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5. Athos, der Heilige Berg

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Seit meiner Freundschaft mit Gabriel hat mich mein Interesse für die Ostkirche nicht mehr verlassen. Ich wollte sogar übertreten, doch der orthodoxe Aachener Bischof Ephmenios lehnte es freundschaftlich ab. Statt Taufwasser schenkte er mir eine Flasche Ouzo. Die Anziehung des östlichen Christentums blieb. Dann entdeckte ich die Reiseerzählung von Erhard Kästner „Die Stundentrommel vom Heiligen Berg Athos“: unwiderstehlich. Am 21. April 1970 landete ich mit zwei Freunden in Thessaloniki.

Punkt zehn legt das Fährschiff „Axion Estin“ mit einem klagenden Hupsignal im kleinen Fischerdorf Ouranoupolis ab. Sein Kurs: Karyes, der Hafen des Heiligen Berges Athos, dem Mönchs- und Einsiedlerreservat am östlichen Finger der griechischen Halbinsel Chalkidiki. Schöner denn je krümmt sich der grüne Bergrücken die Steilwände empor. Es ist Mitte April, überall verschwenderisches Blühen. Bald treibt Seewind durch die Eichenwälder der russischen Klosterruine von Chromitsa und gibt den Blick auf den Gipfel preis. Auf knapp 2000 Meter funkeln die letzten Schneefelder. „Aghion Oros“, die mythische Höhe, das Heiligtum der Orthodoxie.

Die Stunde der Ankunft hat magische Kraft. Seit zwei Jahren habe ich sie herbeigefiebert. Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Erhard Kästner über den Athos hat mich fasziniert. 1963, zum 1000-jährigen Bestehen, schrieb Irenäus Doens ein Mönch aus Chevetogne eine zweibändige Bibliografie, einen besseren Berater konnte ich nicht haben. Seine Empfehlungen für das komplizierte Einreiseverfahren waren wie eine kostenlose Eintrittskarte. Einmal durch die Kontrollen der Passbehörde begann ein Abenteuer, eine Reise zurück ins Mittelalter.

Das Hochfest des Athos ist am 1. August der Verklärung Jesu geweiht. Der Evangelist Matthäus berichtet, dass der Herr den drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes in einem blendend weißen Kleid erschien, sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Die mysteriöse Szene erschüttert die Mönche bis zum heutigen Tag. Bereits am Vortag des Festes steigen sie auf den Berg und warten die Nacht über auf das erste Schimmern des Morgenrotes am östlichen Himmel. Dann brechen Schreie aus, die Jüngsten klettern auf das Gipfelkreuz. In der aufsteigenden Sonne erscheint der Herr … Jetzt werfen auch sie sich mit dem Gesicht zu Boden, die Arme ausgestreckt in Kreuzesform küssen sie die Erde.

„Proskynensis“, so lautet der Name dieses aus dem alten Orient stammenden Rituals, das nicht mehr als Ehrerbietung den Königen und Mächtigen gilt, sondern als demütige Liebesbezeugung für den im Gebirge flüsternden Gott. Es ist eine einsame nächtliche Gebetsübung, die je nach sportlicher Form dreißig bis fünfzig Mal wiederholt wird.

Im nächsten Kloster, dem des heiligen Paulus, schrecken wir auf. Schwer schlagen die Körper auf den Boden der Zellen. Vor Mitternacht ertönt das Geklöppel des „Simandrons“, einem Holzbrett, auf dem ein Mönch unablässig in wechselnden Rhythmen hämmert und so über die Treppen und Balkongänge schreitet. Niemand entkommt dem Weckruf: Eine aufrüttelnde Ouvertüre der Vigilien, die bis zum Morgengrauen andauern.

