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4: Ophelia

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Damit kommt er zu Hamlet: Das ist die arme Ophelia, die Hamlet der Däne geliebt hat. Es war ein blondes schönes Mädchen, und besonders in ihrer Sprache lag ein Zauber, der ihm schon damals das Herz rührte, als er nach Wittenberg hat reisen wollen und zu ihrem Vater Polonius gegangen ist, um ihm Lebewohl zu sagen.

Henri identifiziert sich nämlich mit dem Prinzen persönlich: Der alte Polonius sei so gütig gewesen, ihm alle jene guten Lehren, wovon er selber so wenig Gebrauch machte, auf den Weg mitzugeben, und zuletzt rief er Ophelien, dass sie ihnen Wein bringe zum Abschiedstrunk. Als das liebe Kind, sittsam und anmutig, mit dem Kredenzteller zu ihm herantrat und das strahlend große Auge gegen ihn aufhob, habe er in der Zerstreuung zu einem leeren, statt zu einem gefüllten Becher gegriffen. Sie lächelte ob seines Missgriffs. Ihr Lächeln war schon damals so wundersam glänzend, es zog sich über ihre Lippen schon jener berauschende Schmelz, der wahrscheinlich von den Kusselfen herrührte, die in den Mundwinkeln lauschten.

Als er von Wittenberg heimkehrte und ihm ihr Lächeln wieder entgegenleuchtete, habe er alle Spitzfindigkeiten der Scholastik vergessen, und sein Nachgrübeln betraf nur die holden Fragen: Was bedeutet jenes Lächeln? Was bedeutet jene Stimme, jener geheimnisvoll schmachtende Flötenton? Woher empfangen jene Augen ihre seligen Strahlen? Ist es ein Abglanz des Himmels, oder erglänzt der Himmel nur von dem Widerschein dieser Augen? Steht jenes Lächeln im Zusammenhang mit der stummen Musik des Sphärentanzes, oder ist es nur die irdische Signatur der übersinnlichsten Harmonien? Eines Tages, als sie im Schlossgarten zu Helsingör sich ergingen, zärtlich scherzend und kosend, die Herzen in voller Sehnsuchtsblüte … es bleibe ihm unvergesslich, wie bettelhaft der Gesang der Nachtigallen abstach gegen die himmelhauchende Stimme Ophelias, und wie armselig blöde die Blumen aussahen mit ihren bunten Gesichtern ohne Lächeln, wenn er sie zufällig verglich mit dem holdseligen Munde Ophelias! Die schlanke Gestalt, wie wandelnde Lieblichkeit schwebte sie neben ihm einher.

Ach! das sei der Fluch schwacher Menschen, dass sie jedesmal, wenn ihnen eine große Unbill widerfährt, zunächst an dem Besten und Liebsten, was sie besitzen, ihren Unmut auslassen. Und so zerstörte der arme Hamlet zunächst seine Vernunft, das herrliche Kleinod, stürzte sich durch verstellte Geistesverwirrung in den entsetzlichen Abgrund der wirklichen Tollheit und quälte sein armes Mädchen mit höhnischen Stachelreden … Das arme Ding! das fehlte noch, dass der Geliebte ihren Vater für eine Ratte hielt und ihn totstach … Da musste sie ebenfalls von Sinnen kommen! Aber ihr Wahnsinn sei nicht so schwarz und brütend düster wie der Hamletische, sondern er gaukle gleichsam besänftigend mit süßen Liedern um ihr krankes Haupt … Ihre sanfte Stimme schmilzt ganz in Gesang, und Blumen und wieder Blumen winden sich durch all ihr Denken. Sie singt und flicht Kränze und schmückt damit ihre Stirn und lächelt mit ihrem strahlenden Lächeln, armes Kind! …

