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2: Coucou

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Inzwischen aber weiß er ja, der wirkliche Sex auch mit ihr, Frisette, wäre nicht annähernd so befriedigend wie die Lust, die er sich mit Hilfe ihres bloßen Vorstellungsbildes verschafft. Schon längst bevor sie als neue Ikone der Lust am Rande seines hedonistischen Horizonts auftaucht, hat sich, was er bisher immer nur ahnte, zur endgültigen Gewissheit verfestigt: die Wollust seiner sexuellen Selbstbefriedigung ist befriedigender als die beim eigentlichen Koitus.

Hat sich, was er zuerst mit den Stricherinnen an der Champs Elyssées oder der Passage des Panoramas, und dann mit seiner geliebten Morelle erfuhr, nicht auch noch mit Mathilden bestätigt? Glaubte er erst, dass, wenn er mit den käuflichen Liebesdienerinnen nicht auf seine Kosten kam, es daran lag, dass beim Sex mit ihnen keine echte Liebe mit im Spiel war, blieb doch die Möglichkeit, dass es mit Chloé wesentlich anders sein müsste. Als es bei ihr, die er auf seine Weise – jedoch nicht auf eine leidenschaftliche, sinnliche Art – wirklich liebte, dennoch nicht anders wurde, erklärte er es sich dadurch, dass er sie vielleicht doch nicht genügend oder nicht auf die richtige Art liebte. Erst mit Mathilde sollte es anders werden.

Jetzt aber, da auch der imaginäre Sex mit Frisette den mit Mathilden übertraf, sind alle diese Spekulationen widerlegt und es lässt sich nicht länger verkennen: Der Koitus wird niemals so befriedigend wie die Onanie für ihn sein. Wie kommt das?

Die Erklärung liegt aber seit langem schon auf der Hand: Seine Sexuallust – und womöglich nicht nur die seine – hat eine eigenständige geistig-sinnliche Dimension, die durch den Reiz des Fleisches nicht ausgeschöpft wird. Das Potenzial seiner Sinnenlust ist ein Gewebe von Millionen und Abermillonen Zellen in seinem Gehirn, die alle nach Art und Grad seiner Erregung feuern und sich im Orgasmus, mitsamt den dadurch körpereigenen ausgeschütteten Stoffen, entladen. Je größer und umfassender dieses neuronale Feld jeweils ist, desto größer und umfassender ist auch die Erregung und ihre Befriedigung durch den Orgasmus und die dabei freigesetzten Opiate der Lust. Aktiviert werden diese Zellengewebe durch die Reizung der Geschlechtsorgane, die Reize durchs zentrale Nervensystem ans Gehirn geleitet, und so die Erregung aufgebaut. Nun ist das elysäische Gefilde der Lust aber ein zelluläres Erregungsmuster in seinem Gehirn – und damit im Einflussbereich des Geistes: der erotischen Phantasie; daher es nicht erstaunlich ist, wenn es seiner ganzen Dimension nach auch nur durch die erotische Phantasie erfasst und ausgereizt werden kann. Das ist wohl bei jedermann so.

Er persönlich mit seiner angeborenen überstarken Libido und deren lebenslange Konditionierung aber hat ein besonders ausgeprägtes solches System. Das hedonistische Zellengewebe in den Lustzentren seines Gehirns: sein sexuelles Potenzial, muss besonders ausgedehnte und expansive Formen angenommen haben – so ausgedehnt und umfassend, dass es verglichen mit normalen Verhältnissen regelrecht überdehnt und überspannt worden ist.

Was die Anhänger der so genannten ,Körperkultur': des Bodybuilding, mit ihrem Körper anstellen: ihn zu höchstmöglicher muskulärer Plastizität aufzublasen, – das hat er mit dem Zellengewebe seines limbischen System gemacht. Bedenkt man, dass auch die Sexualität im Grunde etwas Physisches ist: verkörpert durch spezifische Zellen und die in ihnen enthaltenen Moleküle – so dass bei der Liebe zwischen Körper und Geist kaum mehr ein Unterschied ist –, dann ist es vom Bodybuilding gar nicht so verschieden: Seine schon von Geburt an außerordentliche Libido wurde durch die erotische Phantasie noch so weit urbanisiert, ausgebaut, kultiviert – und gewissermaßen überentwickelt –, dass es bei weitem das Ausmaß übersteigt, für das es ursprünglich durch die Natur entwickelt wurde: für die Reizung durch das Geschlecht, – so weit, dass es am Ende nicht mehr durch diese Reize, sondern überhaupt nur noch durch die Phantasie selbst erschöpft und ausgereizt werden kann. Er ist, wie es die Psychologen nennen, verwöhnt.

Geradeso wie oft behauptet wird, die Entwicklung des Menschenhirns durch die Evolution sei der spektakulärste Fall eines Entwicklungsprozesses, der die Anforderungen der Umweltanpassung um astronomische Ausmaße übersteigt, – geradeso ist die erotische Natur des Menschen der spektakuläre Fall einer biologischen Lususbildung, die die Anforderungen normaler sexueller Reproduktion um astronomische Ausmaße übersteigt. Und die seine besonders. Ecce homo hedonicus!

