Читать книгу Weiße Spuren - Fredrik Skagen - Страница 7
Dienstag, 23. April
ОглавлениеBei der Arbeit ließ sich Arvid vorläufig nichts anmerken. Er verhielt sich so normal, dass keiner auf den Gedanken gekommen wäre, er habe eine Ehekrise. Durch die Fensterscheibe seines Kabuffs konnte er das ganze Archiv und etwaige Besucher im Auge behalten. Außerdem ließ er die Tür meistens offen, damit er hören konnte, wenn sich Schritte näherten. Kam jemand zu ihm, um sich Akten auszuleihen oder zurückzubringen, schaute er von seinem Computer auf und lächelte beinahe mit derselben Bereitwilligkeit wie zuvor. Und tauchte einmal ein Vorgesetzter auf, schaffte er es in der Regel, die Patience vom Bildschirm zu entfernen und durch eine unfertige Archivliste zu ersetzen. Beinahe jeder im Haus wusste, dass Arvid auf sein eigenes Betreiben hin ein neues Erfassungssystem ausarbeitete, was eine große intellektuelle Anstrengung für ihn bedeutete. Im Großen und Ganzen schien also alles wie immer zu sein, und hin und wieder gelang es ihm sogar sich einzureden, dies sei tatsächlich der Fall. Alles würde sich zum Besten wenden, wenn nur seine Patience zweimal nacheinander aufginge. Dies war sowohl gestern als auch heute geschehen, wenngleich er danach feuchte Hände gehabt hatte.
Arvid hatte die drei letzten Nächte in Olas Zimmer geschlafen und damit zum Ausdruck gebracht, dass er die Situation unerträglich fand, wohingegen Vibeke sich nichts anmerken ließ. Wie konnte sie nur? Er wurde einfach nicht schlau aus ihr und aus sich selbst auch nicht. Dass er sich weitgehend mit ihren Launen abfand, musste mit seiner verzweifelten Hoffnung zusammenhängen, sie würde sich bald besinnen, Vernunft annehmen und einsehen, dass alles eine vollkommen verrückte Idee gewesen war. Sollte sich die liebe, gutmütige Vibeke plötzlich in eine Hexe verwandelt haben, die Mann und Heim im Stich ließ?
Er konnte es einfach nicht glauben.
Doch andererseits – welch verlockende Möglichkeit, Träume und Hoffnungen zu verwirklichen, tat sich ihm auf! Die phänomenale Chance, Dinge zu tun, die plötzlich »erlaubt« waren. Beispielsweise Kontakt zu Merete Stigum aufzunehmen, die in der vierten Etage am Holtermannsvegen wohnte, der schicken Büroangestellten mit den schrägen, blinzelnden Augen. Sie war zwar einige Jahre jünger als er, doch seit vier Jahren geschieden und noch zu haben. Er konnte sich immer noch an ihren bezaubernden, weichen Körper erinnern, der sich beim Tanzen auf der Weihnachtsfeier eng an seinen geschmiegt hatte. Er hatte sogar versucht sie zu küssen und sich vorgestellt, mit ihr nach Hause zu fahren. Doch sie hatte ihn freundlich weggeschoben und an seine Familie erinnert. Und das alles, während Vibeke es nach dem Weihnachtsessen der Kanzlei noch sehr viel länger getrieben haben musste, so spät, wie sie damals nach Hause gekommen war, das wurde ihm jetzt klar. Was war er bloß für ein Narr gewesen – höchste Zeit, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Am Morgen hatte er Vibeke gefragt, ob sie ihre Drohung wahr zu machen gedenke, jetzt, da der Mann in der schwarzen Robe vom Seminar zurückgekehrt war. Darauf hatte sie geantwortet, das ginge schließlich nicht von heute auf morgen. Sie brauche ein paar Tage, um ihre Sachen zu sortieren und die Dinge einzupacken, die sie mitnehmen wolle. Doch eines würde sie ihm versprechen: Er könne ganz sicher sein, dass sie nichts mitnahm, was nicht ihr gehörte. Beinahe ihren gesamten gemeinsamen Besitz: Möbel, Kücheneinrichtung, Auto und Ähnliches würde sie ihm überlassen, abgesehen von einigen Bildern, ihren Büchern und selbstverständlich dem halben Miteigentumsanteil an der Wohnung. Ihre Stimme hatte auf Grund ihres schlechten Gewissens gebebt, und darum zweifelte er nicht an ihren Worten, als sie versicherte, dafür zu sorgen, dass er aus der Scheidung besser hervorgehen würde als sie.