Doch was erzähle er uns diese kummervolle Geschichte? Wir alle kennen sie von frühester Jugend und haben oft genug geweint über die alte Tragödie von Hamlet dem Dänen, welcher die arme Ophelia liebte, weit mehr liebte, als tausend Brüder mit ihrer Gesamtliebe sie zu lieben vermochten, und welcher verrückt wurde, weil ihm der Geist seines Vaters erschien, und weil die Welt aus ihren Angeln gerissen war und er sich zu schwach fühlte, um sie wieder einzurenken, und weil er im deutschen Wittenberg vor lauter Denken das Handeln verlernt hatte, und weil ihm die Wahl stand, entweder wahnsinnig zu werden oder eine rasche Tat zu begehen, und weil er als Mensch überhaupt große Anlagen zur Tollheit in sich trug. – Wir kennten diesen Hamlet, wie wir unser eignes Gesicht kennen, das wir so oft im Spiegel erblicken, und das uns dennoch weniger bekannt ist, als man glauben sollte; denn begegnete uns jemand auf der Straße, der ganz so aussähe wie wir selber, so würden wir das befremdlich wohlbekannte Antlitz nur instinktmäßig und mit geheimem Schreck anglotzen, ohne jedoch zu merken, dass es unsere eignen Gesichtszüge sind, die wir eben erblickten.

Hamlets nächster Freund ist Horatio der Däne. Shakespeare bildete ihn, wie aus der Rede Hamlets hervorgeht, nach dem Vorbild des römischen Stoikers Horaz:

Seit meine teure Seele Herrin war

Von ihrer Wahl und Menschen unterschied,

Hat sie dich auserkoren. Denn du warst

Als littst du nichts, indem du alles littest;

Ein Mann, der Stöß' und Gaben vom Geschick

Mit gleichem Dank genommen: und gesegnet,

Wes Blut und Urteil sich so gut vermischt,

Dass er zur Pfeife nicht Fortunen dient,

Den Ton zu spielen, den ihr Finger greift.

Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft

Nicht macht zum Sklaven, und ich will ihn hegen

Im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen,

Wie ich dich hege ...

Ja, das ist das Wesen Horatios, wie man es besser nicht beschreiben kann. Ein solcher Mann ist er, Heinrich Heine, nicht, und eben dieser Gegensatz zieht ihn an. Er fühlt sich öfter, als ihm lieb ist, wie die Pfeife in Fortunas Fingern, den Ton zu spielen, den ihr Finger greift. Er ist oft genug der Sklave seiner Leidenschaft – und seine eigentliche Leidenschaft ist der Eros, der übers Ziel hinaus schießt: seine leichte Entflammbarkeit, seine Anfälligkeit für spontane Verliebtheit. Warum denn hatte ich nicht Vernunft genug, die Leidenschaft zu besiegen? Weil die Leidenschaft stärker war als die Vernunft! Ich war darin nicht frei; ich bin es ja nicht, der mir Leidenschaft und Vernunft gegeben hat. Von Kind an liegt das in mir, in Leib und Seele, ebenso wie die Gabe der Poesie.

Ein solcher Mann tritt der Liebe nicht mit jener Gelassenheit entgegen, wie die Medea des Euripides sie fordert:

Wo heftige Liebe den Mann

Zu sehr bedrängt, da kann sie nicht

Würde verleihen noch Ruhm. Doch wann immer machtvoll einherkommt

Kypris, nicht ein anderer Gott ist so lieblich.

Sende, Herrin, mir von dem goldenen Bogen nie den sichern

Pfeil, den du gesalbt mit süßer Sehnsucht!

Er, Heinrich Heine, hingegen ist die Marionette am Draht seiner Leidenschaft, und seine Leidenschaft ist die Liebesleidenschaft. Er weiß auch genau, woher diese Liebessucht kommt: Es ist das limbische System in seinem Gehirn, in dem die Lust lokalisiert ist. Dieses Organ ist fast unabhängig von der Person, es führt ein Eigenleben und funktioniert autonom, und hält ihn am Draht wie eine Marionette. Es ist sein heißes Blut, das die Dämme seines Urteils – seiner Vernunft – überschwemmt, und er ist schier machtlos dagegen.

Sein Blut und Urteil sind nicht so gut gemischt wie Horatio's, in ihm überschwemmt und ertränkt das Blut das Urteil, und das ,Blut' ist seine exorbitante, überbordende Sinnlichkeit. Sie ist sein innerstes Wesen. Sie ist ihm von Mutter Natur in die Wiege gelegt. Es ist jene Anfälligkeit für die Pocken des Herzens, die er schon in frühester Jugend zu spüren bekam. Und niemals, nie würde er diesen Bazillus herausbekommen aus seinem Blut.