Zuweilen spürt er einen unabweisbaren sexuellen Drang in sich aufsteigen, von dem er gar nicht genau sagen kann, wovon er eigentlich rührt. Ist es wirklich das Bild einer Frau, das aus seinem innersten Erinnern aufsteigt und den Reiz hervorruft, oder ist es irgendetwas anderes – eine verborgene Ehrsucht? eine zu kompensierende Frustration? eine abstrakte Entzugserscheinung? –, dem Genüge getan werden will? Er gehorcht dann dem Drang und befriedigt sich selbst – und weiß daraufhin nicht einmal, wovon er sich damit eigentlich erleichtert hat.

Es ist, als hätte das Potenzial seiner Lust sich gewissermaßen verselbstständigt zu einem eigenen eigenständigen System, das nur mehr seinem eigenen Recht und Gesetz gehorcht. Diesem eigengesetzlichen autonomen System der Lust ist, bei besonders starker seelischer Sehnsucht, zwar allenfalls noch durch die Tätigkeit des Geistes selbst – der erotischen Phantasie – zu genügen, nicht aber mehr durch die Reizung des Fleisches an sich: daher, dass wann immer er Geschlechtsverkehr mit Mathilden hat, es von dem Gefühl des Ungenügens begleitet ist, dass sein eigentliches Potenzial der Lust dadurch nicht ausgeschöpft wird. Er kommt beim Koitus, anders als durch die Phantasie, überhaupt erst gar nicht auf jene Seinsebene, wo nichts gilt außer dem Lustgebräu, das in seinen Lenden gärt, in jenen Zustand sexueller Erregung, da die tiefe, heiße Süße gesichert und auf gutem Wege zur äußersten Verzückung ist und er sich zurückhalten darf, um die Glut zu verlängern, und daher entspricht der intersexuelle Orgasmus auch nicht jener äußersten Verzückung, mit der jene Seinsebene wieder auf die normalen Dimensionen des sterblichen Alltags zusammenschrumpft. Er erinnert sich seines Bordell-Bonmots: „Ich habe gar nicht so viel Erregung, dass es sich lohnte, einen Orgasmus zu haben!“

Kurzum, sein libidinistisches System hat sich von seiner ursprünglichen Raison d'être: dem ,Weibe', grundsätzlich gelöst und ist unabhängig davon geworden: zum reinen L'art pour l'art eines Hedonismus, der zu seinem Genüge des ,Weibes' gar nicht mehr bedarf; ja, bei dem das Weib eher stört. Das muss es wohl sein, was den eigentlichen Hedonisten ausmacht.

Bei den Frauen ist es vermutlich nicht anders: Wehe dem, warnt der Philosoph Kleanthes in Feuchtwangers Roman ,Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis', der in den Schoß einer Hedonikerin fällt!

Daran ändert auch seine Leidenschaft für Mathilden nichts. Er und seine Sinnlichkeit sind eine Sache, seine Liebe zu Mathilde eine andere.

So wird sein eingefleischter Eros zum Widersacher der Liebe. Liebe und Sex sind antagonistisch in ihm, wandeln auf getrennten Pfaden, und das bescheidene Haus der Liebe ist nicht gleich der schwülstig überzogenen Architektonik der Lust. Er muss sich fragen, ob das nur bei ihm oder auch anderen Männern und Frauen so ist; sicher aber ist es bei allen romantischen Männern und Frauen so, die die Dimension der Libido so überdehnt und den Bogen der Lust so überspannt haben wie er. Diese leiden unter der Einsamkeit ihres Erlebens, und leiden vermutlich desto mehr, je weniger sie die Sache durchschauen. Wieder verweist es ihn auf seine problematische Tiefe, wie er sie einst im Brief an Moser aufwarf: Ein arger Wahn kömmt in mir auf, ich fange an, selbst zu glauben, dass ich geistig anders organisiert sei und mehr Tiefe habe als andere Menschen. Die Lustzentren seines Gehirns enthalten einfach eine Myriade mehr Neuronen und sind überreizter als das der gewöhnlichen Sterblichen. Das und die dadurch bedingten Erfahrungen sind seine ,Tiefe'.

Das System ist ausgeufert, hypertrophiert; das erklärt die Hypererotik bei ihm und andern. Bei diesem überspannten System bleibt es aber nicht allein bei der körperlichen, physiologischen Erscheinung, – es hat eine seelische, psychologische Komponente: dem physiologisch überdehnten Potenzial entspricht als psychologisches Korrelat ein überspanntes erotisches Verlangen. Das allein erklärt die leidenschaftliche Liebessehnsucht seiner Jugend. Das erklärt seine Poesien und deren Verknüpfung von Liebe und Tod. Das erklärt seine Gerührtheit durch Schillers Taucher und Uhlands Lied vom schönen Schäfer und der Königstochter: „Willkommen, Königstöchterlein!“ Das erklärt das ,wilde Weh' im Lied der Lorelei und den Untergang des Schiffers. Das erklärt den Liebestod des Asra.

