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3: Cleopatra

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In Paris existiert eine Sammlung englischer Kupferstiche, auf denen Shakespearesche Frauengestalten dargestellt sind. Der Buchhändler Delloye, der die Rechte dafür hat, plant eine deutsche Ausgabe und wendet sich für einen verbindenden Text, mitsamt einem ansehnlichen Honorar, an den berühmten Heine. Der lässt sich nicht zweimal bitten. Journalistische Arbeit kommt ihm allemal gelegen, außerdem liefert es ihm einen willkommenen Grund, einmal wieder intensiv Shakespeare zu lesen. Sein Leben lang hat er sich mit dem großen Briten beschäftigt, und da er sich immer schon für Mädchen und Frauen interessierte, kommt ihm das Thema gerade recht: Shakespeares Mädchen und Frauen.

Mit welcher beginnen? Mit Cleopatra und wie sie dem Markus Antonius den Kopf verdreht? Er erinnert sich seiner faustischen Visionen bei der ersten Fahrt nach Vinot, und wie er die schöne Griechin Helena heraufbeschwor. In Shakespeares Troilus und Cressida findet er sie wieder, zusammen mit Leda, der Tochter des Königs Thestios und der Eurythemis, die von Zeus in Gestalt eines Schwans sodomitisch geschwängert wurde:

Abwechselnd wieder sah man hier skulptiert

Des geilen Jovis Brunst und Freveltaten,

Wie er als Schwan die Leda hat verführt,

Die Danae als Regen von Dukaten.

Yeats Gedicht, zitiert von Portnoy, wäre Henris Feder würdig:

Ein jäher Stoß: die Schwinge, bebend, packt

die Taumelnde; der Schwimmhaut schwarze Lust

greift um das Schenkelpaar; der Schnabel hackt

sich ins Genick, und Brust presst sich auf Brust.

Wie könnte jene angstverwirrte Hand

so weiße Pracht von willigen Schenkeln wehren?

Und wie der Leib, vom Fittich übermannt,

so fremden Herzens Klopfen überhören?

Ein blindes Schaudern in den Lenden schaut

der Mauer Sturz, Glut im Gebälk entfacht,

und Agamemnons Tod.

Die's also graut

vorm Blut der Luft, das wild herniederstieß:

gehörte ihr das Wissen seiner Macht,

eh sie der Schnabel lässig fallen ließ?

Das also ist die schöne Helena, deren Geschichte er uns nicht ganz erzählen und erklären könne; er müsste denn wirklich mit dem Ei der Leda beginnen. Ihr Titularvater hieß Tyndarus, aber ihr wirklicher geheimer Erzeuger war ein Gott, der in der Gestalt eines Vogels ihre gebenedeite Mutter Leda befruchtet hatte, wie dergleichen im Altertum oft geschah. Früh verheiratet ward sie nach Sparta; doch bei ihrer außerordentlichen Schönheit ist es leicht begreiflich, dass sie dort bald verführt wurde und ihren Gemahl, den König Menelaus, zum Hahnrei machte.

Meine Damen, wer von euch sich ganz rein fühlt, werfe den ersten Stein auf die arme Schwester! Damit wolle er nicht sagen, dass es keine ganz treuen Frauen gäbe. Sei doch schon das erste Weib, die berühmte Eva, ein Muster ehelicher Treue gewesen. Ohne den leisesten Ehebruchsgedanken wandelte sie an der Seite ihres Gemahls, des berühmten Adam, der damals der einzige Mann in der Welt war und ein Schurzfell von Feigenblättern trug. Nur mit der Schlange konversierte sie gern, aber bloß der schönen französischen Sprache wegen, die sie sich dadurch aneignete, wie sie denn überhaupt nach Bildung strebte. O ihr Evastöchter, ein schönes Beispiel hat euch eure Stammmutter hinterlassen! ...

Frau Venus, die unsterbliche Göttin aller Wonne, verschaffte dem Prinzen Paris die Gunst der schönen Helena; er verletzte die heilige Sitte des Gastrechts und entfloh mit seiner holden Beute nach Troja, der sichern Burg … was wir unter solchen Umständen ebenfalls alle getan hätten. Wir alle, – darunter verstehe er ganz besonders uns Deutsche, die wir gelehrter seien als andere Völker und uns von Jugend auf mit den Gesängen des Homers beschäftigen. Die schöne Helena ist unser frühester Liebling, und schon im zarten Knabenalter, wenn wir auf den Schulbänken sitzen und der Magister uns die schönen griechischen Verse expliziert, wo die trojanischen Greise beim Anblick der Helena in Entzückung geraten:

Leise redete mancher und sprach die geflügelten Worte:

Tadelt nicht die Troer und hellumschienten Achaier,

Die um ein solches Weib so lang ausharren im Elend!

Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht jene von Ansehn!

– … dann pochen schon die süßesten Gefühle in unserer jungen unerfahrnen Brust … Mit errötenden Wangen und unsicherer Zunge antworten wir auf die grammatischen Fragen des Magisters … Späterhin, wenn wir älter und ganz gelehrt, und sogar Hexenmeister geworden sind und den Teufel selbst beschwören können, dann begehren wir von dem dienenden Geist, dass er uns die schöne Helena von Sparta verschaffe.

Er, Heine, habe es schon einmal gesagt: der Johann Faust sei der wahre Repräsentant der Deutschen, des Volkes, das im Wissen seine Lust befriedigt, nicht im Leben. Obgleich dieser berühmte Doktor, der Normal-Deutsche, endlich nach Sinnengenuss lechzt und schmachtet, sucht er den Gegenstand der Befriedigung keineswegs auf den blühenden Fluren der Wirklichkeit, sondern im gelehrten Moder der Bücherwelt; und während ein französischer oder italienischer Nekromant von dem Mephistopheles das schönste Weib der Gegenwart gefordert hätte, begehrt der deutsche Faust ein Weib, welches bereits vor Jahrtausenden gestorben ist und ihm nur noch als schöner Schatten aus altgriechischen Pergamenten entgegenlächelt, die Helena von Sparta! Wie bedeutsam charakterisiert dieses Verlangen das innerste Wesen des deutschen Volkes!

Der typische Deutsche begehrt ein Weib als schönen Schatten? Das ist nicht ohne tiefere Wahrheit. Aber nicht, dass die schöne Helena der Literatur entstammt, scheint das Entscheidende, sondern dass sie überhaupt keine reale Gestalt ist, sondern allein ein Geschöpf der Phantasie, und zwar der erotischen Phantasie. Vielleicht sucht Faust die Sehnsucht, die ihm die literarische Phantasie einflößte, ja wiederum bloß in der Phantasie zu befriedigen. Ob das spezifisch für den ,Deutschen' ist, lassen wir dahingestellt; scheint diese Art Befriedigung durch die Phantasie doch eher ein weltweit verbreitetes, allgemeinmenschliches Phänomen! –

Neben der schönen Helena ist es Cressida, die ehrenfeste Tochter des Priesters Kalchas, die er hier dem verehrungswürdigen Publikum zuerst vorführe. Pandarus war ihr Oheim: ein wackerer Kuppler; seine vermittelnde Tätigkeit wäre jedoch schier entbehrlich gewesen. Troilus, ein Sohn des vielzeugenden Priamus, war ihr erster Liebhaber; sie erfüllte alle Formalitäten, sie schwur ihm ewige Treue, brach sie mit gehörigem Anstand und hielt einen seufzenden Monolog über die Schwäche des weiblichen Herzens, ehe sie sich dem Diomedes ergab. Der Horcher Thersites, welcher ungalanterweise die Dinge immer beim Namen nennt, nennt sie eine Metze. Aber er wird wohl einst seine Ausdrücke mäßigen müssen; denn es kann sich wohl ereignen, dass die Schöne, von einem Helden zum andern und immer zum geringeren hinabsinkend, endlich ihm selber als süße Buhle anheimfällt.

Wenn er dieses Drama unter der Rubrik ,Tragödien' einregistriere, so wolle er dadurch von vornherein zeigen, wie streng er es mit solchen Überschriften nehme. Sein alter Lehrer der Poetik im Gymnasium zu Düsseldorf habe einmal sehr scharfsinnig bemerkt: „Diejenigen Stücke, worin nicht der heitere Geist Thalias, sondern die Schwermut Melpomenes atmet, gehören ins Gebiet der Tragödie.“ Vielleicht habe er jene umfassende Definition im Sinn gehabt, als er auf den Gedanken geriet, Troilus und Cressida unter die Tragödien zu stecken. Und in der Tat, es herrsche darin eine jauchzende Bitterkeit, eine weltverhöhnende Ironie, wie sie uns nie in den Spielen der komischen Muse begegne. Es sei weit eher die tragische Göttin, welche überall in diesem Stück sichtbar werde, nur dass sie hier einmal lustig tun und Spaß machen möchte … Und es ist, als sähen wir Melpomene auf einem Grisettenball den Chahut tanzen, freches Gelächter auf den bleichen Lippen und den Tod im Herzen.