Ein Mann wie Horatio dagegen ist leicht zu loben und zu lieben, er kennt nicht das ständige Kribbeln im Ameisenhaufen der Sinnlichkeit. Zu sein wie er! Um sich nur einmal in effigie mit ihm zu identifizieren, plant er einen Roman über ihn.

Horatio hält so eng mit Hamlet und Ophelia zusammen, dass man es fast für eine Ménage-à-trois halten könnte. Der alte Polonius, der eine Kammerzofe der Königin geheiratet hat, bekam sie, nach ihrem Bruder Laertes, als zweites Kind, als er schon merklich über die fünfzig war. Sie ist mit ihren siebzehn von hinreißendem Liebreiz. Sie hat hohe Backenknochen, lustige Augen und einen regelmäßigen Mund mit vollen Lippen, dazu das gleiche strahlend blonde Haar wie ihre Mutter, das ihr über den Rücken herab bis auf die Hüften reicht, und auch die gleiche schlacksige Figur. Die Hüften trägt sie so hoch auf den langen Beinen, dass sie wie ein junges Füllen wirkt. Sie hat den sommersprossigen Teint aller Blonden und wird nicht leicht braun, weswegen im Sommer, wenn sie leichgeschürzt geht, ihre Arme und Schenkel weiß wie Schnee in der Sonne gleißen. Horatio hat oft bemerkt, wie die jungen Kavaliere am Hof dann wie geblendet schwache Knie kriegen und in den weißen Schnee sinken wollen. Doch hält sie schon der Respekt vor dem Prinzen in Schach.

Ophelia scheint nicht nur von unberührbarer Sittsamkeit, sie ist es auch. Horatio, mit dem Henri jetzt sich identifiziert, weiß nicht, was sie unter ihrer Bettdecke treibt, wenn sie mit sich allein ist, und hat manchmal Mühe, den Gedanken daran zu verdrängen; sonst ist es nicht seine Art, sich die Schlafzimmerszenen seiner Freunde vorzustellen. Aber wäre nicht Isolde, seine Wittenberger Verlobte, und wäre nicht Hamlet, sein prinzlicher Freund, er wüsste nicht … – doch das sind der Wenn und Aber schon zu viele, als dass er weiter darüber nachgrübeln wollte.

Dabei weiß er nicht, ob er auf sie auch so wirkt wie auf manche ihrer Geschlechtsgenossinnen auf dem Schloss, deren Nachstellungen er sich immer wieder entziehen muss. Vielleicht ist sie einfach noch zu unschuldig. Gelegentlich hat er sie sagen hören, dass sie sich ein normales Leben mit ungefähr zwei Kindern wünscht. Natürlich ist ihr aufgefallen, wie peinlich er die Nachstellungen der einen oder anderen Hofdame flieht, die sich mit seiner offiziellen Vergebenheit nicht abfindet. Manch eine, die es genau wissen will, kommt nachts an seine Zimmertür; doch merkt er schon an dem verschämten Klopfen, dass es eine Frau ist, und tut dann so, als wäre er nicht da oder schliefe schon. Sogar die Königin Gertrud äußerte hinter vorgehaltener Hand ihr Bedauern, dass sie ihm nicht die eine oder andere ihrer Favoritinnen zuschanzen kann. Es sind die reizendsten Geschöpfe von der Welt, aber was soll ihm das, wenn zu Hause Isolde sehnsüchtig seiner harrt? Es liegt wie ein beständiger unanständiger Kitzel in der Luft. Ophelia aber merkt es nicht oder tut so, als würde sie es nicht merken.