Da der Ursprung seines erotischen Verlangens ein physiologischer ist, dessen Erfüllung durch die Liebe aber etwas Psychologisches, und dem hypertrophierten Potenzial der Lust durch die körperliche Liebe nicht zu genügen ist, wird das Verlangen des Eros durch die reale Liebe unvermeidlicherweise enttäuscht. Es ist ein Antagonismus von Liebe und Eros, von seelischer Bindung und sexueller Lust: Wo Liebe ist, leidet die Lust; und wo – in der Selbstbefriedigung – die Lust exaltiert, ist keine Liebe. Leben kann die Liebe nur, wo der Eros mortifiziert wird: welche sterben, wenn sie lieben. Soll indes der Eros der Person überdauern, darf die Person nicht lieben. Daher manch ein Zeitgenosse durch seinen ,Donjuanismus' – einen Donjuanismus in effigie – am Heiraten gehindert wird. „Es resultiert“, so schon der Psychoanalytiker Tausk, „der onanistische Koitus als Enttäuschung aller Illusionen von der Herrlichkeit des Weibes … Da ihm der Partner nicht mehr zu bieten hat, als er sich selbst bieten konnte, erklärt er den Geschlechtsverkehr für ein individuelles, keiner höheren Idee dienendes Vergnügen.“

In einem 1991 erschienenen Buch über Heine bemerkt der Germanist Jost Hermand im Zusammenhang mit Neue Gedichte, dass im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts „weder die eheliche noch die außereheliche Liebe eine Gewähr für ungetrübtes Glück“ geboten habe. – „Das nenn ich mir eine Entdeckung“, schreibt dazu Reich-Ranicki. „Ein wenig verwirrt frage ich mich, welche Gesellschaftsordnung der Liebe, ob nun ehelich oder außerehelich, denn ungetrübtes Glück garantieren könne. Im Buch des Heine-Forschers ist von einer nichtantagonistischen Liebe die Rede, der ,eine dialektische Vermittlung zwischen den Polen einer bedenkenlosen Sexualität und einer seelischen Bindung gelingen würde'. Warum muss zwischen bedenkenloser Sexualität und seelischer Bindung unbedingt dialektisch vermittelt werden, und warum ist dies von der nichtantagonistischen Liebe zu erwarten?“ – Weil es eben der Antagonismus von Liebe und Eros ist! Weil eine nichtantagonistische Liebe eine solche wäre, in der dieser Gegensatz nicht besteht; und ein ,ungetrübtes Glück' ein solches, welches die Liebe mit dem Eros ,dialektisch' versöhnt – bei einem eingefleischten Romantiker fast ein Ding der Unmöglichkeit! Das ist aber keine Frage der Gesellschaftsordnung, sondern ein anthropologisches Problem. Vielleicht sogar eine schier physiologische Unmöglichkeit! Eros und Liebe stehen sich unversöhnbar gegenüber: Wo Lust ist, ist keine Liebe, und wo Liebe, keine Lust. Wem es um die schiere Lust geht, der braucht nicht zu lieben; wer aber lieben will, muss auf die Lust verzichten. Das hat wahrscheinlich jeder schon einmal erfahren. Laut Shakespeares Sonett:

All this the world well knows; yet none knows well

to shun the heaven that leads men to this hell:

Das alles weiß die Welt sehr wohl; doch niemand weiß

dem Himmel zu entfliehn, der uns so macht die Hölle heiß.

Soll der Romantiker sich seiner Natur freuen oder genieren? Die Schicksalsfrage lautet: Ist diese Veranlagung noch ,natürlich', oder ist es eine Fehlentwicklung, die hätte vermieden werden müssen?

Ja, so seine instinktive Antwort, vielleicht hätte sie vermieden werden müssen. Nur: war sie überhaupt vermeidbar? Zu vermeiden wäre es so, wie er geboren ist, kaum gewesen: Ich war darin nicht frei; ich bin es ja nicht, der mir Leidenschaft und Vernunft gegeben hat. Von Kind an liegt das in mir, in Leib und Seele, ebenso wie die Gabe der Poesie.

Dafür gilt das Gleiche wie für seine Kritik an Platen: Vielleicht würde er kein Dichter sein, wenn er in einer anderen Zeit lebte und wenn er außerdem auch ein anderer wäre, als er jetzt ist. Er bliebe immer noch der, der er ist, solange sich nicht auch seine sinnliche Natur veränderte und er gleichsam ein anderer würde. Ist das sexuelle Bedürfnis schon von Natur aus – in Form physiologischer Entzugserscheinung – als natürliche Sucht instinktiv verankert, dann kommen wir alle schon als potenziell Süchtige zur Welt – und er im Besonderen. Und kaum zur Welt, befriedigte und zelebrierte er schon seine Lust, indem er an Bettys unbeschreiblichen Brüsten saugte. So schlitterte er schon als Säugling in die Sucht. Wie in Goethes Fliegentod:

Sie schlürft mit Gier verrätrisches Getränke,

Unausgesetzt, vom ersten Zug verführt;

Sie fühlt sich wohl, und doch sind die Gelenke

Der zarten Beinchen schon paralysiert ...

Wäre es aber wenigstens etwas abzuschwächen gewesen? – vielleicht dadurch, dass seine Mutter ihn, und er sie, weniger geliebt hätte? weniger sinnlich geliebt hätte? und seine infantile Bindung an sie weniger intensiv gewesen wäre?

