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Mittwoch, 24. April

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In einem Vierfamilienhaus in Nardo stand Janne Hatling am Küchenfenster im ersten Stock und sah, wie ihr Mann sich umdrehte und ihr zum Abschied zuwinkte. Sie war so überrascht, dass er bereits unter dem Dach des Carports verschwunden war, als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, die Hand zu heben und zurückzuwinken. Und ihre Laune wurde noch besser, denn sie nahm den unerwarteten Gruß als eine Bestätigung, dass sie seine ersten Signale des Tages richtig aufgefasst hatte.

Sie folgte dem schwarzen Mitsubishi Lancer mit den Augen, als er unter dem Carport auftauchte und auf die Straße rollte. Dann war er verschwunden, und sie lächelte.

»Heute wird es schwierig sein, mich zu erreichen. Ich habe eine Konferenz nach der anderen. Der neue Einsatzplan, weißt du.«

Hatte Björn gesagt, bevor er gegangen war.

Beim Frühstück war er viel entspannter gewesen als normalerweise, beinahe fröhlich. Als rechnete er bereits damit, dass im Lauf des Tages ein höchst angenehmes Ereignis eintreten würde, beispielsweise eine wohlverdiente Gehaltserhöhung oder eine persönliche Auszeichnung, womit auch immer er diese verdient hätte. Janne hatte ihn nicht direkt gefragt, meinte jedoch in seinen Augen ein bestätigendes Leuchten erkannt zu haben. Und als er sich ein paar Kaffeetropfen von seinem kupferroten Schnurrbart abwischte – den sie immer ein wenig komisch gefunden hatte –, entdeckte sie ein verschmitztes Lächeln, das beinahe dem frechen Grinsen aus jungen Jahren gleichkam. Er hatte sie sogar kurz umarmt, bevor er gegangen war.

Janne blätterte oberflächlich in der Zeitung, bevor sie sich, so unbeschwert wie lange nicht mehr, an den Computer setzte. Während die Frühlingssonne in die Wohnung strömte und goldene Tupfen über die Wohnzimmermöbel verteilte, tauchte sie in eine andere Welt ein, in die von Alice Morgan. Wie sie erwartet hatte, traf Sir Patrick Craig seine Geliebte im Gartenpavillon hinter Gresham Manor, während Mrs Craig beim Landpfarrer zum Tee eingeladen war. Der Graf war nicht gerade ein feuriger Verführer, doch die junge Liza Smith, Tochter eines armen Bergmanns, hatte Bedarf nach Ablenkung – und brauchte Geld.

Als es auf zwölf Uhr zuging, hatte Janne sechs neue Seiten aus Pennies from Heaven übersetzt, einem Unterhaltungsroman, der in wenigen Monaten an den Kiosken erhältlich sein würde, vermutlich zur außerordentlichen Freude der großen, getreuen Leserschaft von Alice Morgan. Janne war von dem Genre nicht gerade begeistert, doch wenn ihr fester Auftraggeber, der seriösere Bücher verlegte, ihr nichts anzubieten hatte, dann übersetzte sie gerne auch einmal einen Trivialroman für ein weniger renommiertes Verlagshaus. Dies wurde zwar schlechter bezahlt, aber dafür war die Sprache einfacher, und man verlangte nicht mehr von ihr als eine einigermaßen präzise Übertragung des Manuskripts ins Norwegische. Sie hatte sogar die Erfahrung gemacht, dass es nicht nötig war, solche Romane zu lesen, bevor sie sich an die Arbeit machte; so gesehen erhielt sie sich ein wenig Spannung. Würde die Handlung so verlaufen, wie sie vermutete?

In der Regel tat sie das.