Intelligenz und Sinnlichkeit sind teilweise formbar, Schönheit aber ist angeboren. Er selber sieht sich nicht ungern im Spiegel, sagt sich aber, dass es, was seine Körpergröße betrifft, ruhig noch ein paar Zentimeter mehr sein könnten. Aber auch wenn er nicht so wie die athletischen Stars ist, die auf den Arenen und Bühnen Dänemarks triumphieren, kann er es als ,Mann' wohl mit ihnen aufnehmen. Es gibt ein Miniaturporträt von ihm als kleiner Junge, mit auffallender Stupsnase, um das man ihn schon von mehreren Seiten her bat. Er konnte sich aber nie davon trennen. Fast glaubt er manchmal, auf Hamlets Seite eine Art eifersüchtigen Neid zu bemerken. Das macht ihn verlegen und stört ihre Freundschaft. Wie kann er unbefangen bleiben, wenn er ständig unter eifersüchtiger Beobachtung steht? Manchmal fühlt er sich wie in der Nähe eines Pädophilen, der ein Auge auf ihn geworfen hat.

Es erinnert ihn an die Freundschaft zweier Vierzehnjährigen, von der er bei einem deutschen Erzähler las: Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu betrachten, spielt eine wichtige Rolle in Hamlets Liebe zu ihm. Er liebt ihn zunächst, weil er schön ist; dann aber, weil er in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erscheint. Darin steckt, auch wenn sie keine vierzehn mehr sind, ein Gutteil des Geheimnisses ihrer Freundschaft.

Die durch Hamlets Werbung naheliegende Aussicht, einmal Dänemarks Königin zu werden, ist für Ophelia sicher nicht ohne Appeal und überlagert ihre natürlichen Gefühle. Was kann ihr, die früh ihre Mutter verlor und deren Bruder sich meist in der großen Welt von Paris herumtreibt, Besseres passieren, als sich dem Prinzen und kommenden König zu vermählen, den sie von Kindheit an verehrt und bewundert? Fast muss Henri an Hussein und Vanessa denken. So gehen ihre Liebe und ehrgeizigen Hoffnungen auf ideale Weise zusammen. Horatio kann es ihr nicht verdenken und will sich ihre Freundschaft so lang wie möglich erhalten. Nicht dass er – schon Isoldens wegen – absichtlich ihre Gesellschaft sucht, er hat aber auch nichts dagegen, wenn es sie danach verlangt. Dann ist das Zusammensein mit ihr jedesmal eine Lust, die er sich kaum eingestehen darf. Was ist Treue? Warum kann man nicht gleichzeitig zwei Frauen lieben?

Liebe, denkt er, ist eine Willensentscheidung. Man entschließt sich, eine Frau zu lieben, und schließt dadurch alle anderen aus. Eine Myriade liebenswürdiger Geschöpfe wird bewusst ausgeblendet und darf keine Rolle mehr spielen. Liebe ist eine Sache der Vernunft, nicht der Sinne. Die Anarchie des Blutes besteht unverändert daneben fort.

Außerdem ist sie blitzgescheit, wie er bei ihren Lektionen feststellt. Der Kämmerer, der um seine Studien in der Bibliothek weiß, tritt jedesmal, wenn er von Wittenberg her zu Besuch ist, aufs Neue auf ihn zu, damit er ihr – über ihre Lehrer am Hofe hinaus, mit denen sie nicht zufrieden ist – den einen oder anderen Zusatzunterricht gibt. Bestimmt will er sich dadurch, dass er seinen Freund ehrt, auch beim Prinzen einschmeicheln. Er selbst hat in seiner Studentenzeit Theater – unter anderem den Iulius Caesar – gespielt, wodurch er ein gewisses Verhältnis zum, wie er es nennt, ,Schöngeistigen' hat.

Er sei auf dem Kapitol umgebracht worden – Brutus habe ihn umgebracht –, beliebt Polonius zu scherzen und zitiert gern die Stelle aus dem Anfang des zweiten Akts, wo der Verschwörer, seit er den Mord an Caesar plant, kein Auge mehr zutut. Zwischen einer grauenvollen Tat wie dieser, und dem ersten Gedanken daran, sei alle Zwischenzeit wie ein Phantasma oder grauenvoller Traum. Und der Alte deklamiert:

Seit Cassius mich spornte gegen Caesar,

Schlief ich nicht mehr.

Bis zur Vollführung einer furchtbarn Tat

Vom ersten Antrieb, ist die Zwischenzeit

Wie ein Phantom, ein grauenvoller Traum.