Auch die Kaiserin Tamora aus Titus Andronicus sei, im Gegensatz zur keuschen Lavinia, eine schöne Figur; es dünke ihn eine Ungerechtigkeit, dass der englische Grabstichel in gegenwärtiger Galerie Shakespearescher Frauen ihr Bildnis nicht eingezeichnet habe. Obgleich in Titus Andronicus noch das äußere Gepränge des Heidentums walte, so offenbare sich darin doch schon der Charakter der späteren christlichen Zeit, und die moralische Verkehrtheit in allen sittlichen und bürgerlichen Dingen sei schon ganz byzantinisch. Dieses Stück gehöre sicher zu Shakespeares frühesten Erzeugnissen, obgleich manche Kritiker ihm die Autorschaft streitig machten; es herrsche darin eine Unbarmherzigkeit, eine schneidende Vorliebe für das Hässliche, ein titanisches Hadern mit den göttlichen Mächten, wie wir dergleichen in den Erstlingswerken der größten Dichter zu finden pflegen. Der Held, im Gegensatz zu seiner ganzen demoralisierten Umgebung, sei ein echter Römer, ein Überbleibsel aus der alten starren Periode. Ob dergleichen Menschen damals noch existierten? Es sei möglich; denn die Natur liebe es, von allen Kreaturen, deren Gattung untergeht oder sich transformiert, noch irgendein Exemplar aufzubewahren, und sei es auch als Versteinerung, wie wir dergleichen auf Bergeshöhen zu finden pflegen. Titus Andronicus ist ein solcher versteinerter Römer, und seine Tugend ist eine wahre Kuriosität zur Zeit der späteren Cäsaren.

Tamora ist ein schönes majestätisches Weib, eine bezaubernd imperatorische Gestalt, auf der Stirn das Zeichen der gefallenen Göttlichkeit, in den Augen eine weltverzehrende Wollust, prachtvoll lasterhaft, lechzend nach rotem Blut. Weitblickend milde, wie unser Dichter sich immer zeigt, habe er schon in der ersten Szene, wo Tamora erscheint, alle die Greuel, die sie später gegen Titus Andronicus ausübt, im voraus justifiziert. Denn dieser starre Römer, ungerührt von ihren schmerzlichsten Mutterbitten, lässt ihren geliebten Sohn gleichsam vor ihren Augen hinrichten; sobald sie nun, in der werbenden Gunst des jungen Kaisers, die Hoffnungsstrahlen einer künftigen Rache erblickt, entringeln sich ihren Lippen die jauchzend finsteren Worte:

Ich will es ihnen zeigen, was es heißt,

Wenn eine Königin auf den Straßen knieet,

Und Gnad umsonst erfleht ...

Wie ihre Grausamkeit entschuldigt werde durch das erduldete Übermaß von Qualen, so erscheine die metzenhafte Liederlichkeit, womit sie sich sogar einem scheußlichen Mohren hingibt, gewissermaßen veredelt durch die romantische Poesie, die sich darin ausspricht. Ja, zu den schauerlich süßesten Zaubergemälden der romantischen Poesie gehöre jene Szene, wo während der Jagd die Kaiserin Tamora ihr Gefolge verlassen hat und ganz allein im Walde mit dem geliebten Mohren zusammentrifft.

Warum so traurig, holder Aaron?

Da doch umher so heiter alles scheint.

Die Vögel singen überall im Busch,

Die Schlange liegt im Sonnenstrahl gerollt,

Das grüne Laub bebt von dem kühlen Hauch

Und bildet bunte Schatten auf dem Boden.

Im süßen Schatten, Aaron, lass uns sitzen,

Indes die Echo schwatzhaft Hunde äfft,

Und widerhallt der Hörner hellen Klang,

Als sei die Jagd verdoppelt; – lass uns sitzen

Und horchen auf das gellende Getöse.

Nach solchem Zweikampf, wie der war, den Dido –

Erzählt man – mit Äneas einst genoss,

Als glücklich sie ein Sturmwind überfiel

Und die verschwiegne Grotte sie verbarg,

Lass uns verschlungen beide, Arm in Arm,

Wenn wir die Lust genossen, goldnem Schlaf

Uns überlassen; während Hund und Horn

Und Vögel mit der süßen Melodie

Uns das sind, was der Amme Lied ist, die

Damit das Kindlein lullt und wiegt zum Schlaf.

