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Der Kathedrale von Chartres darf man alles zutrauen. Alljährlich machen sich in Paris tausende Jugendliche auf den Weg. „Nur noch die Füße beten“, schrieb der Nobelpreisträger François Mauriac. Tief unten in der Krypta befindet sich die „Schwarze Madonna“. Wir gehörten zur jungen 68er Generation und trugen Kreuze, die Studentinnen flochten Feldblumen in ihr Haar. Nicht Bob Dylan sang, wir sangen Marienlieder.

3. Chartres

Das Pfingstwochenende 1969 war in Paris ein Ereignis. 15.000 Studentinnen und Studenten versammelten sich in der Frühe vor dem Bahnhof Montparnasse. Die Barrikaden des putschartigen Monats Mai des Vorjahres waren noch nicht vergessen, und doch schien alles ganz anders. Keine Demonstranten skandierten auf den Straßen, keine roten Fahnen und weltrevolutionären Spruchbänder. Keine „Internationale“ erschallte, niemand erhob die Faust. Weder Schlagstöcke noch Wasserwerfer, noch Tränengas. Es war kein Aufmarsch, sondern eine friedliche Abfahrt im Regionalzug, der die Wartenden hinüber nach Palaiseau ins Département Essone bringen sollte, dem Wohnort des Dichters Charles Péguy. Er war hier im Sommer 1913 zu einem Abenteuer aufgebrochen, das über ein Jahrhundert hinaus Folgen haben sollte. Péguy hatte ein Gelübde für die Heilung seines schwer kranken Sohnes abgelegt und pilgerte zur Schwarzen Madonna in der Kathedrale von Chartres. 100 Kilometer in glühender Hitze, vier Tage hin und zurück über Nationalstraßen, Dorfplätze und Bauernpfade. Es war ein erschütternder Pilgerweg in der Einsamkeit. Bald danach brachen befreundete Dichter und Künstler auf. Es folgten das junge Frankreich und seine europäischen Freunde.

Péguy war einer der ersten, der im September 1914 in der Marneschlacht durch einen Kopfschuss fiel. Erst wenige Monate zuvor hatte er die Sakramente empfangen. Sein Tod löste nach dem Krieg neue Chartres-Wanderungen aus, der sich immer mehr Menschen anschlossen. Vor allem die Studenten der keineswegs religiös engagierten Sorbonne-Universität machten sich auf den langen Weg. Es herrschte Umbruchzeit: Die kurze, dramatische Lebensgeschichte des Dichters rüttelte auf, seine poetischen Hymnen an die Muttergottes von Chartres kannten die jungen Menschen auswendig, sie trafen auf eine labile Ruhe. Da waren die kaum beendeten Materialschlachten und die Milde der Muttergottes, die frischen Gräber der Soldatenfriedhöfe und dann die appellierenden Marienlieder, „jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Damals wie heute waren junge Menschen unterwegs, statt Waffen trugen sie Kreuze und Kornblumen. Über die wogenden Felder der Beauce fuhr der heiße Wind.

Die Herzen waren aufgewühlt und ringsum in der weltanschaulich umkämpften Literatur hatte eine kaum für möglich gehaltene Bewegung begonnen, die „Katholische Erneuerung“ genannt wurde. Die Philosophen Henri Bergson und Jacques Maritain bereiteten das Feld gegen die kirchenfeindlichen Propheten der Aufklärung. Sie kämpften um das Herz des Menschen, das Wesen der Person gegen die alles erklärende Wissenschaft. Es kam zu Aufsehen erregenden Konversionen: Léon Bloy, Ernest Psichari, dann geriet der verarmte Sozialist Charles Péguy in den Sog wie schon zuvor Jan-Yoris Huysmans und bald Paul Claudel, Georges Bernanos, François Mauriac, Julien Greene oder auch der Maler Georges Rouault.

Wenn man es kritisch bedenkt, herrschte im Vorfeld der Katastrophen eines noch mörderischeren zweiten Weltkrieges so etwas wie ein literarischer Ausnahmezustand, eine Gotteszeit, die vor dem Aufmarsch von Kommunisten und Nationalsozialisten auch eine Marienzeit war. Das Sonnenwunder von Fatima ließ aufhorchen; in La Salette und Lourdes waren zuvor Aufsehen erregende Zeichen geschehen. Das Schreckliche stand dem Zarten gegenüber. Millionenfaches Blutvergießen und eine Kindern erscheinende „schöne Dame“. Letzte Worte bevor das Böse hereinbrach, zeitlos alles Unheil übertreffend.

Als wir an jenem Tag im Mai 1969 mit Rucksack und Wanderschuhen zur Kathedrale von Chartres aufbrachen, waren wir dreißig Studenten der Technischen Hochschule Aachen, die sich unter die internationale Pilgergemeinschaft mischten. Auch Juden, Moslems und Buddhisten gehörten ihr an, die „nur einfach mitsingen“ wollten … Über das Leben Péguys, die literarischen Zusammenhänge oder das vollendete Gesamtkunstwerk Chartres wussten wir nicht all zu viel. Doch gab es Andeutungen. Da hatte ein armer Poet für sein sterbenskrankes Kind seine Knochen hingehalten und sich nach einem zweitätigen Leidensmarsch vor die Schwarze Madonna geworfen. Unsere Abenteuerlust sollte nicht enttäuscht werden, es gab keine romantischen Auswege mehr. Jeder Schritt wurde zu einem Gebet, François Mauriac schrieb: „Wir können nicht mehr beten, nur unsere Füße beten.“ Hunderte Male „Ave Maria“ zu singen, hatte sich niemand vorstellen können, jetzt floss der Gruß des Engels von unseren Lippen, die Perlen des Rosenkranzes wurden zu einem Halt, wenn der Horizont der immensen Felder keinen Blick auf eine Ankunft preisgab.