Der Genius und die sterblichen Organe

Sind dann im Rat vereint; und die Verfassung

Des Menschen, wie ein kleines Königreich,

Erleidet dann den Zustand der Empörung.

Insurrektion – Aufstand, Volkserhebung – im Original. Der ,Genius' ist die menschliche Vernunft, das souveräne Ich, das vor einer solchen Tat zurückschreckt; die ,sterblichen Organe' sind die körperlichen Werkzeuge zu ihrer Realisierung. Beides liegt dann im Konflikt miteinander, und die menschliche Seele, die aus beidem besteht, ist gleichsam wie im Bürgerkrieg ihrer selbst. Horatio, der Hamlet täglich um sich hat, fragt sich, welch seelischen Aufruhr die geplante Rache an Claudius in ihm erzeugen muss. Findet er überhaupt noch Schlaf?

Opheleia heißt griechisch ,Hilfe', und so nennen sie es spaßeshalber ,Nachhilfe', wenn er Ophelia opheleia gibt. Sie ist immer guter Dinge und kann es kaum erwarten, ihm ihre Probleme vorzulegen. Sie hat bei aller Weiblichkeit Ehrgeiz und will es sichtlich zu etwas bringen. So deckt sie ihn querbeet mit allen möglichen Fragen ein, die, wie sie findet, von ihren scholastischen Magistern nicht, oder nicht befriedigend, beantwortet werden. Es ist aber auch nicht gerade ein Tycho Brahe am Hof. Manchmal, wenn sie so neben ihm sitzt und er im engen Mieder ihre jungen Brüste aufknospen sieht, muss er an sich halten, dass ihm nicht der Atem wegbleibt. Seine Stimme hat dann manchmal eine Art unseliger Heiserkeit, und er hält eine Weile den Mund, bis er sich wieder gefangen hat. Das fehlte noch, dass er sie mit belegter Stimme belehrte!

Sie selber hält ihn für so beschlagen, dass sie sich offenbar gar keine Frage vorstellen kann, die er nicht beantworten könnte. Er muss sich wappnen, um sie nicht zu enttäuschen. So kommt er auf alle Fragen, auf die er aus dem Stand keine Antwort hat, gelegentlich wieder zurück, nachdem er sich zwischenzeitlich kundig machte. Natürlich ist sie toujours religiös erzogen und nicht so weit, ihre Intelligenz kritisch auf die eigene Prägung anzuwenden. Sie schreckt wohl auch intuitiv davor zurück aus Angst, mit den naiven Glaubensvorstellungen ihrer Umgebung in Konflikt zu geraten. Das steht aber nicht störender zwischen ihnen als eine spanische Wand. Er hält sich, wenn sie aus der Schlosskapelle kommt, diskret zurück und behält sich vor, das Versäumte gegebenenfalls auf ihren Wunsch nachzuholen. Allen anderen Problemen gehen sie weitgehendst auf den Grund, mit Ausnahme vielleicht jener Stellen aus der modernen Literatur, die sie nicht unbedingt verstehen muss. Sie übersetzen den römischen Virginia-Mythos und schrecken auch vor der Schändung Lucretias nicht zurück. Denn: Die Geschichte ist, so der Autor des Danton über die französische Revolution, vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist. Kurz, er erklärt ihr die eine oder andere verfängliche Stelle aus der Literatur immer erst dann, wenn sie ihn ausdrücklich darum bittet, was allerdings selten vorkommt. Entweder will sie es gar nicht so genau wissen, oder sie weiß schon mehr, als er es sich vorstellt. Wie souverän sie wirklich ist, merkt er erst an ihrem Verhalten den Frivolitäten Hamlets gegenüber. Irgendwie ist es, als ob er von ihrer Keuschheit angesteckt würde, was aber seiner eigenen Einstellung entgegenkommt.

Ob sein Unterricht wirklich gut für ihre Seele sei? wollte ihre Mutter, als sie noch lebte – die Stute, die ihr Fohlenfüllen führt –, einmal wissen, wobei sie unter ,Seele' naiv die unsterbliche ihrer Vorurteile verstand. – Bestimmt sei sein Unterricht um so besser für den Verstand! gab das schlagfertige Mädchen zurück. Er selbst hätte sich nicht besser verteidigen können. Wie dem auch sei, ihre Wissbegier und ihr Drang nach Wahrheit sind unwiderstehlich.