Janne hängte einen Teebeutel in den alten Becher mit der Aufschrift »Mama« und schmierte sich Toastscheiben mit schottischer Orangenmarmelade. Während sie aß, lauschte sie konzentriert den Vormittagsnachrichten auf P2 und etwas weniger konzentriert dem Musikprogramm, das folgte. Schließlich zündete sie sich die zweite Zigarette des Tages an und fragte sich, ob Björn womöglich eine Überraschung auf Lager habe, wenn er nach Hause kam. Nachdem Tove nach den Osterferien wieder nach Oslo gefahren war, um ihr Studium fortzusetzen, hatte Janne ihn gefragt, ob sie nicht gemeinsam etwas unternehmen wollten – etwas Außergewöhnliches –, nur sie beide. Björn war einverstanden. Sie waren ins Kino gegangen, hatten nachher ein Bier getrunken und miteinander geschlafen. Das war alles, vorläufig. Nicht gerade sehr außergewöhnlich, eher ein wenig gezwungen, und nun war das meiste wieder wie früher. Und wenn sie einfach anrief und zwei Konzertkarte für die Olavshalle am morgigen Abend bestellte? Wenn Björn so etwas täte, ohne ihr vorher Bescheid zu geben, würde sie jubilieren. Doch sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde. Björn wollte immer rechtzeitig im Voraus informiert werden. Das hing wohl mit seiner Arbeit zusammen, bei der das Gegenteil – das Unerwartete – die Regel war. Als Ermittler bei der Kriminalpolizei musste er sich ständig auf alles gefasst machen. »Darum brauche ich ein geregeltes Privatleben«, hatte Janne ihn zu Freunden sagen hören. In den letzten Monaten hatte sie das Gefühl gehabt, geregelt bedeute für sie, nicht mehr vorhanden zu sein.

Das Beste würde es sein, wenn sie ihn anriefe und fragte, ob er Lust hätte, morgen Abend auszugehen.

Dann erinnerte sie sich an seine Worte, er sei heute nur schwer zu erreichen. Und sie erinnerte sich an den ungewohnt fröhlichen Gesichtsausdruck über der Kaffeetasse, seinen beinahe geheimnisvollen Blick. Falls er etwas vorbereitet hatte, würde ein Vorschlag ihrerseits seinen Plan vielleicht zunichte machen. Andernfalls konnten sie immer noch im Laufe des Nachmittags über das Konzert sprechen. Sie überprüfte den Inhalt des Kühlschranks, schrieb einen Einkaufszettel und stellte den Anrufbeantworter an. Dann fuhr sie mit einem Kamm durch ihre aschblonden Locken, zog Mantel und Schal mit dem schottischen Karomuster an, schnappte sich die Einkaufstasche und eilte die Treppen hinunter. Sie setzte sich auf das alte schwarze Fahrrad und strampelte dem Kreisverkehr an der nächsten Kreuzung entgegen. Dort stieg sie ab und schob das Rad vorschriftsmäßig über die beiden Zebrastreifen, ehe sie wieder aufstieg, um das letzte Stück zum Einkaufscenter zu radeln. Dort traf sie niemand, den sie kannte, wechselte jedoch ein paar Worte mit dem Verkäufer hinter der Fischtheke. Er hatte pechschwarze Haare, kaffeebraune Augen und ein Lächeln, das Spannung und Abenteuer verhieß. Sie spürte zwar keine erotische Anziehung, doch sein Gesicht erinnerte sie an die exotischen Männer mit Ohrringen, die sie fasziniert hatten, wenn sie als Kind in der Prachtausgabe von Tausendundeine Nacht blätterte.

»Tiefsee-Saibling ist eine Delikatesse«, sagte er.

Daraufhin erklärte er ihr, wie sie den Fisch am besten zubereiten könne, was sich so verlockend anhörte, dass sie sich überreden ließ, zwei Filets zu kaufen. Sie erstand auch einen Hefezopf, süße Rosinenbrötchen und Baumkuchen. Wenn sie sich in Bezug auf Björn nicht täuschte, hatte er sich heute etwas besonders Gutes verdient.

Zu Hause angekommen, fiel ihr sogleich auf, dass die Lampe des Anrufbeantworters nicht blinkte. Sie fragte sich, was Björn eigentlich im Schilde führte, bevor sie sich wieder Gresham Manor widmete und ein paar Seiten über Mrs Craigs wohlbegründete Eifersucht schrieb. Sie war davon überzeugt, dass Sir Patricks zweifelhaftes Doppelleben gegen Ende des Romans von Charlie Beard – dem jungen, arbeitslosen Mann, der Liza Smiths wahre Liebe war – enttarnt würde und dass Charlie und Liza zueinander finden konnten. Bislang war Pennies from Heaven ziemlich vorhersehbar verlaufen, was nicht überraschte.

Dann klingelte das Telefon. Es war Tove, die mit drei Kommilitoninnen gerade in eine neue Wohnung gezogen war.