Auf dem Heimweg lief er vor der Shell-Tankstelle an der Elgeseter gate zufällig Simon Tokle über den Weg, und sie wurden sich rasch einig, nach dem abendlichen Schießtraining noch in die Stadt zu gehen. Simon sagte, er müsse unbedingt ein wenig abschalten, sonst würde er noch verrückt werden, und Arvid packte die Gelegenheit beim Schopf. Dabei handelte es sich nicht nur um eine gute Tat – Simon machte eine sehr schwierige Zeit durch und verdiente etwas Aufmunterung –, sondern er würde in Simons Gesellschaft auch seine eigenen Probleme vergessen.
Es war äußerst entspannend, sich mit Simon ein paar Drinks zu genehmigen, außerdem waren sie selten unter sich. Normalerweise trafen sie sich nur im Schützenverein, denn Simon war ein vielbeschäftigter Mann mit einem großen Bekanntenkreis und vielfältigen Interessen. Dazu kam, dass er in den letzten Wochen unter fast unmenschlichem Druck gestanden hatte. Alle Mitglieder waren sich stets einig gewesen, was für ein Glück seine Freundin hatte, mit so einem Pfundskerl Haus und Bett zu teilen. Doch vor bald sechs Wochen war das Schreckliche und Unfassbare geschehen. Die Frau, mit der er zusammenlebte, war plötzlich spurlos verschwunden. Die Bibliothekarin Anne-Lise Vatn, eine reizende Frau, über die niemand auch nur ein böses Wort verlor, war vermutlich mit ihrem Auto verunglückt. Man ließ auch die Möglichkeit nicht außer Acht, sie könne anstelle zur Arbeit willentlich über eine Klippe gefahren sein. Wenn eine hübsche und offenkundig erfolgreiche Frau so etwas tat, musste man auch Depressionen in Betracht ziehen.
Arvid saß dem Freund in der schummrigen Ecke einer Pianobar gegenüber und spürte schon nach dem ersten Whisky, wie er sich beruhigte und Abstand zu seinem Kummer gewann. Sie waren nicht gerade alte Schulfreunde, doch Arvid hatte sich von Beginn an zu Simon hingezogen gefühlt und geglaubt, dieser empfinde dasselbe. Am Anfang war es vor allem Bewunderung gewesen, denn Simon war anders als die meisten. Er hatte tadellose Umgangsformen, war ein guter Gesprächspartner und trat – seinen sozialen Status in Betracht gezogen – angenehm unprätentiös auf. In Arvids Augen waren Leute aus der freien Wirtschaft meist arrogante Schnösel, die ihre Geringschätzung der kleinen Leute nur schlecht verbargen, doch der Geschäftsführer Simon Tokle schien für solch kleinmütige Verhaltensweisen nichts übrig zu haben. Für ihn schien jedes einzelne Mitglied des Schützenvereins ein wertvoller Mensch zu sein, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund. Arvid glaubte, dies hinge damit zusammen, dass Simon selbst aus einfachen Verhältnissen kam, ein bodenständiger Mann von der Küste, der sich quasi aus dem Nichts emporgearbeitet hatte und heute im großen Stil Fisch aufkaufte. Es kam ihm so vor, als verströmte Simon immer noch den Geruch nach Salzwasser und frisch ausgenommenem Kabeljau. Kleidung und Auto zeugten zwar von Geld und Geschmack, doch seine gelassene Einstellung zum eigenen Besitz sowie die Art seines Auftretens flößten Respekt ein. Wenn er den Klub hin und wieder finanziell unterstützte, hängte er dies nicht an die große Glocke; viele Mitglieder wussten nicht einmal, um was für Beträge es sich dabei handelte. Vor allem strahlte Simon eine natürliche Wärme aus, für die Arvid viel übrig hatte. Wärme und Aufrichtigkeit waren immer noch spürbar, obwohl die Ungewissheit über das Schicksal des Partners deutliche Spuren hinterlassen hatte. Immer wieder schweifte sein Blick in die Ferne, während seine Finger auf der Tischplatte trommelten, wie sie es früher nie getan hatten.