Jetzt, da der Prinz verrückt spielt, schließt sie sich noch stärker an ihn. Neulich kam sie ganz verstört zu ihm auf seine Kammer im Schloss, so außer sich, wie er sie noch nie gesehen hat. Sie trug eines von ihren schmucken, goldbetressten Kleidern, die bis auf den Boden reichen und das Entzücken ganz Helsingörs sind. Das leuchtend blonde Haar fiel ihr lose bis auf die Hüften, die heiteren Züge ihres Gesicht, auf dem er Spuren verwischter Tränen zu sehen glaubte, aber waren in bleicher Unordnung und Verwirrung, wie aufgelöst.

Ob er, lieber Horatio, etwas Zeit für sie hätte? fragte sie mit erstickter, etwas verschämter Stimme.

„Für dich immer“, sagte er, vielleicht seiner Betroffenheit wegen, unwillkürlich salopp. So aufgewühlt hat er sie noch nicht gesehen. „Was gibt es?“

„Oh, lieber Horatio, ich bin entsetzlich bestürzt!“, sagt sie.

„Wodurch denn, in Gottes Namen?“ In der Not des Augenblicks verfällt er auf die sinnlose Formel.

Es gehe um den Prinzen. Sie sei schon bei ihrem Vater gewesen, der aber half ihr kaum, ihr Herz zu erleichtern. Doch seien sie gemeinsam freund mit Hamlet, vielleicht könne er, Horatio, ihr raten. Und sie berichtet ihm den ganzen Hergang. Sie war gerade mit Nähen beschäftigt – für das sie bei allen hochmögenderen Zielen noch Zeit fand –, allein auf ihrem Zimmer, als plötzlich, ohne anzuklopfen, der Prinz erschien und nah vor sie hintrat. Um nicht zu sagen, sich vor ihr aufpflanzte. Er pflanzte sich nämlich ganz penetrant vor ihr auf. So, wie er war, habe sie ihn noch nie erlebt, so aufgelöst, sein tintenschwarzes Wams weit aufgerissen, ohne etwas auf dem Kopf, die Gamaschen lose, so dass ihm die Strümpfe nachlässig über die Knöchel hingen. Das Antlitz bleich wie sein Hemd, die Knie schlotternd, mit einem Blick so jammervoll, als wäre er geradenwegs aus der Hölle entsprungen, um deren Greuel kundzutun. So stand er vor ihr.

Sie führt ihm den Anblick so anschaulich vor Augen, dass ihm an Freundes Statt die Schamesröte ins Gesicht steigt. Was war das? Er kann es sich nur so erklären, dass der Prinz von der verzweifelten Lage, in die er durch die Erscheinung des Geistes versetzt war – und von der er der jungen Ophelie nichts verraten durfte –, ganz plötzlich überwältigt wurde. Vielleicht wurde ihm erst jetzt wirklich klar, wie ausweglos seine Situation wirklich ist. Und in einem jener Momente verzweifelter Panik, die ihn dann und wann überkam, hatte er sich nicht mehr zu helfen gewusst und Zuflucht bei seiner Geliebten gesucht. Da Ophelia seinem Herzen am nächsten ist, oder sein könnte, floh er direkt zu ihr, um sein Herz zu erleichtern.

Das aber durfte er nicht – „Doch brich mein Herz, denn schweigen muss mein Mund!“, hat Horatio ihn sagen hören –, und so kam es wohl zu einer Art psychischem Stau oder Verhaltung, die ihn außer sich brachte. Zu einem Gefühlsstau, bei dem er, anstatt expressiv aus sich herauszugehen, gleichsam innerlich und seelisch implodierte.

Was er bloß habe? rätselt sie. Was hat sie ihm getan? Ihr Vater habe es seine notorische ,Verrücktheit' genannt und sofort auf die Ursache getippt: „Verrückt aus Liebe zu dir?“, habe er gefragt. Was sollte sie sagen?