Aber wie hätte er Betty, und sie ihn, denn weniger lieben sollen? Wie hätte ihre Bindung denn weniger symbiotisch sein können? Dann hätte auch Betty eine andere sein müssen. Wie hätte sie ihm ihre weiße warme Brust entziehen, und wie er selbst weniger darauf reagieren sollen? War es doch vielleicht schon Bettys eigene angeborene Natur, und er hatte es von ihr geerbt, dass sie zu solch exzessiver Zärtlichkeit neigte und in der Tugend der Kindesliebe ausschweifte wie Kohlhaas in seinem Gerechtigkeitssinn? Hat sie ihm nicht schon in seinem zartesten Alter hinter der Mauer gestanden, dass sie von Samson sexuell nicht befriedigt wurde – ein erotisches Ungenügen, das sie allfällig mit ihrem ersten Sohn kompensierte und an ihm abreagierte? Sie aber weiß es nicht, sie ahnt es bis heute nicht. Kommt es so vielleicht zu der „ungehörigen Liebessucht verderbter Kinder“, die sein Schweizer Kollege Keller, wohl ein Schicksalsgenosse, der weiß wovon er schreibt, im Sinngedicht rügt? Ist diese Liebessucht tatsächlich eine Krankheit, und muss man mit einer Krankheit, die man nicht heilen kann, leben, – nun, dann muss er eben mit seiner Liebessucht leben. Tatsächlich lebt er ja auch schon sein ganzes bisheriges Leben damit! –

Apropos, wie steht es jetzt, da er fest gebunden und äußerlich treu ist, um seine Ruhmsucht? Immer hat er um der Frauenliebe willen berühmt sein wollen, weil er dachte, der Ruhm würde ihm ihre Herzen spontan zufliegen lassen wie die gebratenen Hühner im Schlaraffenland. Inzwischen weiß er, dass sein Ruhm ihm bei den Frauen nicht allzuviel nützt. Diejenigen, die ihn seines Ruhms wegen wollten, wollte er nicht; und bei denen, die er wollte, hat ihm sein Ruhm nichts geholfen. Jetzt aber hat er ja Frauenliebe: die Liebe Mathildens, – und dafür war der Ruhm gar nicht nötig: Mathilde liebt ihn, da ist er sich sicher, nicht seines Ruhmes wegen. Sie liebt ihn so, wie er ist, ganz ohne seinen Ruhm. „Er war durchaus lieb und gut und fein und liebenswürdig mit seiner sogenannten ,kleinen Frau'“, erzählt Heinrich Laube. „Dass sie nichts von seinen Schriften verstand, war für ihn ein Triumph. ,Sie liebt mich persönlichst, und die Kritik hat dabei gar nichts zu tun!', rief er vergnügt.“ Er hat ihr Herz im Wesentlichen ganz ohne seinen Ruhm erobert. Spätestens jetzt also könnte er erotisch verstummen. So in Angélique I aus Neue Gedichte in ironischem Rückblick auf seine vergangenen Leiden:

Nun der Gott mir günstig nicket,

Soll ich schweigen wie ein Stummer,

Ich, der, als ich unbeglücket,

So viel sang von meinem Kummer,

Dass mir tausend arme Jungen

Gar verzweifelt nachgedichtet

Und das Leid, das ich besungen,

Noch viel Schlimmres angerichtet!

Oh, ihr Nachtigallenchöre,

Die ich trage in der Seele,

Dass man eure Wonne höre,

Jubelt auf mit voller Kehle!

Mehr als eine Frau aber kann man sowieso nicht haben. Um eine andere Frau zu erobern, müsste er ihr Herz ja brechen. Das brächte er aber nicht über sich, dazu hat er ein zu gutes Herz. Außerdem hat er das schon einmal getan: bei Morelle, und dieses eine Mal war schon einmal zuviel. Wie schon in der Bibel steht, ist es nicht gut, dass der Mann allein sei. Mit einem Wort, er brauchte ein Weib. Mindestens eines, mathematisch gesprochen >= 1 Weib. Jetzt kann er aber, wie die Erfahrung zeigt, auch höchstens eines haben, mathematisch gesprochen <= 1 Weib. Daraus folgt, wenn beide Bedingungen erfüllt sein sollen, logisch sofort genau =1 Weib. Und genau ein Weib hat er ja jetzt. Seine Ruhmsucht war also ganz überflüssig. Er kann auf weiteres Schreiben um der Frauenliebe willen geradeso gut auch verzichten. Indes, schreibt er dennoch weiter, so kann er auch früher nicht nur um der Frauenliebe willen geschrieben haben. Quod erat demonstrandum.