»Du hast die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?«, wagte sich Arvid vor.
»Nein, natürlich nicht. Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist.«
»Das muss sehr hart sein.«
»O ja.«
»Sie ... sie hat keinen Brief hinterlassen?«
»Nichts.«
Arvid spürte, dass Simon nicht an ihr Verschwinden erinnert werden wollte. Zu gerne wäre er es gewesen, der das Rätsel auflöste. Gab es etwas, das ihm wirklich lag – von der Verwaltung des Archivs abgesehen –, dann war es sicher die Lösung rätselhafter Fälle, das Finden von Erklärungen, auf die niemand außer ihm gekommen wäre. Er hielt beispielsweise immer noch an seiner ursprünglichen Theorie fest, der Mörder Olof Palmes müsse die Frau sein, nach deren Pfeife die gesamte Justiz tanzte – seine Ehefrau. Sie hatte sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit gehabt, und was die Tatwaffe betraf, war niemand von der Polizei auf die vermessene Idee gekommen, der Frau des Ministerpräsidenten auf den Zahn fühlen zu wollen. Eines Tages würde allen klar sein, dass der vollkommen unbekannte Arvid K. Bang aus Trondheim schon längst auf die einzig richtige Lösung gekommen war.
Im Zuge dieses Gedankens konnte er sich folgende Bemerkung nicht verkneifen:
»Ich habe gelesen, dass Menschen mit Depressionen oft einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Anne-Lise hat ein Tagebuch geführt, aber ich traue mich nicht, danach zu suchen.«
»Sonst bleibt nur ein Verbrechen.«
Simon zuckte nicht gerade zusammen, wurde jedoch eindringlicher und flehentlicher: »Sei so gut, Arvid ... Ich habe mir das Hirn zermartert, ob es einen einzigen Menschen gibt, der Anne-Lise gehasst haben könnte. Umsonst. Fällt dir jemand ein? Nein! Wenn sie etwas zum Opfer fiel, dann ihren eigenen Gedanken. Hätte ich sie nur lesen können ... rechtzeitig.«
»Entschuldige«, sagte Arvid rasch. Es war ihm so unangenehm, dass er errötete und in den Schuhen die Zehen krümmte. Fieberhaft suchte er nach einem anderen Gesprächsthema – und fand eines: Ihr gemeinsames Hobby.
Glücklicherweise ließ sich Simon mitreißen, ob dies nun an den Drinks lag oder an seiner Erleichterung, dass sein Freund das Thema gewechselt hatte. Nachdem sie eingehend darüber diskutiert hatten, in welcher Form sich der Schützenverein bei den Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum im nächsten Jahr präsentieren sollte, fragte Simon:
»Und wie geht’s dir so? Alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, beeilte sich Arvid zu antworten. Nach drei Drinks verspürte er ein intensives Verlangen, sich dem Mann mit den braunen Augen und dem dunklen, unbändigen Stirnhaar anzuvertrauen. Doch gleichzeitig merkte er, wie sein latentes Unterlegenheitsgefühl – der verfestigte Respekt vor einem Mann, der offensichtlich erfolgreich war und dennoch eine Tragödie erlebte – ihn davon abhielt. Simon mit seinen Eheproblemen zur Last zu fallen, hieße nicht nur, eine selbst verschuldete Niederlage einzuräumen; verglichen mit den Sorgen des Freundes waren seine eigenen eine Lappalie.
»Also alles in bester Ordnung?«
»Für Außenstehende sieht das Projekt, an dem ich arbeite, vielleicht nicht besonders spannend aus«, erwiderte Arvid und beugte leicht den Kopf, »aber ich kann dir versichern, dass ich meine ganze Kraft dafür einsetzen muss.«
»Hört sich ziemlich anstrengend an.«
»Und ob. Ich muss mich für den geringsten Fehler verantworten, auch wenn er von meinen Assistenten begangen wurde.« Arvid ließ selten eine Gelegenheit aus, um seine persönliche Verantwortung in der Behörde hervorzuheben. Auf diese Weise konnte er auch durchblicken lassen, dass er nicht auf der untersten Sprosse der Hierarchieleiter stand, sondern einer Reihe von Angestellten übergeordnet war.
»Und deine Archivarbeit hat einzig und allein mit Datenerfassung zu tun?« Simon wirkte wirklich interessiert.