„Die Nacht leuchtet wie der Tag“, so singen sie aus den Psalmen. Im Kloster Stavronikita ist die Kirche rund und klein. Das Holzgestühl von Jahrhunderten geschliffen, im Halbdunkel die wehmütig prüfenden Blicke der Heiligen auf den Ikonen, von Kerzenschein umzittert, die Bücher in altgriechischer Schrift auf dem Drehpult, die Fresken der Fürsprecher und Märtyrer an den hohen Wänden. In der Kuppel die allheilige „Panaghia“, die Jungfrau Maria, ringsum die Apostel, vorzugsweise jedoch der enthauptete Täufer Johannes nahezu surreal mit seinem Kopf in der rechten Hand. Alle umgeben von den Weissagungen der Propheten und den Tänzen schwebender Engelsscharen.

Die Gesänge haben mit dem gregorianischen Wohlklang des Nachtoffiziums unserer Zisterziensermönche nichts gemeinsam. Hier alterniert die Stille mit dem atonalen Gemisch von Schreien und dem Seufzen tiefer Stimmen. Es ist ein Sound aus der Einsamkeit, die sie sich vertraut gemacht haben. „Ich werde dich in die Wüste entführen“, singen sie aus dem Buch Hosea, „und dort zu deinem Herzen sprechen“. So wirbt der Verratene um seine begehrte treulose Frau mit Worten großen Verzeihens.

Im Wechsel einer Choreografie vergehen die Stunden. Vor den Ikonen und Altarnischen werden die Kerzen angezündet und wieder gelöscht, dann zieht der Zelebrant mit dem Weihrauchfass durch das enge Rund, alles mit dem dichten Nebel dämmernder Gottesnähe umhüllend. Sie werfen sich nieder und erheben sich mit Gesängen der Sehnsucht. Eine mysteriöse Hand führt Regie, ein Vater mit grauem Greisenbart, unablässig bekreuzigt und segnet er. Das macht den Zauber dieser Stunden aus: Im Uralten herrscht Naherwartung! Lesen sie aus den kaum verschlüsselten Ansagen des Propheten Isaias, tönt es weder nach Erinnerung noch Verehrung, sondern nach unmittelbarer Mobilmachung. Gott ist der große Gegenwärtige. Es waltet die Kunst der Stille, um ihn besser zu hören. Irgendwie herrscht Eile, denn es könnte sein – wer weiß schon den Tag und die Stunde? –, vielleicht kommt ihr „Christos, Christos, Christos“ noch in der zu Ende gehenden Nacht. Es gilt die schnelle Einsatzbereitschaft, das schlaflose Wachen.

Im ersten Morgenlicht folgt die Heilige Liturgie, die Eucharistiefeier, das zentrale mystische Ereignis. Es ist ein anderer Klang, die Sehnsucht erreicht den Höhepunkt. Die Gewänder wechseln, Weiß mit Blut überzogen, das sind apokalyptische Farben. In einer Prozession ziehen die Väter durch die Kirche, die Gefäße der Opferung zeigend. Bald tritt eine große Stille ein, sie dauert an, denn sie möchten Gott hören. Ich spüre, es ist keine kurze Pausenstille. Man wartet auf einen Schlussakkord, der zunächst nicht kommt. Dann und wann ein Lispeln der ganz Alten.

Als sich das eisenbeschlagene Portal öffnet, strömt das frühe Morgenlicht herein, es ist wie eine Entzauberung. Die Kerzen erlöschen, die heiligen Bücher werden zugeschlagen, wie Dunst entschwindet der Weihrauch nach draußen. Von den Rosenstöcken tröpfelt der Tau. Ich atme auf, selten war die Frühe so rein. Nicht genug davon, umgeben von Meeresstille nur noch Herrlichkeit.

Es ist sieben Uhr, die Väter ziehen in Zweierreihen in die gegenüberliegende „Trapeza“, den Speisesaal, wo mit allem, was der Berg und die See zu bieten haben, aufgetischt ist. Fische in Öl, Salate, Artischocken, Gurken, Bohnen, Weinblätter, Käse und frisches Brot. Dazu fließen Wasser und harziger Weißwein, der Retsina, er darf nicht fehlen. Ich habe ihn besonders genossen, eiskalt und spritzig.