Sie könne es sich nicht vorstellen, sagt sie. Ein Kavalier benimmt sich doch nicht so. Sie wisse es nicht! wiederholte sie, sie habe ihm keinerlei Anlass gegeben. Allerdings könne sie, angesichts aller sonst fehlenden Gründe, nicht ausschließen, dass es doch mit ihr zu tun habe.

Ein groteskes Missverständnis! denkt Horatio, da der Mord ja nicht das Geringste mit ihr zu tun hat. Doch kann auch er sie nicht weiter ins Bild setzen, die Sache ist zu gefährlich. Wer weiß auch, welche Auswirkungen des Prinzen Verzweiflung sonst noch auf seine Verliebtheit hat? Gewiss hat durch den grauenhaften Alb, der auf ihm lastet, auch seine Libido einen empfindlichen Dämpfer erlitten.

Ob der Prinz auch etwas sprach? habe der Vater erfragt.

Nicht wirklich, sagte sie. Er habe sie am Handgelenk gefasst und sie festgehalten. Dann lehnte er sich zurück, so weit sein Arm reichte – sie macht es gestisch nach –, und mit der andern Hand so überm Auge – so – sah er ihr prüfend ins Gesicht, so prüfend, als ob er's zeichnen wollte. So stand er lange da.

Warum das? fragt sich Horatio; schließlich ist ja nicht das Mädchen der Mörder.

Zuletzt dann, mit einem kleinen Schütteln ihres Arms, wobei er dreimal seinen Kopf hin und her schaukeltte – so –, gab er einen so tiefen und beklommenen Seufzer von sich, als sollte es seinen ganzen Körper zertrümmern und all sein Dasein enden. Dann ließ er sie endlich los – und so, den Kopf über die Schulter zurückgedreht – so, sie macht es nach –, ging er zurück zur Tür, ganz ohne auf den Weg zu achten. Und ging hinaus, ohne Zuhilfenahme seiner Augen, deren liebes Licht bis zuletzt auf sie gerichtet blieb.

Was war das? Wollte er ihre Treue von der Stirn ablesen? Fürchtet er, die gleiche Enttäuschung wie bei seiner Mutter könnte ihn auch mit ihr passieren? Das arme Kind. Was soll sie davon halten?

Lieber wäre es ihr, er wäre ihr zu nahe getreten, sagt sie, als ihn in dieser Verstörtheit zu sehen. Das sage sie aber nur ihm.

Das ist ihr gutes Herz. Sie liebt ihn wirklich. Dennoch muss sie der Vorfall ziemlich mitgenommen haben, wenn sie sich zu so einer Bemerkung hinreißen lässt, wie er sie von ihr nicht gewärtigt hätte. Sie ist fürchterlich vor den Kopf gestoßen.

Was soll er sagen? Es ist demütigend, das Mädchen, an dessen Aufklärung ihm am meisten liegt, gerade in diesem Moment im Stich lassen und zum Verräter an ihrer Intelligenz werden zu müssen. Verständlich, dass sie über Hamlets Benehmen außer sich ist. Hat er vielleicht „psychische Zustände“? fragt sie mit einem Wort, das er schon einmal irgendwo gehört hat.

Henri kennt das, und denkt an Inga. Das ist der Punkt, wo ein Mann seine Frau verliert. Wenn ihr jetzt ein anderer auf anständige Weise den Hof macht, könnte sie ihm leicht abtrünnig werden. Aber noch würde es keiner am Hofe wagen.

Sie ist hinreißend schön in ihrer Verzweiflung und sehr verführerisch. Er wird sich bewusst, wie seine Hand, um sie zu trösten, unwillkürlich nach ihrer Schulter, das schmale Vorgebirge ihrer zärtlichen Gestalt, zuckt, und hält sie im letzten Moment zurück.

Er stellt sich den Freund vor, dessen schwer belastetes Gemüt auch bei der Geliebten keine Erleichterung findet. Aber ist das nötig? Ist er nicht Manns genug, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Genügt nicht seine, Horatio's, Freundschaft, um diesen Albtraum zu teilen? Muss er auch noch das unschuldige Mädchen mit in den Fall hineinziehen?

