Читать книгу Ein Fall von Borderline - Frida Kopp - Страница 7

Traumbilder

Оглавление

Die Frau hält eine Rose in der Hand. Es ist dunkel, als hätte sich, während sie vergebens auf jemanden gewartet hat, um sie herum eine riesige Leere ausgedehnt.

Der Panther springt auf sie zu, mit seiner Rose im Maul. In einigen Metern Distanz zu der Wartenden stoppt er seinen geschmeidigen Lauf, legt die Blüte nieder und springt davon, wobei er sich immer wieder umschaut. Wie ein harmloses Kätzchen, das ein anderes zum Spielen auffordert. Langsam und vorsichtig, als müsse sie bei jedem Schritt den Weg vor sich mit ihren Füßen ertasten, folgt die Frau, bis sie an einem Ufer stehen bleibt. Plätschern ist zu hören... und dann sieht sie ihn ganz deutlich. Oder doch nicht? Nein, das ist kein Panther... eher ein Fischotter, der sich im Wasser tummelt und sie immer wieder anschaut, als wolle er sie zum Mitmachen einladen. Mit einem Salto taucht er plötzlich ab, und diese Bewegung erzeugt kleine Wasserwirbel. Die Frau steht reglos da, bis die Oberfläche sich wieder glättet. Der Otter bleibt verschwunden, das einzige, was ihr entgegen blickt, ist ihr Spiegelbild.

Ziemlich spät am Morgen starre ich missmutig in meinen Kaffee. Es erfordert einen richtigen Kraftaufwand, mich vom Tisch hoch zu hieven und ein Glas mit Leitungswasser zu füllen. Ich nippe daran und stelle es auf den Tisch, dazu lege ich die überfällige Telefonrechnung plus Notizpapier und Stift. Die erste Liste ist schnell fertig: Kaffee, Brot, Spaghetti, Butter, Käse und Obst. Vor der zweiten zögere ich.

Was ich gern hätte, sind diese neuen Metallic-Farben, ideal für Lichteffekte... Aber ich brauche auch Keilrahmen. Oder soll ich mich wieder auf's Schreiben verlegen? Weil es weniger kostet. Wie früher... Wenn ich so zurückschaue, bin ich noch immer dankbar für meinen ersten Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Ganz bestimmt nicht wegen der Pillen, mit denen sie mich vollgestopft haben, sondern weil ich dort die Möglichkeit hatte, mich an ganz verschiedenen Ausdrucksmedien zu versuchen. Es war so etwas wie meine erste Befreiung, mein erstes Eintauchen in den Fluss der Kreativität. Nach meiner Entlassung entschwanden Töpfern und Malen wieder aus meinem Leben, das erste ganz und gar (bis jetzt), das Malen wurde auf Zeichnen reduziert, bis ich mir endlich eigenes Material leisten konnte. Dafür sprossen aus meinem therapeutischen Tagebuch bald die ersten Gedichte und Kurzgeschichten.

Energisch schüttle ich den Kopf: Zurück zu meiner Liste. Nein, ich werde mich nicht mit einer einzigen Ausdrucksform begnügen! Und den Kaffee streiche ich auch nicht von der Liste! Vor lauter Ärger über die kleinliche Rechnerei haue ich mit der Faust auf den Tisch — und das Glas kippt um! Spontan will ich nach dem Spültuch greifen, halte aber mitten in der Bewegung inne. Das Wasser, das vom Tisch auf den Fußboden tröpfelt, bringt den Traum der letzten Nacht zurück. Den Otter sehe ich so lebendig vor mir, dass mir unbegreiflich bleibt, wie ich ihn vergessen konnte. Mein Abbild im Wasser... Eigentlich ein interessantes Motiv — aber mir fehlt jede Neigung, mich an einem Selbstporträt zu versuchen. Nicht einmal, wenn es wasser-verschwommen ist.

Ich gehe nach nebenan, in das ursprüngliche Wohnzimmer, das sich nach und nach in mein Atelier verwandelt hat. Meine Behausung ist ohnehin nicht gerade das Übliche — passt also wunderbar zu mir. Früher war das mal eine Werkstatt; durch den Eingang kommt man in einen winzigen Flur, eigentlich nur ein Windfang, der praktisch nur aus Türen besteht: Die linke führt ins Bad, das sogar den Luxus einer Wanne bietet. Ich muss zugeben: Wäre ich selbst für diesen Umbau verantwortlich — ich hätte wohl eine Duschkabine in die Küche gequetscht. Aber ich bin froh über den Reinlichkeitssinn, den ich als Ursache dieser Luxusvariante vermute. Oder einen ausgeprägten Sinn für's Praktische: In einer Wanne kann man auch mal ein paar Klamot-ten waschen, um sich das Waschcenter zu ersparen. Aber vielleicht liege ich auch total daneben und es ging wirklich um Lebensgenuss?