Während aber Wollustgluten aus den Augen der schönen Kaiserin hervorlodern und über die schwarze Gestalt des Mohren wie lockende Lichter, wie züngelnde Flammen ihr Spiel treiben, denkt dieser an weit wichtigere Dinge, an die Ausführung der schändlichsten Intrigen, und seine Antwort bildet den schroffsten Gegensatz zu der brünstigen Anrede Tamoras.

Am 29. August des Jahres 1827 sei es gewesen, als er im Theater zu Berlin bei der ersten Vorstellung einer neuen Tragödie vom Herrn E. Raupach allmählich einschlief. Für das gebildete Publikum, das nicht ins Theater geht und nur die eigentliche Literatur kennt, müsse er hier bemerken, dass benannter Herr Raupach ein sehr nützlicher Mann sei, ein Tragödien- und Komödienlieferant, welcher die Berliner Bühne jeden Monat mit einem neuen Meisterwerk versehe. Die Berliner Bühne sei eine vortreffliche Anstalt und besonders nützlich für Hegelsche Philosophen, welche des Abends von dem harten Tagwerk des Denkens ausruhen wollen. Der Geist erhole sich dort noch weit natürlicher als bei Wisotzki. Man geht ins Theater, streckt sich nachlässig hin auf die samtnen Bänke, lorgniert die Augen seiner Nachbarinnen oder die Beine der auftretenden Mimin, und wenn die Kerls von Komödianten nicht gar zu laut schreien, schläft man ruhig ein, wie ich es wirklich getan am 29. August des Jahres 1827 nach Christi Geburt.

Indes wolle er die dramatischen Gedichte, worin Shakespeare die großen Begebenheiten der englischen Historie verherrlichte, nicht dogmatisch erläutern, sondern nur die Bildnisse der Frauen, die aus jenen Dichtungen hervorblühen, mit einigen Wortarabesken verzieren! Da in den englischen Geschichtsdramen die Frauen nichts weniger als die Hauptrolle spielen und der Dichter sie nie auftreten lässt, um wie in anderen Stücken weibliche Gestalten und Charaktere zu schildern, sondern vielmehr, weil die darzustellende Historie ihre Einmischung erforderte: so werde auch er desto kärglicher von ihnen reden. – In König Heinrich VI. sehen wir Margaretha, die schöne Tochter des Grafen Reignier, noch als Mädchen. Suffolk tritt auf und führt sie als Gefangene vor, doch ehe er sich dessen versieht, hat sie ihn selber gefesselt. Er mahne uns ganz an den Rekruten, der von einem Wachtposten aus seinem Hauptmann entgegenschrie: „Ich habe einen Gefangenen gemacht.“ – „So bringt ihn zu mir her“, antwortet der Hauptmann. – „Ich kann nicht“, erwiderte der arme Rekrut, „denn mein Gefangener lässt mich nicht mehr los.“

Suffolk spricht:

Sei nicht beleidigt, Wunder der Natur!

Von mir gefangen werden, ist dein Los.

So schützt der Schwan die flaumbedeckten Schwänlein,

Mit seinen Flügeln sie gefangenhaltend:

Allein, sobald dich kränkt die Sklaverei,

So geh und sei als Suffolks Freundin frei.

Sie wendet sich weg, als wollte sie gehn.

O bleib! Mir fehlt die Kraft, sie zu entlassen,

Befrein will sie die Hand, das Herz sagt nein.

Wie auf kristallnem Strom die Sonne spielt

Und blinkt mit zweitem nachgeahmten Strahl,

So scheint die lichte Schönheit meinen Augen;

Ich würbe gern, doch wag ich nicht zu reden;

Ich fordre Tint und Feder, ihr zu schreiben.

Pfui, De la Poole! entherze dich nicht selbst.

Hast keine Zung? ist sie nicht dort?

Verzagst du vor dem Anblick eines Weibs?

Ach ja! der Schönheit hohe Majestät

Verwirrt die Zung und macht die Sinne wüst.

MARGARETHA: Sag, Graf von Suffolk (wenn du so dich nennst),

Was gilt's zur Lösung, eh du mch entlässest?

Denn wie ich seh, bin ich bei dir Gefangne.

SUFFOLK beiseit: Wie weißt du, ob sie deine Bitte weigert,

Eh du um ihre Liebe dich versucht?

MARGARETHA: Du sprichst nicht: was für Lösung muss ich

zahlen?