War es eine Übersprungshandlung, bei der er seine Enttäuschung durch seiner Mutter Treuebruch mir nichts dir nichts auf seine Geliebte übertrug? Hat es sein Frauenbild überhaupt affiziert?

Zog die Enttäuschung durch Gertrud – „Schwachheit, dein Nam' ist Weib!“, hat er ihn sagen hören – sein Frauenbild so generell herab, dass sie seine eigene Liebe zerstörte? Horatio versteht ihn nicht. Was hat das mit Ophelien zu tun? Scheint deren Tugend doch gerade so, wie der Geist auf der Terrasse sie idealiter geschildert hat: die sich nicht reizen lässt, und buhlte Unzucht auch in himmlischer Gestalt um sie!

Warum das ganze Geschlecht verdammen, wo es nur um die Schwachheiten einer darbenden Witwe ging? Ist er so verletzt, dass er alle Objektivität verliert und nicht mehr zwischen einer und der andern unterscheidet? Schlägt er den Sack, wo er den Esel meint? Ist ihre beider Freundin Opfer eines moralischen Kollateralschadens? – Das ist nicht erlaubt, denkt er und nimmt sich vor, ihm, auch wenn das sonst nicht seine Art ist, bei passender Gelegenheit deswegen ins Gewissen zu reden.

Vermutlich quält ihn etwas, was sie nicht wissen und er ihnen nicht sagen will? mutmaßt Horatio zum Schein. Vielleicht sei es seines Vaters plötzlicher Tod sowie die kurz darauf folgende Wiederverheiratung seine Mutter, was ihn so verstöre? – Soviel darf er andeuten, mehr darf er ihr momentan nicht verraten. Wie denn ihr Vater auf die Geschichte reagierte? will er wissen, als ob das eine Lösung brächte.

Er habe sie gleich zum König bringen und ihm alles berichten wollen, sagt sie. Dies sei seiner Meinung nach die echte Schwärmerei der Liebe, deren hektische Natur sich selbst zerstört und zu solchen verzweifelten Szenen führt wie irgendeine Leidenschaft unter dem Mond. Der König müsse es spätestens jetzt erfahren, meinte er, hätten sie Hamlets Zärtlichkeiten bis dato auch vor ihm geheim gehalten. Es weiter zu vertuschen, brächte mehr Unglück als Unannehmlichkeiten, es offenzulegen. Ob sie Hamlet letzthin ein hartes Wort gegeben habe, das ihn so verstörte?

Nein, sagte sie, nicht dass sie wüsste. Nichts außer dem, was der Vater selbst gewünscht hatte. Sie habe nur, wie ihr geheißen, Hamlets Briefe zurückgewiesen und ihm den Zugang zu ihr verweigert. Der Kämmerer, der um ihre Ehre nicht minder besorgt war als um die ihres Bruders, befürchtet nämlich, der Prinz könne es mit seiner Neigung nicht ernst genug meinen, sondern nur ein schlüpfriges Spiel mit ihr treiben.

Sie selber, so Ophelia, habe nicht das Gefühl, als ob es dem Prinzen nicht ernst wäre. Das habe nun endlich auch der Vater verstanden. Im Nachhinein bereue er seine Strenge. Es täte ihm Leid, sagte er, dass er die Sache nicht mit mehr Behutsamkeit und Rücksicht behandelt habe. Er sei wahrhaftig besorgt gewesen, der Prinz tändle nur mit ihr und wolle sie womöglich ins Unglück stürzen. Vermaledeiter Verdacht! Beim Himmel, einem alten Mann wie ihm sei es wohl ebenso eigen, im Argwohn übers Ziel hinaus zu schießen, als den Jungen der Mangel an Vorsicht! Das wollte er gleich mit ihr vor den König bringen.

Sie habe sich aber geschämt, mitzugehen, und lieber erst ihm, Horatio, alles sagen wollen.

Wie der König es aufgenommen habe? fragt er noch, um sie, weil das nichts weiter mit ihrem Kummer zu tun hat, auf andere Gedanken zu bringen … –

Heine hardcore I - Die späten Jahre

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