Aber nicht nur, dass ihm seine Berühmtheit für die Liebe nichts half, kommt sie ihm dabei auch noch störenderweise in die Quere. Man sieht es an Frisette: Jetzt, da er seines Ruhms wegen die schönsten Frauen der Welt haben könnte, darf er sie, um der Treue zu seiner Frau Mathilde willen, gar nicht mehr haben. Je leichter er sie aber haben könnte, desto schwerer ist es, aus Treue zu Mathilden darauf zu verzichten. Lief ihm früher eine schöne Frau über den Weg, wie in Rahels Salon Friederike Robert, fühlte er sich gleich mit magischer Unwiderstehlichkeit zu ihr hingezogen; kommt jetzt im Palais Royal eine schöne Frau in seine Nähe, spürt er im Gedanken an Mathilde den Drang, zu fliehen, wie aus Angst vor der Cholera. Ist außerdem Mathilde auch noch dabei, so hat er wahrhaft, wie Caroline Jaubert es beschreibt, das Aussehen eines Teufels im Weihwasserkessel, man kann es nicht besser ausdrücken. Er fühlt sich auch so wie der Teufel im Weihwasserkessel: durch seinen teuflischen Eros zur Unzucht verführt, durch die geweihte Liebe daran verhindert. Er kann in Gegenwart Mathildens ja nicht einmal einer anderen Frau den Hintern tätscheln. Die einzige Möglichkeit wäre je eine Ménage-à-trois oder seinetwegen auch -quatre; dafür ist Mathilde aber nicht zu haben, da ist sie nicht der Typ für.

Allein schon Gedanken wie diese blieben ihm, wäre er nicht so berühmt, erspart. Drum besser wär's, er hätte von Anfang an eine Frau gehabt und wäre danach, weil er keine Motivation mehr hatte, erst gar nicht mehr so berühmt geworden. Sein Ruhm ist wie die lieblichen Blumen und Pflanzen an jener kleinen Villa in der Normandie bei Havre-de-Grace, die unter seinem Fenster blühten: Rosen, die liebesüchtig mich anblickten, rote Nelken mit verschämt bittenden Düften, und Lorbeeren, die an die Mauer zu mir heraufrankten, fast bis in mein Zimmer hereinwuchsen wie jener Ruhm, der mich verfolgt. Ja, einst lief ich schmachtend hinter Daphne einher, jetzt läuft Daphne nach mir wie eine Metze und drängt sich in mein Schlafgemach. Was ich einst begehrte, ist mir jetzt unbequem, ich möchte Ruhe haben und wünschte, dass kein Mensch von mir spräche, wenigstens in Deutschland. Mehr denn je empfindet er die Verse von Mörikes Verborgenheit nach:

Lass, o Welt, o lass mich sein!

Locket nicht mit Liebesgaben,

Lasst dies Herz alleine haben

Seine Wonne, seine Pein!

Doch seltsam! merkwürdig und wunderlich: Trotz seines Liebesglücks mit Mathilden ist seine Ruhmsucht doch keineswegs erloschen! Sie hat ihn noch immer nicht verlassen. War die Frauenliebe vielleicht gar nicht der Grund seiner Ehrsucht? Oder ist sein Bedürfnis nach Frauenliebe trotz Mathilde noch da? Noch immer knistert ihm der Eros im Blut. So bleibt es nicht allein bei Frisette. Offenbar ist diese Gier nicht einfach von einem Tag zum andern loszuwerden. Hatte die Inokulation der Liebe, welche meine Mutter in meiner Kindheit versuchte, schon damals keinen günstigen Erfolg, so ist es ihm jetzt nicht einmal durch eine Liebesheirat gelungen. Die Pocken stecken ihm noch tiefer im Blut als gedacht. Ist es die Prägung durch seine Jugend, die sie ihm so unausrottbar eingeimpft hat? Oder ist es ein angeborenes Laster: eine direkte Folge seiner Physis, an der sich durch die Ehe ja nichts geändert hat?

So muss es wohl sein: Es ist der psychologische Reflex seiner physiologischen Natur, die sich so lange nicht ändert, als sich seine eingefleischte Beschaffenheit nicht ändert. Die ändert sich aber ja nie. Der beste deutsche Schriftsteller bin ich jetzt – parmi les aveugles le borgne est roi.

Den 3. Oktober 1837 bringt er es nach einem Besuch in Vinot gegenüber Detmold auf den Punkt: Meine Leidenschaftlichkeit für Mathilde wird täglich chronischer; sie führt sich gut auf – jetzt quält sie mich mehr im Traume als in der Wirklichkeit – aber der geträumte Kummer und düstere Zukunftsgedanken verbittern meine Tage. Ich genieße in vollen Zügen die Schmerzen des Besitzes. – Er ist in ihrem Dorf und erlebt die unglaublichste Idylle. Maman hat ihm Mathildens erstes kleines Hemdchen geschenkt, und dieses wehmütige Linnen liegt in diesem Augenblick vor ihm auf dem Schreibtisch.

1839 besuchen ihn Friedland und Seeliger. Sie finden ihn im Schlafrock in sehr guter Laune. Er hat soeben die Mitteilung eines literarischen Angriffs eines gewissen Wihl in Hamburg erhalten. Sie lesen den lächerlichen, prätentiösen Artikel; als sie ihn aber darüber trösten wollen, meint er: Eine einzige Weibergeschichte macht mir mehr Sorge als alle diese Ausfälle. –

Über die soeben beendete Pariser Revolte äußert er sich entspannt: „Abends mit meiner Frau um ½ 10 Uhr nach Hause zurückkehrend, verschloss ich meine Stubentür, verbarrikadierte mich hinter meiner Frau, schlief die ganze Nacht tüchtig. Des Morgens war ich neugierig, durch meinen Barbier zu erfahren, ob ich noch Royalist oder Republikaner sei. Als er mir zu meinem Bedauern das Erstere verkündigte, ließ ich es auch dabei bewenden.“ – Übrigens würde man erst wieder in einigen Jahren etwas Größeres von ihm zu erwarten haben. „Ich habe zwar viel Zeit, doch nicht genug Ruhe.“ Auf eine frivole Bemerkung Friedlands meint er, in seiner Unruhe liege allerdings etwas Geschlechtliches.