Die Namenstage der Heiligen und der Märtyrer sind hohe Festtage. Fastenzeiten gibt es mehrmals im Jahr. Heute ist der Festtag des heiligen Märtyrers Andreas. „Gib dein Blut und du erhältst den Geist“, so liest der junge Lektor aus den Weissagungen der Wüstenväter, während sich die Mönche blass und bärtig über das Frühmahl beugen und die Weinbecher heben. Wir sind im Kloster Grigoriou. In den folgenden Jahren kehrten wir immer wieder hierher zurück und entdeckten an den Küsten große und kleine Stätten der Beter.

Der Weg hinauf ins Kloster Megiste Lawra ist steinig. Während fünf Stunden geht es auf engen Pfaden durch die Macchia. Ich bin nicht geübt und leide. Manchmal ist es ein Kampf, mein Vorbild Kästner hat ihn verschwiegen. Oben die Marmorfelsen der Gipfelwände, unten das Meer, azurblau, unruhig. Der heilige Johannes Kolobos schrieb im 4. Jahrhundert illusionslos, das Mönchtum sei „nichts als Mühsal“. Doch scheint es hier auf dem Athos eine verwandelnde Mühsal zu sein, sie kann hinauf in mystische Höhen führen, jedoch auch in dämonische Abgründe. Niemand bleibt verschont, beides sind Spielarten aufsteigender und abstürzender Gottesnähe. Sie wird nicht selten begleitet von einem visionären oder erschütternden Umfeld. Es hat mich ergriffen. Die Mönche, vor allem die entrückten Einsiedler, erfahren es ungerührt. Was auch geschieht, eine Heiligenerscheinung im Zwielicht der Gipfelregion oder der Tod eines jungen Mitbruders, für alles haben sie eine spontane Erklärung bereit: Es lag an der Erinnerung an einen im Ruch der Heiligkeit Gestorbenen oder am Fluch eines Abgefallenen, am Festtag der heiligen Erzengel oder am Leiden eines erblindeten Malermönchs.

Ich selbst machte andere Erfahrungen: Während der ersten Klosternacht in Karyes erschreckte mich ein Albtraum des Missbrauchs durch einen frommen Priester. Im ärmlichen rumänischen Kloster Prodromou waren auf den Außenwänden des „Katholikons“ grausigste Folterszenen abgebildet, während der Nacht heulten vor der dreifach verriegelten Pforte die Wölfe. In Hagi Anna bat mich ein Einsiedler, nicht in die Ostervigil zu kommen, sondern einen todkranken Vater zu betreuen. So verbrachte ich die Nacht neben dem Sterbenden. Nackt lag er auf seinem Bett, der Blasenkatheder zwischen den dürren Beinen, stöhnend und mich, den Fremden, mit großen Augen anblickend. Es war eine blitzartige Gotteserfahrung, die mir die Furcht vor diesem armen Mann nahm. War nicht ich der Kranke und er der Überlebende?

In der linken Hand hielt er einen aus schwarzer Wolle geflochtenen Rosenkranz für das auf dem Athos seit Jahrtausenden geübte Herzensgebet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich unser, der Sünder.“ Ein- und ausgehaucht zieht es durchs Herz und trägt dich hinaus. Es war Ostern. Als in der Frühe die Glocken in heftigem Rhythmus schlugen, flüsterte der Sterbende mit trockenen Lippen: „Christos anesti!“ Der Herr ist auferstanden! Die ersten Sonnenstrahlen fielen vom Berg herab.