»Ja, natürlich. Bei der Stadtverwaltung ist es immer schwierig, mit neuen Ideen durchzudringen. Doch in diesem Fall waren die hohen Herren Feuer und Flamme.«
»Gut zu hören. Die Sache ist nämlich die, dass ich gerade mit dem Gedanken spiele, die Datenerfassung umzustellen. Vielleicht könntest du meinen Damen dabei ein wenig unter die Arme greifen.«
»Sehr gern.«
»Ein kleiner Beraterjob, meine ich.«
Arvids Gesicht leuchtete auf. Irgendjemand musste Simon auf die Pionierarbeit hingewiesen haben, die er am Holtermannsvegen leistete. Technisch gesehen sollte es kein Problem sein, sein neues Datenerfassungssystem auf einen anderen Bereich zu übertragen. Meinte Simon das wirklich ernst? Das würde ihm endlich die ersehnte Gelegenheit verschaffen, zu zeigen, wozu er taugte. Was sogar zur Folge haben könnte, dass er von der Stadtverwaltung in die freie Wirtschaft überwechseln und endlich das Gehalt verdienen würde, das ihm eigentlich zustand.
»Vielleicht ein interessanter Job«, sagte er und bereute sofort seine Worte, weil Simon sicher kein Anhänger abgedroschener Geschäftsphrasen war.
»Aber du hast sicher schon mehr als genug um die Ohren.«
»Im Moment schon. Jeden Mittwochnachmittag muss ich sogar Überstunden schieben.«
Simon nickte mitfühlend. »Wie sieht es zum Beispiel mit dem Herbst aus?«
Arvid zögerte ein wenig, als müsse er sich erst seinen Terminkalender vergegenwärtigen, bevor er antwortete. »Nun ... da könnte sich vielleicht etwas machen lassen.«
»Denk noch mal darüber nach.«
Während Arvid innerlich jubelte – in Simon Tokles Welt waren rasche Entscheidungsprozesse unabdingbar –, nahm er einen Schluck Whisky und versuchte seinen infantilen Enthusiasmus zu verbergen. Der Freund strich sich die Haare zurück und zündete eine Zigarette an, bevor er hinzufügte:
»Wenn man immer denselben Job macht, erstarrt man leicht in Routine.«
»Das ist wohl wahr.«
»Vielleicht sollte auch ich mich auf einem anderen Markt versuchen.«
»Du?«
»Fisch ist eine unsichere Branche. Spannend, aber verdammt unsicher. Was mich reizen würde, wäre die Börse! Man wird schließlich nie zu alt, um etwas Neues auszuprobieren.« Plötzlich strahlte er einen jungenhaften Eifer aus.
Arvid sagte, er sei ganz seiner Meinung.
»Ein Aktienfonds wäre eine vorsichtige Variante«, fuhr Simon fort. »Vielleicht gar nicht so dumm.«
»Tja ...«
»Hast du es schon mal versucht?«
»Nein, aber ...« Er wollte gerade sagen, dass Vibeke es getan hatte, ließ es jedoch bleiben. Was für einen Sinn hätte es auch, zu erwähnen, dass ihre Investitionen vermutlich viel vernünftiger gewesen waren als seine eigenen. Der Gedanke an Vibeke schickte ihm eine Schar juckender Ameisen zwischen die Schulterblätter.
Sie orderten eine neue Runde Whisky. Arvid war sicher, dass Simon am Ende die gesamte Rechnung begleichen würde, das lag im Grunde auf der Hand.