Rechts geht's in die Küche, die gerade groß genug ist, um mit einem Klapptisch und ebensolchen Stühlen als Wohnküche zu dienen. Und geradeaus: Mein Atelier plus Schlafzimmer, aus dem ein Klappsofa samt Sessel, vom Vormieter übernommen, längst rausgeflogen sind, ebenso wie eins der Regale, um Platz zu schaffen für einen spartanischen Futon und ein paar Sitzkissen. Und für das Wichtigste: Zwei Staffeleien. Dann ist da noch der gute alte Kachelofen. Was weniger gut ist: Die Isolierung. Im Winter ist es kalt — es sei denn, ich heize auf Teufel komm raus und halte mich in Ofennähe auf. Aber was soll's! Es gibt warme Pullover und Jacken, und überhaupt: Jetzt ist Sommer, und wenn ich auch leider keinen Garten habe, nicht mal einen ganz kleinen, habe ich aus diesem Mangel doch das Beste rausgeholt, indem ich auf dem schnöden Asphalt Töpfe mit Kräutern und Kübel mit Tomaten bepflanzt habe. Ich ziehe kurz in Erwägung, auch weitere Gemüsepflanzen auf meine Liste zu setzen. Wie wär's mit Paprika? Nein! Das Wichtigste zuerst: Der Skizzenblock ist ziemlich abgemagert — ein Fall für Liste zwei. Während ich auf das vorletzte leere Blatt starre, schaue ich innerlich dem Otter bei seinen Wasserspielen zu. Und ganz allmählich ist es, als würde ich mich mit Hilfe eines Garnknäuels ins Innere eines Labyrinths vortasten: Wie im Traum verschwindet der Otter und ich sehe nur noch den Fluss, diesmal ohne Spiegelbild. Doch aus dem schattigen Wald im Hintergrund lugt ein Kopf hervor, dem ein geschmeidiger Körper folgt. Der Panther setzt an zu einem Sprung — und er scheint geradezu die Grenze des Wassers zu überfliegen.

Kein Wunder, dass ich von ihm geträumt habe: Schließlich hat sich Mister Banker für den einzigen Ausreißer meiner Phantastik-Serie entschieden. Alle anderen zeigen Wolfsfrauen, in unterschiedlichen Stadien des Übergangs zwischen Wolf und Mensch. Als Vorlage dafür hat mir ein englischer Roman gedient, gerade erst erschienen und noch nicht übersetzt. Womit ich dem Tipp eines Sprachkünstlers gefolgt bin, der mir Illustrationen als Einnahmequelle nahegelegt hat. Auf die Lektüre entsprechender Romane habe ich mich wirklich gefreut, auf Gestaltwandel und Phantasie-Reisen in Gegenwelten, doch während ich mich durch einige Bücher hindurch gelesen habe, wurde ich der vielen Wölfe und Vampire schnell überdrüssig. Immer nur von Mensch zu Wolf und wieder zurück, Vampire, die auf anderer Menschen Energie aus sind... Da gefällt mir mein Traum der letzten Nacht schon besser. Ja, ich habe Lust auf eine dieser Traumszenen. Das letzte noch unfertige Motiv der Werwolf-Serie, das auf seine Vollendung wartet (so weit so etwas überhaupt möglich ist), wird sich gedulden müssen.

Aber womit beginnen? Ich fühle mich hin und her gerissen. Die Geschmeidigkeit, mit der sich dieser Traum-Panther bewegt, macht mich fast neidisch. Das wirkt so mühelos, während ich oft, zu oft von dem Gefühl geplagt werde, um mein Überleben kämpfen zu müssen. Nein, ganz entschieden kein Wasserspiegelbild. Also der Otter. Dessen spielerische Freude weckt keinen Neid. Andererseits — der Panther passt nun einmal gut in meine jüngste Serie...

Was den Ausschlag gibt, sind die Farbvorräte.

In der letzten Zeit habe ich mich vor allem auf das Zeichnen mit Kohle konzentriert, das ich wegen der harten Schraffuren liebe, und auf das Malen mit Acrylfarben, wegen der Intensität. Anfangs habe ich auch mit Aquarellfarben experimentiert — für kurze Zeit. Damals waren sie mir wohl zu vage, zu unbestimmt. Für Wasser und das Wechselspiel von Licht und Wellen könnten sie jedoch ideal sein. Ich wühle mich durch zwei Kartons — nur um festzustellen, dass der Bestand mehr als dürftig ist. Also zurück in die Küche zu Liste zwei. Eine ganze Weile sitze ich davor, den Stift in der Hand — doch der Zettel bleibt leer. Schließlich greife ich zu meinem Tresor, nehme den Umschlag heraus und daraus einen einzigen Schein. Den Rest stecke ich wieder zurück und befördere die Dose mit einem lautem Knall ins Regal, als Bekräftigung meines Vorsatzes: Das wird nicht für Essen verschleudert!

Während der Fahrt mit dem Rad habe ich in Gedanken schon mein neues Bild entworfen, weshalb ich mir nicht mal die Zeit nehme, meine Einkäufe auszupacken. Was ich allerdings sorgfältig in ein Glas stecke, — beinah hingebungsvoll, als wäre ich eine Ikebana-Künstlerin — das sind die unterwegs gepflückten Zweige von diversen Laubbäumen, wegen der so unterschiedlichen Abstufungen von Grün. Welche Vielfalt!