SUFFOLK beiseit: Ja, sie ist schön, drum muss man um sie werben;

Sie ist ein Weib, drum kann man sie gewinnen.

Endlich findet er doch das beste Mittel, die Gefangene zu behalten: indem er sie seinem König anvermählt und zugleich ihr öffentlicher Untertan und ihr heimlicher Liebhaber wird.

Ist dieses Verhältnis zwischen Margarethen und Suffolk in der Geschichte begründet? Er wisse es nicht. Aber Shakespeares divinatorisches Auge sehe oft Dinge, wovon die Chronik nichts melde, und die dennoch wahr sind. Er kenne sogar jene flüchtigen Träume der Vergangenheit, die Klio aufzuzeichnen vergaß. Bleiben vielleicht auf dem Schauplatz der Begebenheiten allerlei bunte Abbilder derselben zurück, die nicht wie gewöhnliche Schatten mit den wirklichen Erscheinungen verschwinden, sondern gespenstisch haften bleiben am Boden, unbemerkt von den gewöhnlichen Werkeltagsmenschen, die ahnungslos darüber hin ihre Geschäfte treiben, aber manchmal ganz farben- und formenbestimmt sichtbar werdend für das sehende Auge jener Sonntagskinder, die wir Dichter nennen? – Hat Shakespeare wirklich den Charakter des erwähnten Königs ganz treu nach der Historie geschildert? Ich muss wieder auf die Bemerkung zurückkommen, dass er verstand, die Lakunen der Historie zu füllen.

Die Gunst der Frauen, wie das Glück überhaupt – bemerkt er zu Lady Anna aus König Richard III. –, ist ein freies Geschenk, man empfange es, ohne zu wissen, wie, ohne zu wissen, warum. Es gebe aber Menschen, die es mit eisernem Willen vom Schicksal zu ertrotzen verstehen, und diese gelangen zum Ziel, entweder durch Schmeichelei, oder indem sie den Weibern Schrecken einflößen, oder indem sie ihr Mitleiden anregen, oder indem sie ihnen Gelegenheit geben, sich aufzuopfern … Letzteres, nämlich das Geopfert-Sein, ist die Lieblingsrolle der Weiber und kleidet sie so schön vor den Leuten, und gewährt ihnen auch in der Einsamkeit so viel tränenreiche Wehmutsgenüsse.

Lady Anna werde durch all dies gleichzeitig bezwungen. Wie Honigseim gleiten die Schmeichelworte von den furchtbaren Lippen … Richard schmeichelt ihr, derselbe Richard, welcher ihr alle Schrecken der Hölle einflößt, welcher ihren geliebten Gemahl und den väterlichen Freund getötet, den sie eben zu Grabe bestattet … Er befiehlt den Leichenträgern mit herrischer Stimme, den Sarg niederzusetzen, und in diesem Moment richtet er seine Liebeswerbung an die schöne Leidtragende … Das Lamm sieht schon mit Entsetzen das Zähnefletschen des Wolfs, aber dieser spitzt plötzlich die Schnauze zu den süßesten Schmeicheltönen … Die Schmeichelei des Wolfs wirkt so erschütternd, so berauschend auf das arme Lammgemüt, dass alle Gefühle darin eine plötzliche Umwandlung erleiden … Und König Richard spricht von seinem Kummer, von seinem Gram, so dass Anna ihm ihr Mitleid nicht versagen kann, um so mehr, da dieser wilde Mensch nicht sehr klagesüchtig von Natur ist … Und dieser unglückliche Mörder hat Gewissensbisse, spricht von Reue, und eine gute Frau könnte ihm vielleicht auf den besseren Weg leiten, wenn sie sich für ihn aufopfern wollte … Und Anna entschließt sich, Königin von England zu werden.

Diese Bemerkung, dass Anna sich entschließt, Königin von England zu werden, ist eine maliziöse Ironie Henris, – legt sie doch unterderhand nahe, dass eine Frau sogar dem Mörder ihres Gatten verzeiht, wenn sie dafür Königin werden darf! –

Ein unüberwindliches Vorurteil habe Verfasser gegen Königin Katharina aus Heinrich VIII., welcher er dennoch die höchsten Tugenden zugestehen müsse. Als Ehefrau war sie ein Muster häuslicher Treue. Als Königin betrug sie sich mit höchster Würde und Majestät. Als Christin war sie die Frömmigkeit selbst. Aber den Doktor Johnson habe sie zum überschwänglichsten Lobe begeistert, sie ist unter allen Shakespeareschen Frauen sein auserlesener Liebling, er spricht von ihr mit Zärtlichkeit und Rührung … Das sei nicht zu ertragen. Shakespeare habe alle Macht seines Genius aufgeboten, die gute Frau zu verherrlichen, doch diese Bemühung werde vereitelt, wenn man sieht, dass Dr. Johnson, der große Porterkrug, bei ihrem Anblick in süßes Entzücken gerät und von Lobeserhebungen überschäumt. Wäre sie seine Frau – so Henri –, er könnte sich von ihr scheiden lassen ob solcher Lobeserhebungen.