Was die Eifersucht betrifft, steht Mathilde ihm in nichts nach. Einmal wird er wie gesagt, so Henri Julia, von ihr in traulichem Zusammensein mit Frisette überrascht.

„Nun wird man fragen:“, schreibt Julia, „aber wer war denn Frisette?“

Das brauchen wir nun nicht mehr zu fragen. Frisette ist eine junge Näherin, die aber nur dann zur Arbeit erscheint, wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hat. Sonst sieht man sie im Quartier Latin herumschlendern, und abends zieht sie auf dem bal mabille durch ihre Pirouetten alle Blicke auf sich. Sie ist eine Berühmtheit in der Tanzkunst und wetteifert an Ruf mit der Mogador und der Königin Pomare.

An diesem Tag hat er mit seiner Frau bei der Schauspielerin Rachel gespeist. Die große Tragödin pflegt ihr Mittagsmahl um drei Uhr nachmittags einzunehmen. Sie hat ihre ganze Familie eingeladen, denn es ist ein festliches Ereignis. Der deutsche Dichter bricht als erster um sechs Uhr auf; er gibt an, eine wichtige Zusammenkunft zu haben. Mathilde geht kurz darauf ebenfalls weg, und da sie noch keine Lust aufs Zuhause hat, begibt sie sich mit Pauline ins Theater der délassements comiques, der komischen Vergnügungen.

Die Vergnügung ist aber gar nicht so komisch, denn was sieht sie, kaum in den Saal getreten? Da sitzt Henri mit der berüchtigten Frisette! Ihr erster Gedanke ist, sich zu verstecken; sie beobachtet. Aber bald hält sie es nicht mehr aus; sie geht zu ihrem Gatten hin. Es gibt keine Szene. Aber sie legt die Hand auf die Schulter des Sünders und sagt:

„Ei, Henri, ich dachte nicht, dich hier zu finden!“

Henri, getroffen, verwirrt, weiß nichts zu erwidern; ist wie versteinert. Mathilde lässt von ihm ab, er von Frisette; beide eilen durch die Gänge, Mathilde strebt dem Ausgang zu, Henri sucht sie einzuholen. Als er endlich ankommt, hat sie sich gerade in einen Fiaker geworfen. Wie peinlich doch, als ihn Mathilde in den délassements comiques, komischen Vergnügungen, mit Frisette ertappte, er könnte vor lauter komischem Vergnügen direkt im Erdboden versinken!

Julia hört diese lustige Geschichte von jedem der beiden Gatten getrennt. Henri lacht darüber und sagt: Ich bin geradezu bestohlen worden; ich hatte schon zwanzig Franken ausgegeben und nichts dafür gehabt – weder vom Theater noch von Frisette!

Der Krach dauert länger als zwei Monate. Er würde jetzt noch andauern, wenn nicht sich Freunde dafür verwenden würden, zwischen den Eheleuten Frieden zu stiften. Wahrlich, meine Freunde, Eure kleinen Scharmützel rechne ich für nichts, das ist überall; der höchste Moment der Ehe ist ein Kampf, sogar ein blutiger; und es hat nichts zu sagen, dass die Frau dem Manne die Zähne zeigt, wenn sie nur hübsch weiß sind, dass sie Tränen weint, wenn es sie nur gut kleidet, und dass sie unwillig mit den Füßen trampelt, wenn diese nur hübsch klein sind. Und was gibt es Schöneres als die Versöhnung!

Auf einem gemeinsamen Spaziergang mit Honeck, Moritz und Wallner reicht der galante Moritz der nachmaligen Frau Heine den Arm. Wenige Schritte nur geht das Paar vor ihnen, und doch kommt er Wallner alle zehn Minuten mit der Frage: „Wo ist denn der Moritz mit der Mathilde?“ Als sich diese Frage: Wo steckt denn wieder der Moritz mit der Mathilde? zum x-ten Male wiederholt, zeigt Wallner ihm das vorangehende Paar, während Honeck scherzend ruft: „Ich glaube, Heine ist am hellen Tage, auf offener Straße, eifersüchtig.“

„Lieber Freund“, antwortet dieser mit seinem hohen Organ, „Mathilde ist eine Pariserin; jede Pariserin ist in fünf Minuten verführt.“

Noch lange danach weiß Wallner nicht, ob diese ganz ernst ausgesprochene Behauptung wirklich so gemeint war oder nicht. –

Da Mathildens Tag mit Pauline ziemlich ausgefüllt ist, haben sie meist erst am späten Abend Sex, wo er nicht mehr allzu viel von ihr sieht. Manchmal, wenn Pauline frei hat oder etwas später kommt, könnten sie die Lage ausnützen und auch am Tage Sex haben. Carpe diem! Er greift seiner Frau an den Hintern und bringt so zum Ausdruck, was er vorhat. Dann liegt er in seinem Zimmer auf dem Sofa und wartet darauf, dass sie kommt. Er will ihr nicht eigens eine Einladung schicken müssen, das ist lästig und erniedrigend für ihn. So stimuliert er sich schon etwas, liegt in gespannter Erwartung da und wartet auf sie, die, wie er meint, doch gut genug verstanden haben muss, was er will.