»Wir waren heute in Larkollen.«

»Beim Hundezüchter?«

»Ja.«

»Sprich nicht weiter!«

»Eine Welpe kostet nur sechstausend.«

»Darum geht es nicht, Tove. Aber Björn ...«

»Er wird sich auf der Stelle in ihn verlieben.«

Janne seufzte. Sie sah Tove deutlich vor sich – jung, bemüht, hilfsbereit. Ihre rotblonden Haare standen wie eine windgepeitschte Wolke um ihren Kopf. Es war derselbe Wind, der sich bei ihnen um die Osterzeit bemerkbar gemacht hatte. Die unbändige, ernste Tochter, die sofort durchschaut hatte, dass zwischen ihren Eltern etwas nicht stimmte und die der wahnwitzigen, kindlichen Idee verfallen war, die Ankunft eines kleinen Cairn-Terriers in Nardo könne eheliche Wunder bewirken, bloß weil Janne geäußert hatte, dass ihnen ein Tier vielleicht gut täte.

»Du weißt doch, wie sehr es Björn hasst, wenn über seinen Kopf hinweg entschieden wird.«

»Dann muss er sich endlich daran gewöhnen!« Tove nahm wie üblich kein Blatt vor den Mund. »Papa wird sofort erkennen, wie Unrecht er hatte. Wenn’s drauf ankommt, liebt er Hunde, genau wie du.«

»Schon, aber ...«

»Bearbeite ihn ein wenig. Mach ihm was Leckeres zu essen.«

»Eigentlich habe ich schon ...«

»Sei ein bisschen nett zu ihm, Mama!«

Janne musste lächeln. Als sie in Toves Alter war, wäre es undenkbar für sie gewesen, ihren Eltern einen Rat zu geben, was deren Zusammenleben betraf. »Ich werde heute Abend versuchen, mit ihm zu reden.«

»Versuchen? Tu es doch einfach. Du bist doch ganz verrückt auf solch einen Hund.«

»Versprochen.«

»Und du rufst mich dann an?«

»Versprochen.«

»Der Hundezüchter sagte, wir müssten uns schnell entscheiden«, fügte Tove rasch hinzu. »Die Welpen sind fast zwei Monate alt, und die Interessenten stehen schon Schlange!«

Nachdem Janne aufgelegt hatte, zündete sie sich eine Zigarette an. Sie wusste, dass die Tochter Recht hatte; sie wünschte sich wirklich einen Terrier, ein Tier, mit dem sie spazieren gehen konnte und das ihr Gesellschaft leisten würde, wenn Björn nicht zu Hause war. Er war den ganzen Tag von Kollegen umgeben und wusste einfach nicht, was es hieß, für sich allein zu arbeiten und nur eine Radiostimme zu hören, wenn sie sich am Vormittag etwas zu essen machte. Tove war ihr einziges Kind – weitere konnten sie nicht bekommen –, und Tove war ausgezogen. Jannes Vorschlag, einen ausländischen Jungen zu adoptieren, hatte bei Björn nie Gehör gefunden, und nun war es zu spät. Vielleicht lag dies an der Art und Weise, wie sie den Vorschlag gemacht hatte, vielleicht hätte er sich mit der Idee anfreunden können, wenn sie etwas behutsamer vorgegangen wäre. Sie rechnete zwar nicht gerade mit einem Wutausbruch von ihm, wenn ihm zu Ohren kam, dass Tove und sie hinter seinem Rücken über den Kauf eines Welpen sprachen, aber begeistert würde er gewiss nicht sein.

Andererseits, am heutigen Tag ... Hatte sie nicht das sichere Gefühl, heute sei alles möglich? Sie tröstete sich mit dieser Hoffnung und stellte den Computer an. Dort, auf dem grauen Monitor, besuchte Mrs Craig erneut den Pfarrer, der ihr – ohne seine geistliche Überzeugungskraft einzubüßen – berichten konnte, dass ihr Mann an dem Tag, an dem er eigentlich in London sein sollte, hinter einigen Rhododendrenbüschen des Dorfes mit der verschrobenen, vulgären Liza Smith beobachtet worden sei. Janne seufzte und begann das Abendessen vorzubereiten. Sie rieb die Saiblinge mit Salz, Pfeffer und Knoblauch ein, während sie dem Radio lauschte, legte sechs junge Kartoffeln in einen Kochtopf und stellte die Herdplatten an, goss Olivenöl in die Bratpfanne und vermischte es mit einem Stich Butter. Dann deckte sie den Küchentisch, wobei sie feststellte, dass sich die Radionachrichten im Lauf des Tages nicht geändert hatten. Die UNO übte scharfe Kritik am israelischen Krieg im Südlibanon. Sollte sie die letzte Flasche Weißwein aus dem Keller holen? Die Waffen einer Frau einsetzen, so wie Tove ihr geraten hatte? Nein, wenn ihr etwas widerstrebte, dann war es, sich auf diese Weise an ihn heranzumachen. Ach, wenn man noch einmal jung wäre, Toves nie versiegenden Elan und Optimismus besäße!

Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr über dem Herd. 16:15. Eines musste man Björn lassen. Er gab immer Bescheid, wenn er sich verspätete oder Überstunden machen musste. Normalerweise kam er um Viertel nach vier zu Hause an. Sie goss das Wasser ab, legte die Kartoffeln in eine Terrine und zog die Pfanne von der heißen Herdplatte. Trat ans Fenster und spähte über die Straße. Dann eilte sie die Treppen hinunter, schloss das Kellerabteil auf, griff nach der Weinflasche und kicherte. Um die Versuchung in Grenzen zu halten, hatten sie sich darauf geeinigt, ihren »Weinkeller« in möglichst weiter Entfernung von der Wohnung zu haben, doch offenbar war die Entfernung noch nicht groß genug. In der Küche kämpfte sie eine Weile mit dem Korken, bevor sie ihn herausgezogen hatte, zwei Weingläser holte und auf den Tisch stellte. Voilà!

Als sie das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es Viertel vor fünf. Sie hob den Deckel von der Pfanne. Der Duft war betörend, doch die Bratkruste löste sich bereits vom Fleisch. Die Konferenz – oder die Konferenzen – dauerte natürlich länger als angenommen. Es war nicht so einfach, solch eine Sitzung zu verlassen, um zu Hause anzurufen, wenn man sich gerade in schweißtreibenden Verhandlungen über wichtige Einsatzpläne befand. Janne deckte anstelle des Küchentischs den Wohnzimmertisch und fand zwei gelbe Kerzen, die noch aus der Osterzeit stammten. Danach zündete sie sich eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster.

Als die Zeiger fünf Uhr passiert hatten, ging sie zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums. Sie wollte nicht stören, wollte auch gar nicht darum bitten, mit Björn zu sprechen, sondern nur wissen, ob er das Haus bereits verlassen hatte.

»Andersen, Zentrale.«

Sie kannte den Mann nicht. »Hier ist Janne Hatling.«

»Ja, bitte?«

»Können Sie mir sagen, ob Björn Hatling schon aus dem Haus ist?«

»Einen Augenblick.«

Im Hintergrund hörte sie aus dem Küchenradio Days of Wine and Roses. Sie stellte fest, dass sie die Zigarette in der Hand hielt und keinen Aschenbecher hatte.

»Hören Sie ...«, sagte Andersen.

»Ja?«

»Björn Hatling ist heute nicht zur Arbeit erschienen.«

Für einen Augenblick kam ihr das aufregende Gefühl der Vorfreude abhanden.

»Das muss ein Irrtum sein. Er ...«

»Nein, nein, ich habe die Personalliste vor mir. Er hat sich heute frei genommen. Abbau von Überstunden.«

Janne sah, wie sich die Asche von der Zigarette löste und auf den Teppich fiel. Doch nachdem sie aufgelegt hatte, wurde ihr klar, dass Andersen natürlich Bescheid wusste. Björn hatte sie an der Nase herumgeführt. Vorsätzlich, wie es nach kriminalistischer Terminologie hieß. Weil er etwas im Schilde führte. Etwas, das Zeit benötigte. Zu Hause würde er die Katze aus dem Sack lassen. Ihr wurde inwendig warm. Erneut dachte sie an das verschmitzte Blitzen in seinen blauen Augen, das stumme Einverständnis, das sich womöglich auf ihren Vorschlag bezog, einmal etwas ganz Besonderes zu unternehmen. Lieber Björn, ich liebe dich. Wirst du wieder der Alte? Die neu auflebende Spannung ließ ihr Herz schneller schlagen. Was konnte das nur sein, das einen ganzen Tag Vorbereitung benötigte? Streifte er durch die ganze Stadt, um ein neues Auto zu kaufen? Nein, der Mitsubishi Lancer war erst vier Jahre alt. Es musste sich um etwas ganz anderes handeln, etwas, das sie sich im Moment gar nicht vorstellen konnte. Ein Frühjahrskostüm? Ein neuer Laserdrucker für ihren Computer? Sie presste den Korken zurück in die Weinflasche und stellte sie in den Kühlschrank. Gestern Abend, als Björn vom Fußballplatz kam – er trainierte eine Jungenmannschaft –, hatte sie zu ihm gesagt: »Stell dir vor, wir würden im Mai zum Shopping nach London fahren.«