Vielleicht war es nicht der Liebreiz von Anne Boleyn, was den armen König Heinrich von ihr losriss, sondern der Enthusiasmus, womit sich irgendein damaliger Dr. Johnson über die treue, würdevolle und fromme Katharina aussprach. Hat vielleicht Thomas Morus, der bei all seiner Vortrefflichkeit etwas pedantisch und ledern und unverdaulich wie Dr. Johnson war, zu sehr die Königin in den Himmel erhoben? Dem wackern Kanzler freilich sei sein Enthusiasmus etwas teuer zu stehen gekommen; der König erhob ihn deshalb selbst in den Himmel. Er – der Kommentator – wisse nicht, was er am meisten bewundern solle: dass Katharina ihren Gemahl ganze fünfzehn Jahre lang ertrug, oder dass Heinrich seine Gattin während so langer Zeit ertragen habe? Der König war nicht bloß sehr launenhaft, jähzornig und in beständigem Widerspruch mit allen Neigungen seiner Frau – das finde sich in vielen Ehen, die sich trotzdem, bis der Tod allem Zank ein Ende macht, aufs beste erhalten –, aber der König war auch Musiker und Theolog, und beides in vollendeter Miserabilität.

Die gewöhnliche Meinung gehe dahin, König Heinrichs Gewissensbisse ob seiner Ehe mit Katharinen seien durch die Reize der schönen Anne Boleyn entstanden. Sogar Shakespeare verrate diese Meinung, und wenn in dem Krönungszug die neue Königin auftritt, legt er einem jungen Edelmann die folgenden Worte in den Mund:

… Gott sei mit dir!

Solch süß Gesicht als deins erblickt ich nie!

Bei meinem Leben, Herr, sie ist ein Engel,

Der König hält ganz Indien in den Armen,

Und viel, viel mehr, wenn er dies Weib umfängt:

Ich tadle sein Gewissen nicht.

Von der Schönheit Anne Boleyns gebe uns der Dichter auch in der folgenden Szene einen Begriff, wo er den Enthusiasmus schildert, den ihr Anblick bei der Krönung hervorruft. Wie sehr Shakespeare seine Gebieterin, die hohe Elisabeth, liebte, zeige sich am schönsten vielleicht in der Umständlichkeit, womit er die Krönungsfeier ihrer Mutter darstellt. Alle diese Details sanktionieren das Thronrecht der Tochter, und der Dichter wusste die bestrittene Legitimität seiner Königin dem ganzen Publikum zu veranschaulichen. Aber diese Königin verdiente solchen Liebeseifer! Sie glaubte ihrer Königswürde nichts zu vergeben, wenn sie dem Dichter gestattete, alle ihre Vorfahren, und sogar ihren eigenen Vater, mit entsetzlicher Unparteilichkeit auf der Bühne darzustellen!

Und nicht bloß als Königin, sondern auch als Weib habe sie nie die Rechte der Poesie beeinträchtigen wollen; wie sie unserem Dichter in politischer Hinsicht die höchste Redefreiheit gewährte, so erlaubte sie ihm auch die kecksten Worte in geschlechtlicher Beziehung, sie nahm keinen Anstoß an den ausgelassensten Witzen einer gesunden Sinnlichkeit, und sie, the maiden queen, die königliche Jungfrau, verlangte sogar, dass Sir John Falstaff sich einmal als Liebhaber zeige. Ihrem lächelnden Wink verdanken wir Die lustigen Weiber von Windsor. Shakespeare konnte seine englischen Geschichtsdramen nicht besser schließen, als indem er am Ende von Heinrich VIII. die neugeborene Elisabeth, gleichsam die bessere Zukunft in Windeln, über die Bühne tragen lässt. –