Aber die Zeit vergeht, ohne dass etwas passiert. Madame kommt nicht. Mathilde bleibt auf ihrem Zimmer. Sie hat ihren Papagei Coucou aus dem Käfig genommen, und durch die offenstehende Zimmertür hört er, wie sie in ihren Journalen und Einkaufskatalogen blättert und dabei mit Coucou konversiert, der bestimmt auf ihrer Schulter sitzt. Je mehr Zeit vergeht, desto kribbeliger wird er. Wann kommt sie denn endlich? fragt er sich verärgert, sie weiß doch, dass in zwei Stunden Pauline erscheint und dann die Gelegenheit vorbei ist! Kommt sie denn zumindest nicht wenigstens einmal auf die Idee, dass man auch am Nachmittag Sex haben kann?

Je mehr die Zeit untätig verstreicht und er sie mit Coucou kokettieren hört, desto größer wird sein Ärger, fast gerät er hysterisch in Panik wie ein süchtiger Trinker, der erschrocken feststellt, das kein Alkohol mehr im Haus ist. Kann sie denn nicht wenigstens einmal, ein einziges Mal von sich aus auf den Gedanken kommen? Er spürt, wie ihm der Ärger und die Frustration siedend zu Kopfe steigt. Weiß sie denn nicht, dass in einer Stunde Pauline aufkreuzt? Aber Madame kommt nicht, sie muss in den Journalen blättern und ihren Papagei karessieren. Wieso hat sie nicht ihren Papagei geheiratet? Am liebsten würde er ihn vergiften.

Schließlich ist es zu spät, sie hat ihn zwei Stunden schmoren lassen, ohne sich um sein Befinden zu scheren. Wie oft ist ihm das schon passiert! Da glaubt er, dass er die falsche Frau hat. Eine sexuell so uninteressierte und degagierte Frau ist nichts für ihn. Er braucht eine sinnliche Frau, die auf seine Natur eingeht, ohne dass man ihr immer erst eine schriftliche Einladung schicken muss. Sicher ist das der Grund, warum so viele Männer ihren Frauen davonlaufen. Soll er sich von ihr trennen? Aber sie ist ein so gutes Ding, einfach nur gut – schreibt er. Sie ist ein kreuzbraves, ehrliches, gutes Geschöpf, ohne Falsch und Böswilligkeit. Sie ist vom edelsten und reinsten Herzen, gut wie ein Engel. Und auch so geschlechtslos.

So kommt er zu dem Schluss, dass er trotz allem bei ihr bleibt, indes – ohne ihr körperlich treu zu sein. Das wäre unlogisch und widersinnig: ihr in der körperlichen Liebe die Treue zu halten, wenn sie auf die körperlichen Liebe von sich aus so wenig Aplomb legt. Da sie, in sinnfälligem Unterschied zu ihm, keine besonderen sinnlichen Ansprüche hat, hat sie auch keinen Exklusivitätsanspruch auf seine Sinnlichkeit. Ist man in einer Ehe nicht auch körperlich ein Fleisch, dann ist auch keine Ehe zu ,brechen'. Er kann ihr also ruhig ab und an untreu werden ... –

Später, als Pauline schon da ist, merkt sie ihm seinen unterdrückten Ärger an und fragt, was er hat. Die Frage macht ihn noch verärgerter. Nichts, sagt er dann. Wenn sie nicht von sich aus darauf kommt, kann er es ihr doch nicht auch noch wie einem unmündigen Kind verklickern müssen. Geradeso gut könnte man versuchen, einem Farbenblinden das Farbensehen zu erklären. Wenn sie keinen Sinn für Sinnlichkeit hat, dann auch für seine Frustrationen nicht.

So wird er gar auf ihren Papagei eifersüchtig. Sie leben schon lange zusammen, als er, voll Eifersucht über ihre abgöttische Liebe zu dem Tierchen, Weill eines Tages verrät: „Ich werde ihn vergiften, aber sagen Sie ihr um Gottes willen nichts, ich hätte für immer bei ihr verspielt.“ Weill kauft also heimlich Schierling. An dem Tag essen sie zusammen außerhalb im Restaurant und gehen dann gemeinsam wieder nach Hause; in Erwartung einer Szene hat Henri den Freund gebeten, mitzukommen. Als Mathilde ihren toten Papagei entdeckt, stößt sie einen schrecklichen Schrei aus, einen wahren Herzensschrei; sie wird fast ohnmächtig und wälzt sich, ohne Rücksicht auf Henri und ihn, auf dem Boden umher, schluchzt und schreit: „Nun bin ich ganz allein auf der Welt!“

Die andern beiden müssen lachen. „Was“, ruft Henri, „ich bin dir also nichts?“ Da springt sie mit einem Satz auf, und in der Pose Alicens vor Bertram in Meyerbeers Robert le Diable ruft sie: „Gar nichts! Gar nichts!“ Henri lacht immerzu; Weill, der eine heftige eheliche Szene voraussieht – er hat ja schon manch ein Gerangel auf dem häuslichen Teppich erlebt –, macht sich aus dem Staub.