»Ja, das wäre was.«

Doch seine Stimme hatte nicht verraten, was er eigentlich von dem Vorschlag hielt.

Die Minutenziffern der Uhr über dem Herd wechselten langsam. Sie dachte an das Essen, das bald ungenießbar sein würde; die leckeren Tiefsee-Saiblinge unter dem Deckel, die mehr und mehr an graue Holzscheite erinnerten. Als die Uhr fünf Minuten vor sechs anzeigte, wurde ihr plötzlich klar, dass Björn, falls er wirklich eine Überraschung vorbereitete, mit Sicherheit angerufen, sie beruhigt und ihr versichert hätte, dass die Konferenz länger dauere als veranschlagt. Der Plan basierte doch darauf, dass sie seine eigentlichen Beweggründe nicht kannte. Oder rechnete er damit, dass ihr die Verzögerung nichts ausmachte, dass sie in Erinnerung an seine morgendlichen Signale – die Munterkeit, das Lächeln – die Ruhe bewahren würde, weil sie gewiss wäre, dass er vorhabe, mit etwas Besonderem aufzuwarten, wenn er endlich nach Hause kam?

Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Auch Sir Patrick Craig konnte mit etwas Besonderem aufwarten: einer jungen Frau, von der Mrs Craig besser nichts erfuhr. Ach komm, Janne!

Wie dem auch sei, es ließ sich nicht leugnen, dass ihre Erwartung mit Besorgnis gepaart war. Eine oberflächliche Besorgnis, sagte sie sich, doch sie konnte den ekelhaften Klumpen, der sich hoch oben in ihrer Brust bildete und das Atmen erschwerte, nicht loswerden. Sie beruhigte sich ein wenig mit dem Gedanken, dass Björns Vorhaben ihn womöglich an einen Ort geführt hatte, an dem es kein Telefon gab. Doch er hatte immer sein Handy dabei, wo er auch war. An einem Tag, der vermutlich ein Freudentag werden sollte, hatte er ihr sicher keinen Kummer machen wollen. Irgendetwas war faul.

Dann dachte sie plötzlich an Anne-Lise, die Freundin aus dem Lesekreis, die vor einigen Wochen spurlos verschwunden war, und für mehrere unerträgliche Sekunden sah sie Björn vor sich, als leblose, übel zugerichtete Gestalt in einem Autowrack. Kalter Schweiß brach ihr aus, und sie fragte sich, ob sie das Kreiskrankenhaus anrufen sollte. Danach zwang sie sich zu einem selbstironischen Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf solche Gedanken kam. Wenn Björn nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kam – früher, bei Tove, war es genauso gewesen –, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Genau wie jetzt war sie dann ruhelos durch die Wohnung getigert, während die Angst von ihr Besitz ergriff. Hatte sich den wildesten Spekulationen hingegeben und nach den makabersten Erklärungen gesucht. Nachher, wenn die kleine Familie beisammen war und sich gezeigt hatte, dass wieder einmal ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war, sah sie ein, wie dumm sie sich verhalten hatte, und nahm sich vor, nie mehr der schrecklichen Intuition zu vertrauen, die sie erneut getäuscht hatte. Obwohl sie dies alles nur zu gut wusste, nahm der Klumpen in ihrer Brust solche Dimensionen an, dass sie das Gefühl hatte, er könne sie in Stücke reißen. Und es kam der Augenblick, in dem die ursprüngliche Vorfreude in blanke Wut umschlug, die sich gegen Björn richtete.

Warum, zum Teufel, rufst du nicht an?