Das Renommee der Lady Macbeth, die man während zweier Jahrhunderte für eine sehr böse Person hielt, habe sich vor etwa zwölf Jahren in Deutschland sehr zu ihrem Vorteil verbessert. Der fromme Franz Horn habe nämlich im Brockhausischen Konversationsblatt die Bemerkung gemacht, dass die arme Lady bisher ganz verkannt worden, dass sie ihren Mann sehr liebte und überhaupt ein liebevolles Gemüt besäße. Diese Meinung suchte bald darauf Herr Ludwig Tieck mit all seiner Wissenschaft, Gelahrtheit und philosophischen Tiefe zu unterstützen, und es dauerte nicht lange, so sahen wir Madame Stich auf der königlichen Hofbühne in der Rolle der Lady Macbeth so gefühlvoll girren und turteltäubeln, dass kein Herz in Berlin vor solchen Zärtlichkeitstönen ungerührt blieb und manches schöne Auge von Tränen überfloss beim Anblick der juten Macbeth. – Das geschah, wie gesagt, vor etwa zwölf Jahren, in jener sanften Restaurationszeit, wo sie alle so viel Liebe im Leib gehabt hätten. Seitdem sei ein großer Bankrott ausgebrochen, und wenn sie jetzt mancher gekrönten Person nicht die überschwängliche Liebe widmeten, die sie verdient, so seien Leute daran schuld, die, wie die Königin von Schottland, während der Restaurationsperiode ihre Herzen ganz ausgebeutelt hätten. Ob man in Deutschland die Liebenswürdigkeit der besagten Lady noch immer verfechte, wisse er nicht. Seit der Juliusrevolution haben sich jedoch die Ansichten in vielen Dingen geändert, und man hat vielleicht sogar in Berlin einsehen lernen, dass die jute Macbeth eine sehr bese Bestie sint.

Persönlich fühlt er sich von einer anderen Figur wahlverwandtschaftlich berührt. Einmal nämlich appelliert der Feldherr Macduff an den legitimen schottischen Prinzen Malcolm, die Nachfolge des ermordeten Königs Duncan zu übernehmen. Überraschender Weise erklärt Malcolm sich außerstande, das würdige Amt anzutreten. Er sei dafür völlig ungeeignet. In Abgründe blicken lässt der Grund, den er auf Macduffs Nachfrage dafür anführt: die erotische Unmäßigkeit seiner Natur. Im Original:

I grant him bloody,

Luxurious, avaricious, false, deceitful,

Sudden, malicious, smacking if every sin

That has a name. But there's no bottom, none,

In my voluptuousness. Your wives, your daughters,

Your matrons, and your maids could not fill up

The cistern of my lust; and my desire

All continent impediments would o'erbear

That did oppose my will. Better Macbeth

Than such a one to reign.

In Schlegel-Tiecks klassischer Übersetzung:

Wohl ist er blutig,

Wollüstig, geizig, falsch, betrügerisch,

Jähzornig, hämisch; schmeckt nach jeder Sünde,

Die Namen hat. Doch völlig bodenlos

Ist meine Wollust: eure Weiber, Töchter,

Jungfraun, Matronen könnten aus nicht füllen

Den Abgrund meiner Lust; und meine Gier

Würd' überspringen jede feste Schranke,

Die meine Willkür hemmte. Besser Macbeth,

Als dass ein solcher herrscht.

Besser lässt sich die Satyriasis des Mannes, oder die Nymphomanie der Frau, nicht beschreiben. Malcolms Geständnis, er könne nicht über seinen sexualsüchtigen Schatten springen, er sei der Macht des Monarchen absolut unwürdig und würde sie nur zur Genüge seines zuchtlosen Kitzels missbrauchen, reflektiert mit äußerster Schärfe den natürlichen Donjuanismus des Fleisches. Shakespeare scheint zu wissen, wovon er spricht. Dabei ist das von Malcolm bloß eine demagogische Fiktion zu dem Zweck, die Treue seines Vasallen zu prüfen. Tatsächlich zeigt Macduff dafür männliches Entgegenkommen:

Unmäßge Wollust

Ist wohl auch Tyrannei, und hat schon oft

Manchen beglückten Thron zu früh verwaist,

Viel Könige gestürzt. Allein deshalb

Zagt nicht, zu nehmen, was Eur eigen ist.

Ihr mögt der Lust ein weites Feld gewähren,

Und kalt erscheinen, mögt die Welt so täuschen:

Der will'gen Frauen gibt’s genug; unmöglich

Kann solch ein Geier in Euch sein, der alle

Verschlänge, die der Hoheit gern sich opfern,

Zeigt sich ein solch Gelüst.

