückend heiß. Wenn nachmittags keine Gewitter niedergingen, dann nachts, und sie tobten um einiges heftiger. Ich vermisste Oa mit jedem Tag mehr. Und ich fragte mich, was nun werden sollte. Die Angst stieg in mir hoch. Um sie in Schach zu halten, schlüpfte ich in die Pepperjacke und flüchtete zum Hügel am Waldrand. Im Schatten der Kiefer saß ich an deren Stamm gelehnt und betäubte meine Niedergeschlagenheit mit Beatlesliedern.
Ich spielte die Melodien in meinem Kopf ab, wusste genau, an welcher Stelle das Schlagzeug einsetzte, wo der Bass, dann begann ich zu singen. Die Texte konnte ich längst auswendig, auch wenn ich noch nicht verstand, was ich da sang. Meinen Hunger stillte ich mit wilden Erdbeeren und Brombeeren.
Ich könnte jemanden aus meiner Klasse anrufen, fragen, ob sie Lust hätten mit mir zum deutsch-amerikanischen Volksfest zu gehen. Doch auch das Geld, das meine Mutter mir dafür gab, sparte ich für eine neue Single der Beatles.
Ich holte mein Fahrrad aus dem Schuppen und schlug vorne an der Landstraße den Waldweg hinauf zur Schule ein. Es machte mir nichts aus, dass ich wegen der vielen Wurzeln, die den Weg durchfurchten, schieben musste. Ich begegnete keinem Menschen, was mir nur recht war. Ich überquerte den schmalen Holzsteg, unter dem sich Quellwasser zu einem Teich sammelte, bevor es über eine glitschige Felsplatte lief und unter Wurzeln und Geröll wie heftiger Regen in den Fluss hinabfiel.
Wieder im Sattel, kam ich auf der rückwärtigen Seite des Schulgeländes aus dem Wald. Ich fuhr nicht geradeaus, wie an Schultagen, sondern bog nach links ab. Nach wenigen Metern erreichte ich mein Ziel, die Kapelle, die ich von meinem Platz im Klassenzimmer sehen konnte, und die wir im Religionsunterricht häufiger aufsuchten. Ich lehnte mein Fahrrad an den Kastanienbaum neben einer Bank und trat nach vorne.
Steil und schroff ging es hinunter, wo die Straße zu den Amerikanern verlief und sich unter Laubbäumen verlor. Ein weißgetünchter Kirchturm lugte hervor. Ich erkannte einen Strommast, dessen Drähte gegenüber dem Turm zwischen Fichten zu einem Schindeldach mit Kamin führten. Mehr war von der amerikanischen Siedlung nicht zu sehen. Zum Schutz vor der Sonne hielt ich die Hand über die Augen und entdeckte einen Stacheldrahtzaun, der die Fichten ausgrenzte, die sich entlang mehrerer zweistöckiger, schmutzig grüner Gebäude mit zum Teil vergitterten Fenstern drängten. Unweit davon befand sich das Kasernentor, die beiden Wachen, die über ihren Schultern Gewehre mit der Mündung nach unten trugen.
Ein Helikopter flog in Richtung Kaserne tief über mich hinweg. Es kam mir vor, als streife er gleich die Baumwipfel und schraube sich in das Fichtenwäldchen.
Der Wind trug Musikfetzen vom Volksfest zu mir herauf. Irgendwo dort unten, unweit des Kasernengeländes, auf einem freien Platz, den ich wegen der Bäume nicht einsehen konnte, feierten die Menschen. Ich lauschte dem turbulenten Treiben, dem Lachen sowie den Geräuschen der Fahrgeschäfte. Es ärgerte mich, dass All you need is love von Blasmusik aus dem Bierzelt übertönt wurde.