Nach den Fernsehnachrichten entschloss sie sich, doch im Krankenhaus nachzufragen. Doch als sie den Hörer in der Hand hielt, wählte sie stattdessen die Durchwahl zu seinem Büro. Sie ließ es sieben Mal klingeln, bevor sie auflegte und erneut die Zentrale anrief.

»Andersen, Zentrale.«

»Hier ist noch mal Janne Hatling.«

»Ja?«

»Sind Sie ganz sicher, dass Björn nicht im Haus ist? Er sprach von einer wichtigen Konferenz über die neuen Einsatzpläne.«

»Die war, glaube ich, gestern – aber warten Sie kurz. Ich schaue mal nach.«

Gestern? Sie spürte, dass ihr die Situation zunehmend peinlicher wurde, dass ihr die Röte ins Gesicht schoss. Nur gut, dass dieser Andersen sie nicht sehen konnte. In der Kongens gate würde sie bald zum Gespött werden, wenn bekannt wurde, dass sie hinter ihrem Mann hertelefonierte, weil er sich um ein paar Stunden verspätete. Gleichzeitig tat sie alles dafür, die Riesenüberraschung, die er für sie plante, zunichte zu machen.

Doch wenn die Konferenz wirklich gestern stattgefunden hatte? Wenn es etwas ganz anderes war, das Björn zu verbergen versuchte?

Dann dachte sie abermals an sein Lächeln und die Hand, die ihr fröhlich zugewinkt hatte. Kam sich wie eine Idiotin vor, als sie Andersens Stimme hörte:

»Sind Sie noch dran?«

»Ja.«

»Die Konferenz war tatsächlich gestern.«

»Das heißt?«

»Das heißt«, wiederholte der Beamte am anderen Ende, »dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.«

»Entschuldigung.«

Sie legte auf und griff sich mit der Hand, die den Hörer gehalten hatte, an den Hals. Jetzt drückte der Klumpen direkt gegen die Kehle.

Warum in aller Welt meldete er sich nicht und entschuldigte sich für die Verspätung?

In den nächsten Sekunden betete sie zu Gott und flehte, Björn solle anrufen. Dann begann sie in der Wohnung auf und ab zu gehen und sich den Kopf zu zerbrechen, welche Personen etwas von seinem Aufenthaltsort wissen konnten. Auf keinen Fall jemand aus der Familie. Björns Eltern waren tot und sein einziger Bruder wohnte in Lillehammer. Enge Freunde? Natürlich hatten sie Freunde, aber nicht gerade viele, die ihnen wirklich nahe standen. Nach einer weiteren Zigarette griff sie erneut zum Telefon und tat etwas, das sie nie zuvor getan hatte: Sie rief im Krankenhaus an, sagte ihren Namen, wurde mit der Notaufnahme verbunden und fragte, ob eine verletzte Person namens Björn Hatling eingeliefert worden sei, ein siebenundvierzigjähriger Mann mit rotem Haar und ebensolchem Schnurrbart. Eine freundliche Stimme versprach sich zu erkundigen. Während sie wartete, musste sie dem abstoßenden Summen kühler Stimmen und klirrender Geräusche lauschen, als sei sie irrtümlich mit dem Operationssaal verbunden worden, in dem sich Chirurgen in grünspanfarbenen Kitteln über einen Patienten beugten und versuchten, dessen Leben zu retten. Es verging eine Ewigkeit. Dann hörte sie ein Klicken und die Verbindung war unterbrochen. Wütend wählte sie Nummer noch einmal und bekam dieselbe Frau an den Apparat. Sie entschuldigte die Unterbrechung und teilte ihr mit, dass in den letzten zwölf Stunden niemand mit dem Namen Hatling eingeliefert worden sei.

Diese Mitteilung ließ Janne aufatmen. Das Schlimmste war nicht eingetreten. Björn war immer noch am Leben, irgendwo in oder bei Trondheim. Jetzt musste sie sich einfach zusammennehmen, sich beruhigen und alle Gedanken an ein spurloses Verschwinden, von dem sicher keine Rede sein konnte, beiseite schieben. Es gab immer vernünftige Erklärungen. Immer. Hatte sie etwas vergessen? Hatte Björn eine Nachricht auf einem Zettel hinterlassen, der hinter den Kühlschrank gerutscht war? Oder glaubte er, etwas gesagt zu haben, war aber in Wirklichkeit nicht dazu gekommen? Hatte er jemand gebeten, ihr etwas auszurichten, und der hatte es vergessen? Ein Elterntreffen seiner Fußballjungs?