Neben mir marschierten ein schwer atmender farbiger Priester aus Princeton und zwei deutsche Studenten der protestantischen Theologie, die, wie schön, am berühmten Pariser „Institut Catholique“ Sonderkurse belegten. Kamen die Gespräche, verwiesen die jungen Deutschen immer wieder auf „das Schweigen Gottes“. Sie hatten viel Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth gelesen und erkannten im schweigenden Gott nach all den Katastrophen des Jahrhunderts endlich eine Chance für das Eigentliche. Allein die Stille Gottes. Gott allein. Hier wirkte existenzieller Tiefgang, konfessionelle Unterschiede verblassten. Ich hatte mich in Aachen an kalten Wintertagen mittags in die Bibliothek der Protestantischen Theologie mit den Büchern von Oscar Culmann und Louis Bouyer zurückgezogen. Es waren Entdeckungen. Luthers Marienverehrung beeindruckte. Frère Roger Schutz´ zeichenhafter ökumenischer Aufbruch in Taizé faszinierte. Jetzt, auf der staubigen Straße nach Chartres, zwischen Mariengebeten mit der ernsten Gottsuche der beiden Deutschen konfrontiert zu werden, war ein Freiheits-Erlebnis, das für immer geblieben ist. Hier herrschte eine strenge, schnörkellose Frömmigkeit, die sich, aller dogmatischen Finessen und Kleingläubigkeiten ledig, an einen „nackten Gott“, an einen Schmerzensmann richtete. Péguys Worte ließen keinen Zweifel: „Wir gehen hier nicht aus Tugend, denn wir haben keine. Nicht aus Pflicht, wir mögen sie nicht. Wir sind wie ein Schreiner, der seinen Kompass auf die Mitte seiner Misere richtet, hinein in die Achse seiner Verzweiflung. Aus dem Bedürfnis, noch unglücklicher zu sein und das heftige Böse zu ertragen.“

Das sind starke Worte in einem „Gebet des Vertrauens“, das der Dichter auf dem Vorplatz der Kathedrale von Chartres niederschrieb. In der Weltliteratur eines der schönsten Gedichte über die überwundene Versuchung. Hier spricht eine Gottesnähe, die aus großer Not stammt. Mehr noch als sein krankes Kind, mehr noch als seine finanzielle Misere quälte ihn, dass seine Frau seiner Bekehrung zur katholischen Kirche nicht folgen konnte und er aus Rücksicht dem Empfang der Sakramente fernblieb. Schlimmer war jedoch seine Liebe zu der jüdischen Studentin Blanche Raphaêl, eine leidenschaftliche Versuchung, von der er in den Feldern beim ersten Blick auf die Türme der Kathedrale erlöst wurde. „Hier“, so schrieb er in sein Tagebuch, „kann sich der Mensch nicht mehr vor Gott verstecken. All meine Unreinheiten verschwinden mit einem Schlag.“

Die einsame Seele und der grenzenlose Himmel: das ist Chartres immer noch.

Den langen Weg haben wir alle wie eine Verklärung „auf rauen Wegen zu den Sternen“ gespürt. Die Eucharistie erlebten wir auf einer Waldlichtung im strömenden Regen. Die Monotonie des Marsches verwandelte sich in eine sehnsüchtige Melodie. Wurde der Schmerz stark, erschienen die erneut auftauchenden Türme wie eine Verheißung. Wir wurden geführt, kein Raum mehr für Kindheitsphantasien und Grübeln über meine erschütterte monastische Berufung. Aber welches Glück dabei zu sein: „Gott allein“ war geblieben. Kein Zweifel, er sollte für immer bleiben. Jetzt, als wir uns im Abendrot unter kräftigen Glockenschlägen dem Portal näherten, spürten wir, wie sehr der Schweigende in der Emotion der Ankunft anzog. In Stein geschlagen das Geheimnis der Menschwerdung, Christus der Herr der Geschichte, Maria als Schmerzensmutter und Sitz der Weisheit, Hiob als Zeichen der Passion, die Symbole der Evangelisten, Engel, Adler, Löwe und Stier. Immer wieder David, auch nach dem Ehebruch mit Batseba. Alle Zeugen der Heilsgeschichte, begreifbar und greifbar. Das Steinalte trägt das Herrlichneue auf den Schultern.

Ein Einzug, wie man sich das Ende der Himmelfahrt vorstellen darf. 176 durch die Zeiten vor Zerstörung und Flammen gerettete Glasfenster im „Chartres Blau“, unnachahmlich das Schweigen im Licht eines flutenden Flüsterns. In der Tiefe eines Labyrinths der gallisch-römische Brunnen der „starken Heiligen“. Und dann endlich die „Liebe Frau unter der Erde“, die Schwarze in der Nische, allen Gebetsbestürmungen seit Jahrhunderten ausgesetzt, in Birnbaumholz geschnitzt ein mildes Lächeln. Keine Not mehr, nur noch die Wucht der Stille.

Das Flüstern Gottes

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