»Ich habe einen Kumpel in Oslo, der sich vergangenes Jahr an der Börse versucht hat«, fuhr der Freund fort. »Er kaufte Aktien für hundert Riesen und hatte Weihnachten den fünffachen Gewinn gemacht.«
»Eine halbe Million?«
»Ja, es hört sich abenteuerlich an. Natürlich hat er viel Glück gehabt, aber mit den richtigen Kontakten ...«
»Das wäre was«, seufzte Arvid, »doch leider habe ich weder Startkapital noch die richtigen Kontakte.«
»Aber vielleicht das richtige Gespür ...«
»Vielleicht.«
»Das Gespür ist das Wichtigste überhaupt.«
»Ohne Zweifel.«
»Ich habe das Gefühl, du liegst immer richtig.«
Arvid nickte. Er spürte die Wärme in den Wangen, nicht nur aufgrund des Whiskys. Dass Simon ihm solche Fähigkeiten ohne weiteres zutraute, stimulierte sein Selbstbewusstsein. »Mal etwas anderes«, hörte er sich plötzlich sagen. »Was würdest du tun, wenn eine fremde Person, vielleicht aufgrund eines Computerfehlers, Geld auf dein Konto einzahlen würde?«
Simon hatte sich gerade eine neue Zigarette angezündet und das Streichholz im Aschenbecher verschwinden lassen; überrascht blickte er auf und antwortete:
»Keine Ahnung.«
»Würdest du das Geld behalten?«
Der Freund zuckte mit den Schultern, als sei dies eine zu hypothetische Frage. »Ich kann mich nicht erinnern, dass mich jemand unfreiwillig reicher gemacht hätte. Aber sollte dies einmal geschehen, würde ich zunächst ein paar Tage abwarten. Meistens findet sich ja doch eine logische Erklärung.«
»Es könnte ja ein Computerfehler vorliegen.«
»Stimmt. Ist dir das passiert?«
Arvid zögerte. »Wie man’s nimmt. Neulich habe ich ein paar tausend Kronen bekommen, von denen ich absolut nicht weiß, wo sie herkommen.«
»Wie schön für dich. Vielleicht hat dein Vater ja beim Stierkampf auf das richtige Tier gesetzt.«
Arvid musste lachen. Vor ein paar Jahren waren seine Eltern nach Spanien ausgewandert und hatten sich ein kleines Haus an der Südküste gekauft. Dass das Geld womöglich von ihnen stammte, hatte er überhaupt nicht in Betracht gezogen, vermutlich, weil dies allzu unwahrscheinlich war. Seine Eltern waren nicht gerade vermögend; vielmehr waren es ihr Rheumatismus und das gemeinsame Bedürfnis nach Wärme, die sie ins Exil getrieben hatten.
Danach begannen er und Simon darüber zu diskutieren, ob es eine richtige Entscheidung gewesen war, Paul Mortensen zum neuen Vorsitzenden des Schützenvereins zu wählen, nur weil niemand anderer für dieses Amt zur Verfügung gestanden hatte. Simon hätte sicher anders reagiert, wenn ich ihm von der wirklichen Höhe des Betrags erzählt hätte, dachte Arvid. Es war sicher das Beste, die Wahrheit bis auf weiteres für sich zu behalten. Obwohl er sich gerade in ausgelassener Stimmung befand, warnte ihn eine innere Stimme davor, zu redselig zu werden. In ein paar Monaten, wenn niemand das Geld für sich beansprucht haben sollte, konnte er einen neuen Vorstoß wagen und Simon fragen, ob seine Börsenpläne immer noch aktuell seien. In der Zwischenzeit hatte ihn der Freund vielleicht wirklich mit einem Computerjob beauftragt, und dann stünden sie sich – sowohl in einer als auch in anderer Hinsicht – näher.
Die verheißungsvollen Aussichten rückten die Probleme mit Vibeke vollends in den Hintergrund. Er genoss den spendierten Whisky und träumte von einer leuchtenden Zukunft. Als sie sich vor dem Taxistand am Marktplatz voneinander verabschiedeten – Arvid hatte sich entschlossen, zu Fuß zu gehen, obwohl Simon angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren –, war er in so aufgeräumter Stimmung, dass ihm seine Eheprobleme vollkommen unbedeutend erschienen. Nachdem das Taxi verschwunden war, beschäftigte er sich bloß fünf Sekunden mit Simons Verzweiflung. Er fragte sich, was für ein Gefühl es sein musste, in das große, leere Haus in Byåsen zu kommen, während Anne-Lise Vatn vermutlich niemals zurückkehrte, weil sie irgendwo in einem Autowrack lag. Und als er gegen Mitternacht seine Wohnungstür im zweiten Stock aufschloss, war er so guter Laune, dass es ihm kaum etwas ausmachte, dass Vibeke noch auf war, um ihm zu sagen, es sei bald so weit.
»Morgen Nachmittag. Preben kommt mit einem Lieferwagen und hilft mir beim Umzug.«
»In Ordnung.«
»Während du Überstunden machst, dann brauchst du dich nicht aufzuregen.«
»Wie rücksichtsvoll«, sagte Arvid.
Er meinte es ehrlich.
Zumindest in diesem Moment.