Im Grunde gab es unzählige Möglichkeiten.

Viel später öffnete sie ein Fenster und hörte entferntes Sirenengeheul, aber das beunruhigte sie nicht besonders. Eine Dreiviertelstunde später griff sie erneut zum Telefonhörer. Die vielen hastig gerauchten Zigaretten hatten sie benommen gemacht. Wen rief man an, wenn das Krankenhaus einem nicht weiterhelfen konnte? Die Polizei natürlich. Wäre die Situation nicht so beklemmend gewesen, hätte sie laut gelacht. Spricht da die Polizei? Könnten Sie einen vermissten Polizisten für mich suchen?

Diesmal war nicht Andersen am Apparat, sondern Bjarne Frengen. Sie kannte ihn von früher, er war einer der dienstältesten Mitarbeiter. Es tat gut, mit einem Mann zu sprechen, der offenbar verstand, wie sehr sie sich ängstigte. Schon seine sonore Stimme gab ihr ein sicheres Gefühl.

»Und Andersen hat gesagt, dass dein Mann sich heute frei genommen hat? Der Kerl ist kaum in der Lage, das Telefonbuch zu lesen, eine Personalliste schon gar nicht. Warte mal bitte kurz.«

Sie lauschte dem Gemurmel im Hintergrund, während sie aus dem Fenster spähte. Es war schon ziemlich dunkel geworden.

»Hallo, Janne? Du musst mich entschuldigen, aber im Moment herrscht hier so ein Trubel, dass es schwer festzustellen ist, wo Björn sich gerade befindet. Kannst du noch ein bisschen warten?«

»Ja, natürlich.«

Sie wartete.

»Ich glaube, du musst mir noch ein paar Minuten Zeit geben«, sagte Frengen nach einer Weile freundlich. »Im Moment sind fast alle im Einsatz. Gut möglich, dass auch Björn dabei ist. Ich rufe dich an, sobald ich was rausgefunden habe.«

»Ich danke dir vielmals.«

Danach ging Janne zum Kühlschrank, nahm die Weißweinflasche heraus und schenkte sich ein Glas ein. Sie trank von dem kühlen Wein und spürte, dass ihr Herz sich weitgehend beruhigt hatte. Diesem Andersen sollte man morgen eine scharfe Rüge erteilen, so wie er sie heute in Angst versetzt hatte. Ein Einsatz! Das erklärte alles. Niemand war öfter im Einsatz als Björn, wenn es hart auf hart ging. Er gehörte zu den erfahrensten Beamten.

Doch als sie den gedeckten Esstisch betrachtete, spürte sie, wie der unsichtbare Klumpen erneut gegen ihre Kehle drückte. Mit steifen, ruckartigen Bewegungen ging sie zum x-ten Mal in die Küche, warf einen Blick auf die Straße und danach auf die Digitaluhr. 22.20. Die Beamten waren vor einer knappen Stunde ausgerückt. Was hatte Björn in den Stunden zuvor getan, nach vier Uhr? Unabhängig davon, wie hektisch die Vorbereitungen für den Einsatz gewesen sein mochten, hätte er sie normalerweise angerufen und informiert. Und warum rief Frengen nicht zurück?

Als sie hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde, hastete sie erneut ans Fenster und schaute hinunter. Im schwachen Schein der gelben Straßenlampe sah sie, wie eine Gestalt aus dem Carport heraustrat. Sie war bereits auf dem Weg die Treppe hinunter, als es an der Tür klingelte. Das konnte nicht Björn sein, denn der benutzte den Schlüssel.