Endlich erlebe ich wieder, was mir während der Serie, mit der ich mich als Illustratorin beworben habe, nur selten vergönnt war: diesen kreativen Höhenflug, den ich selbst als künstlerischen Rausch bezeichne. Alles, was nicht unmittelbar zu tun hat mit Sehen, mit Farbe, mit der Hand, die den Pinsel führt, ist ausgeblendet. (Und auch in finanzieller Hinsicht ist es gar nicht übel, mal eine oder zwei Mahlzeiten zu übergehen.) Fast fühle ich mich wie mein Panther auf der Pirsch. Wenn dieser Traum auch keinerlei Hinweis auf menschliche Ansiedlungen enthielt, habe ich jenseits des Flusses ein einzeln stehendes Haus und eine Laterne angedeutet — damit sich die Lichter im Wasser spiegeln können. Vor allem sollen sie das Fell des Panthers zum Glänzen bringen, der wie ein Schattenwesen in einem einzigen langen Satz über den Fluss schwebt.

Während ich so ganz in mein Tun versunken war, hat sich die Sonne gen Westen bewegt, und irgendwann bemerke ich doch das schwindende Tageslicht, zu diffus zum Malen. Ich schalte die Stehlampe ein, die leider nicht gut zum Strahler taugt, und trete zwei Schritte zurück, um das Bild aus der Distanz zu betrachten. Au weia! Klar, ich weiß, dass ein Bild niemals exakt der ursprünglichen Vorstellung entspricht. Aber in diesem Moment fühle ich mich, als würde ich im freien Flug abstürzen!

Das Bild ist viel zu hell, zu leuchtend, fast schon grell. Schließlich habe ich mir die Zeit der Abenddämmerung vorgestellt, wenn der Himmel dieses sagenhafte Blau kurz vor dem Dunkelwerden zeigt. Die diversen Grüntöne der Bäume im Hintergrund sollen gerade noch zu unterscheiden sein.

Vernünftig wäre es, die letzten Lichteffekte und Schattierungen auf morgen zu verschieben. Aber ich bin ungeduldig. Um meinen Magen zu besänftigen, leere ich rasch ein großes Glas Wasser und tue das, was ich sonst vermeide: Draußen malen. Vor allem deshalb, weil ich nicht scharf darauf bin, dass meine Vermieterin ankommt, um sich zu erkundigen, was ich denn Schönes mache. Nichts gegen meine Vermieterin, sie ist ganz in Ordnung — aber dass ich nicht gleichzeitig malen kann und höfliche Konversation pflegen, das wird sie kaum verstehen.

Praktischerweise kann ich Staffelei und was ich sonst noch brauche, durch's Fenster nach draußen befördern, wo ich mich wieder ans Werk mache. Als ich schließlich einen Schritt zurück trete, wird mir klar, dass ich es mit der Schattierung übertrieben habe. Jetzt ist der Hintergrund nur noch ein vermatschtes Grau-Grün. Nein, das sind nicht mehr die sanften Übergänge der Dämmerung, woraus die Pantherin wie ein magisches Wesen hervor springen sollte. In meiner Phantasie existiert dieses Wesen tagsüber als pure Energie. Erst während der Dämmerung beginnt es, einen Körper zu manifestieren, indem es sich aus dunklen Farbpartikeln selbst zusammensetzt. Wenigstens das Fell ist mir einigermaßen gelungen. Dort, wo es das Licht reflektiert, scheint es von innen heraus zu strahlen, während die mattgrauen Flecken dazwischen wie Öffnungen sind zum körperlosen Sein. Für eine Gestaltwandlerin jedoch ist das schon zu viel Substanz, um so mühelos wie ein Vogel über den Fluss zu gleiten.

Spät am Abend, nach einer Mahlzeit aus Nudeln mit Zwiebeln und Parmesan, überlege ich, ob ich das Bild wieder aufhelle oder doch lieber ganz von vorn anfange. Ich tendiere zu Letzterem — so ein Murkelkram als Auftakt einer neuen Reihe?! Wenn ich allerdings meine Phantasie, die ich während des Malens ausgebrütet habe, gestalten will, dann müsste ich auch noch den körperlosen Tag-Panther hinkriegen. Den stelle ich mir wesentlich schwieriger vor. Okay, da gibt es noch eine andere Idee, die schon gelegentlich während der Phantastik-Serie aufgetaucht ist. Die allerdings habe ich beharrlich abgeblockt. Warum schreibe ich nicht selbst so einen Roman? Eine Pantherfrau als Heldin wär' doch mal was anderes als die ewigen Werwölfe... Was allerdings das Erzeugen von Bildern mit Worten betrifft, da habe ich mich bisher auf Kurzformen beschränkt. Ein ganzer Roman kommt mir eine Nummer zu groß vor. Oder sollte das die nächste Grenze sein, die mich herausfordert?

Ein Fall von Borderline

Подняться наверх