Was aber der schottische Thronfolger nur vorgibt, ist bei Henri nichts weniger als eine bloße Fiktion: Er erkennt in dem abschreckenden Exempel mehr von sich wieder, als ihm lieb ist. Ist das nicht genau das, was er selbst immer schon in sich fühlte: there's no bottom, none, in my voluptuousness?

Empfindet er in seiner Phantasie nicht oft genug geradeso – und verhält sich in effigie dementsprechend –, wie Malcolm es spielerisch bloß fingiert! Ist es nicht genau die von Macduff aufgeworfene unmäßige Wollust, unter deren Tyrannei er sein Leben lang stand? Genau dieser Geier der Gier, dieser Moloch der Lust, ist es doch, der sein Leben lang verschlang, was ihm seine sexuelle Phantasie darbot! Darf er dafür ebenso auf Macduffs Nachsicht hoffen?

Aber natürlich darf er das! Hat die Natur des Sexualtriebs und seiner Lust doch keiner jemals treffender wiedergegeben als der große Brite in seinem 129. Sonett:

Th' expense of spirit in a waste of shame

Is lust in action; and till action, lust

Is perjur'd, murderous, bloody, full of blame,

Savage, extreme, rude, cruel, not to trust;

Past reason hunted, and no sooner had,

Past reason hated, as a swallow'd bait,

On purpose laid to make the taker mad –

Mad in pursuit, and in possession so;

Had, having, and in quest to have, extreme;

A bliss in proof, and prov'd a very woe;

Before, a joy propos'd; behind, a dream.

All this the world well knows; yet none knows well

To shun the heaven that leads men to this hell.

In unvollkommener Übersetzung:

Verbrauch von Geist in schändlicher Verschwendung

Ist Lust in Aktion; und bis zur Tat ist Lust

Meineidig, mördrisch, blutig, voller Verblendung,

Wild, tierisch, grausam, roh, des Trugs bewusst.

Genossen kaum, auch schon verabscheut,

Jenseits aller Vernunft gejagt; und kaum erjagt,

Über alle Vernunft verhasst, wie ein verschlungner Köder

Gelegt, den Fisch verrückt zu machen.

Verrückt in der Begier, verrückt noch im Besitz;

Gehabt, im Haben, und im Habenwolln extrem;

Im Tun ein Glück – getan, elende Not;

Zuerst: versprochener Genuss; danach: ein Traum.

Das alles weiß die Welt sehr wohl: doch niemand weiß

Dem Himmel zu entfliehn, der uns so macht die Hölle heiß.

Wer fähig ist, die Sinneslust so abgründig zu beschreiben, der hat die gründlichste Kenntnis davon. Nicht aber die gewöhnliche Fleischeslust eines bürgerlich wohlanständigen Ehebetts scheint es, was hier – wild, tierisch, grausam, roh, des Trugs bewusst – beschrieben wird, als statt dessen vielmehr gerade die ungezähmte, nicht domestizierte, nicht legitimierte, freie, ungezügelte Lust. Die Lust im ursprünglichen nicht zivilisierten Zustand, gleichsam die Wildform der Lust. Der sexuelle Reiz auf der ständigen Jagd nach seiner Befriedigung: das ist aber eher die Lust der Singles, der Einsamen, der Erotomanen. Das ist die Lust in der einsamen Phantasie, von der es in Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften heißt: Etwas wissen Sie nicht, nämlich dass die Einsamkeit die Glut der Begierde ins Ungeheure schürt. Das ist die Lust der erotischen Träumerei, von der es in einem anderen einsamen Bekenntnis heißt: „Der matteste meiner Pollutionsträume war tausendmal hinreißender als all die Ehebrecherei, die sich das virilste Schriftstellergenie oder der talentierteste Impotente ausmalen könnten.“ Das ist die Lust des erotischen Wahns! Meineid, Mord, Blut, Schmach, Schande, Geilheit, Extremismus, Roheit, Grausamkeit – das sind Merkmale der Lust in der sexuellen Einbildungskraft. Damit ist es aber auch die Befriedigung dieser Lust im einsamen Wahn – in der Selbstbefriedigung, der Onanie.

Gewiss, wer die Natur der sexuellen Lust schon ihrer ursprünglichen Form nach so erkennt, der hat auch Verständnis für den, in dem die Natur noch dazu weit über ihr gewöhnliches Ziel hinaus schoss!

Heine hardcore I - Die späten Jahre

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