Sie kannte den Mann, der vor der Tür stand. Er trug einen dunklen Parka, einen Mantel, der vor Urzeiten in Mode gewesen war. Hauptkommissar Christian Rønnes, Björns unmittelbarer Vorgesetzter, ging auf die Sechzig zu und gehörte fraglos zu den ältesten Mitarbeitern des Polizeipräsidiums. Ein Mann, der Gelassenheit ausstrahlte und selten übereilt handelte. Und dennoch ein Mann, demgegenüber sie aus unerfindlichen Gründen stets eine gewisse Abneigung empfunden hatte. Rønnes war hier, an einem normalen Mittwochabend? Etwas an seinem Auftreten ließ sie erstarren. Der gesenkte Kopf, die Art, wie er sie anblickte, das graue Gesicht. So, schoss es ihr durch den Kopf, hätte der Pfarrer aus Pennies from Heaven ausgesehen, wenn er gezwungen gewesen wäre, Mrs Craig mitzuteilen, dass Sir Patrick etwas Ernsthaftes zugestoßen sei. Natürlich hätte der Pfarrer es mit einem einstudierten, mitfühlenden Lächeln versucht, doch Rønnes war schließlich kein Pfarrer. Die Erkenntnis, dass etwas Außerordentliches geschehen war, etwas Schreckliches, das ihre gesamte Existenz aus dem Gleichgewicht bringen würde, ließ die Szene unwirklich erscheinen. Sie spürte, wie er sie am Ellbogen nahm und die Treppe hinaufführte. Erst als sie auf dem Flur standen, brachte sie ein paar Worte hervor:

»Sag es einfach!«

»Janne ...« Seine Stimme brach nicht in klassischer Weise, sie versagte einfach.

Herrgott, war es nötig, auf so irritierende Art die Finger zu verschränken? Warum legte er ihr nicht einfach den Arm um die Schultern, um sie zu trösten?

Während der Boden unter Jannes Füßen zu schwanken begann, fiel ihr ungläubiger Blick auf ein Foto an der Wand, das sich über Rønnes’ rechter Schulter befand. Tove und Björn auf der Hütte. Es war mindestens zehn Jahre alt. Sie auf seinen Knien, in der Hollywoodschaukel auf der Terrasse. Beide lächelten in die Sonne und in die Kamera. Sie roch den Duft der frischgemähten Wiese.

Dann, wie aus weiter Entfernung, als spräche er durch ein umgedrehtes Megafon, hörte sie endlich seine Stimme:

»Als Björns unmittelbarer Vorgesetzter kommt mir die schwere Pflicht zu, dir mitzuteilen, dass er ... tot ist.«

Solche Nachrichten zu überbringen, musste schrecklich traurig sein, dachte sie, ganz gleich, ob man Pfarrer oder Polizist war. Der Druck auf ihren Kehlkopf war verschwunden. Indessen spürte sie, wie sie plötzlich zu schweben begann und wie Christian Rønnes sie stützte, bevor sie in Ohnmacht fiel.

Er musste sie ins Wohnzimmer getragen haben. Als sie zu sich kam, lag sie zu ihrer Verwunderung auf dem Sofa und hatte ein Kissen unter dem Kopf. Rønnes reichte ihr ein Glas Wasser.

»Danke.«

»Es tut mir wirklich sehr Leid.«

Janne starrte in Rønnes’ müde, feuchte Augen. Seine Äußerungen waren viel zu literarisch gewesen, so drückte man sich in der Realität nicht aus. Das Schlimmste war also nicht eingetreten. Dies war nur ein unwahrscheinlicher Traum, ein Produkt ihres manischen Pessimismus’. Doch gleichzeitig fragte auf einer Bewusstseinsebene, die außer ihr lag, ein starrer, fremder Teil von ihr:

»Was geht hier eigentlich vor?«

Er musste sich mehrmals räuspern, bevor er die Sprache wiederfand, während er offenkundig große Schwierigkeiten hatte, ihr ins Gesicht zu sehen.

»Wir kennen die Einzelheiten noch nicht. Er wurde vor einer Stunde gefunden.«

Die Sirenen, die sie gehört hatte. Der Einsatz. Wieder die Stimme, die nicht ihre war: »Wo?«

»Bei der Sportanlage, in der Nähe der Nidelvhalle. Ich komme gerade von dort.«

Das musste wohl ein Irrtum sein. Heute Abend war doch kein Fußballtraining. »Ein Unglück?«, fragte die Stimme.

Da nahm Rønnes ihr das Wasserglas ab, stellte es auf den Couchtisch und streckte ihr die Hände entgegen. Eine langsame, hilflose Geste, die unterstrich, wie sehr er sich gewünscht hätte, dass der Kollege noch quicklebendig wäre, doch war dies eine Illusion. Die Verzweiflung hatte sich in Form kleiner Mulden – die sich von den hypnotischen Gesten eines Magiers nicht fortwischen ließen – in sein vertrauenerweckendes Gesicht gegraben.

»Irgendein Wahnsinniger hat ihn erschossen.«

Weiße Spuren

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