Anderntags ist der Friede wieder geschlossen, aber der Schrei: „Nun bin ich ganz allein auf der Welt!“, der jäh aus ihrem Herzen hervorbrach wie ein Springquell aus einem Felsen, bildet noch jahrelang das Thema ihres Tischgesprächs. Mathilde erfährt nie, wer der Mörder ihres Papageis ist; sie würde es ihm nie verzeihen. Henri aber kauft ihr nach acht Tagen einen neuen; der ist allerdings hässlicher und bedeutend billiger, und Mathilde ist in ihn nicht so ausschließlich vernarrt wie in seinen Vorgänger. Um ihr den hübschen Ausspruch gebührend heimzuzahlen, bemerkt er bei anderm Anlass: „Wenn ich sterbe, enterbe ich meine Familie völlig zugunsten meiner Frau (der große Dichter hat keine Kinder); auf diese Weise bin ich dann sicher, dass es wenigstens einen Menschen auf der Welt gibt, der meinen Tod bedauert.“ –

Die Krise zwischen den Weills und den Heines bahnt sich auf die folgende Weise an. Eines Tages klagt Mathilde über Kopfschmerzen. Heine und Alexandre gehen allein aus; er wohnt zurzeit vier Treppen hoch, Faubourg Poissonière. Als sie unten sind, sagt Henri: „Ich habe mein Portemonnaie vergessen; Sie haben jüngere Beine als ich, gehen Sie hinauf und holen Sie es mir bitte, es liegt auf dem Kamin im Schlafzimmer.“ Weill fliegt die Treppe hinauf, nimmt immer vier Stufen auf einmal, tritt geradenwegs ohne anzuklopfen ins Schlafzimmer, und was sieht er? Mathilde, die ihr Hemd wechselt! Sie stößt einen leisen Schrei aus und lässt ihr Hemd fallen. Im Nu ist er wieder verschwunden. Wieder bei Henri unten, sagt er ihm: „Ich habe Mathilde nackt gesehen, wie Gyges das Weib des Königs Kandaules.“ – „Da haben Sie etwas sehr Schönes gesehen“, antwortet dieser, „das Weib des Kandaules war sicher nicht schöner.“ Und sie sprechen von etwas anderm.

Wie die Anspielung zeigt, sind die beiden Freunde um historische Vergleiche niemals verlegen. Laut Herodot nämlich war König Kandaules – den die Griechen Myrsilos nennen, ein Nachkomme des Herkules – dermaßen in sein eigenes Weib verliebt, dass er seinem getreuen Leibwächter Gyges überschwänglich von ihrer außergewöhnlichen Schönheit erzählt. Wir wissen allerdings nicht genau, was er ihm alles erzählt hat. Jedenfalls, als Gyges aus Schamgefühl davon nichts weiter mehr wissen will, zwingt Kandaules ihn, seiner Frau im Geheimen beim Umkleiden zuzusehen. Laut Platons Politeia benutzt Gyges sogar einen unsichtbar machenden Ring, um die Königin ungesehen zu sehen. Diese erkennt Gyges jedoch, als er sich wieder aus dem Zimmer schleicht, und zwingt ihn – da er sie nackt gesehen habe – tags darauf zu der Entscheidung, entweder durch die Hand ihr treu ergebener Diener zu sterben oder aber den König zu töten und sie zur Frau zu nehmen. Schweren Herzens wählt Gyges das schöne Weib, das Leben und das Königstum. Bestätigt durch einen Spruch des delphischen Orakels, wird seine Herrschaft auch von den Anhängern des Kandaules anerkannt.

Nicht ganz so dramatisch ist der Fortgang der Szene in Paris, wo Alexandre anderntags eigens zu ihnen zum Essen kommt. Mathilde, die ihn lächelnd im Morgenrock empfängt, sagt zu Henri: „Denk mal, er hat mich nackt gesehen, ich wechselte gerade mein Hemd, als er ohne anzuklopfen eintrat.“

„Etwas Besonderes habe ich eigentlich nicht gesehen“, sagt Weill zu ihr; „Suzanne ist ebenso schön wie Sie.“ –

„Sie Lügner, das ist nicht wahr!“, ruft sie. „Schatz“, fügt sie hinzu, „ich bringe dich zu Suzanne, du wirst sehen, sie ist längst nicht so schön wie ich!“ –

„Wollen wir wetten?“, antwortet Weill. –

„Ach so“, meint sie, „ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen; Sie möchten mich gern noch einmal sehen, aber damit ist Schluss. Einmal ist keinmal!“

Daraufhin trinken sie auf ihre Schönheit – nackt oder nicht nackt. –

George Sand mokiert sich über Henris verteufelt witzige Aperçus. Eines Abends sagt er über Alfred de Musset: „C'est un jeune homme de beaucoup de passé. – Ein junger Mann mit viel Vergangenheit.“ –

Heine hardcore I - Die späten Jahre

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