Tief unten an der Anlege wartete ich auf das erste Boot, das vom Athos-Kap heran tuckerte. Das Meer schäumte, selbst die See war ausgelassen. Dann kreuzten wir, vorbei an den Klöstern Dionysiou, Grigoriou und Simonos Petras, mit Kurs auf das Rossikon, dem mächtigen Kloster Panteleimonos der Russen, von denen 1917 vor der Revolution noch zweitausend Mönche hier lebten. Jetzt waren es in der letzten Bastion des heiligen Russland nur noch zwölf bärtige Steinalte in ärmlichen Kutten.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind junge Russen in ihr Heiligtum zurückgekehrt und haben damit begonnen, das zerfallende Klosterdorf wieder aufzurichten. Ihren spirituellen Antrieb verdanken sie einem heiligen Mönch, Siluan, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem Schuppen das einfache Leben eines Arbeiters führte und dennoch in seinen Gebeten auf mysteriöse Weise die großen Fragen seiner Zeit berührte. In seinem Dorf galt der ehemalige Schreiner als Lebemann, den Frauen und dem Wodka verfallen, bei einer Schlägerei einen Kameraden lebensgefährlich verletzend. Auf dem Athos, den er als „heilige Flamme“ empfindet, geht es ihm nur noch um die „Liebe für die Welt und ihre Rettung“. Er möchte der elendste und letzte aller Sünder sein. Nach heftigen Dämonen-Attacken und einer Christusvision beginnt er einen „inneren Abstieg in die Hölle“, um den allverzeihenden, liebevollen Blick des Herrn „festzuhalten“. Siluans Lebensfrage: „Wie bleibe ich in der Gnade?“ Es wird ein Ringen zwischen Frieden und der Qual um das „verlorene Paradies“, bis ihm auf die entscheidende Frage, was er tun soll, um demütig zu werden, die Antwort zuteil wird: „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle und verzweifle nicht.“

Das habe ich noch zu lernen. So ist der Athos: Umgeben von Abgründen zieht er in geistliche Gipfelregionen. Im Schweigen der Gottesnähe werden brutale Kämpfe „mit offenem Messer“ ausgefochten und die Gnade des „unerschaffenen Lichtes“ geschenkt. Von allem getrennt, doch mit allen verbunden, lehrt der 73-jährige Einsiedler Dimitri, den ich oben im Kastanienwald treffe. Er gleicht einem Clochard: struppig, langes ergrautes Haar, Kleiderfetzen, Holzsandalen. Tatsächlich hat der gebürtige Franzose Jahre lang in einer Hafenbar von Mykonos als Kellner gearbeitet. Den Sirtaki-Schritt von Alexis Sorbas beherrscht er noch, und „Jesus was a sailor …“ brummt er, den Song von Leonard Cohen.

Die Zeit ist hier oben wild geblieben, vor allem wenn er nachts von den Dämonen heimgesucht wird. Sie sind ihm vertraut, er könnte sie beim Namen nennen, neben seinem Gebetspult steht tatsächlich ein Knüppel. Als ich lächle, warnt er: „Du hast keine Ahnung.“ Er sagt es in einem überraschend heftigen Ton. Über sein Gesicht kullern Tränen, er schämt sich ihrer nicht und nennt sie „Taufwasser, Segenstropfen“, die sein „Steinherz“ aushöhlen. Nie habe er in seinem Leben so viel geweint wie auf dem Heiligen Berg. Er spricht von einem „Geschenk des Glücks“. Ich blicke ihn etwas ratlos an als er sagt: „Im Dank kann nur der stehen, der gefallen ist.“

In diesem Zustand begann seine leidenschaftliche Geschichte mit Gott, eine, zu der vor allem die „tragischen Sünder“ fähig sind. Es treffe zu für jeden Menschen in seinen persönlichen Verstrickungen: „Gott verlässt den Sünder nicht“, so erinnert er sich an einen Dichter, „im Gegenteil, er bearbeitet ihn, man könnte fast sagen, dass er ihn dort am wenigsten verlässt.“ Als er seinen geistlichen Vater Antonios um Rat bat, wann diese Kämpfe mit den Dämonen endlich ein Ende nehmen, erhält er zur Antwort: „Auf deinem Sterbebett.“

Das Flüstern Gottes

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