Читать книгу Ein Fall von Borderline - Frida Kopp - Страница 8

Grenzüberschreitungen

Оглавление

Es mag sonderbar klingen, sogar paradox, aber meine wichtigsten Grenzüberschreitungen haben begonnen, als ich in der Psychiatrie eingesperrt war. Mein erster stationärer Aufenthalt, noch in jugendlichem Alter, hat mich aus dem Elternhaus heraus katapultiert. Weniger gut war, dass mir, zusammen mit Medikamenten, die mich in eine Art Zombie verwandelten, die Diagnose paranoide Schizophrenie verpasst wurde. Ehrlich gesagt: Ich bewundere mich selbst ein wenig dafür, dass ich trotzdem getöpfert und mit Farben rumgeschmiert habe. Nach meiner Entlassung bin ich brav zur Gesprächstherapie gegangen, die Pillen hingegen habe ich bald verweigert. Womit ich mir einen ersten kreativen Sprung beschert habe — aber beschissen ging es mir trotzdem. Was mich, wenn ich so zurück schaue, kein bisschen erstaunt: Schließlich mussten all die Ängste, die meine Mutter so erfolgreich in mich hineingestopft hatte, irgendwie an die Oberfläche kommen. Über die miesen Gefühle half ich mir mit Alkohol hinweg. Was allerdings nicht lange funktionierte, denn wenn ich nicht trank, wuchsen die Ängste ins Riesenhafte. Einigermaßen auf Abstand halten konnte ich sie nur mittels Tagebuch und Skizzenblock. Meine bevorzugte Farben waren sämtliche Graustufen bis hin zum Schwarz, meine liebsten Motive Chimären.

Irgendwann beförderte mich mein Hang zur Selbstbetäubung zurück in die Klinik. Die Ärzte hoben nicht etwa die erste Diagnose auf — die wurde einfach nur ergänzt, durch Alkoholmissbrauch. Natürlich wurde ich auf's heftigste ermahnt, schön brav meine Zombie-Pillen zu schlucken und auf gar keinen Fall mit Alkohol zu mixen. Ich nickte brav und beschloss stillschweigend, die erste Order baldmöglichst zu boykottieren. Was Alk betraf, gab ich mich zerknirscht und gelobte Gehorsam. Schließlich hing die Drohung des betreuten Wohnens über mir. Aber die echte Motivation lieferte mir einer dieser Spiegel-Effekte: Während ich andere Patienten sah, die durch eine ganze Mixtur von Psycho-Pillen ruhig gestellt wurden, traf mich hammerhart die Erkenntnis: Mit dem Versuch, meine Ängste zu ertränken, hatte ich mir fast genauso übel mitgespielt, als hätte ich die ganze Zeit seit meiner ersten Entlassung die ärztlich verodnete Dröhnung geschluckt. An diesem Punkt wollte ich nur eins: Endlich einen klaren Kopf!

Meinen großen Durchbruch (nein, leider nicht in der Kunst, aber immerhin habe ich es zu einigen kleinen Ausstellungen gebracht) in Sachen Psychiatrie sollte erst mein dritter Klinik-Aufenthalt bringen.

Der Psychologe war mir irgendwie suspekt. Er gab sich dermaßen distanziert, als wäre er von der Angst geplagt, sich die mentalen oder emotionalen Störungen der Patienten einzufangen wie einen Virus. Während er seine Ankündigung vom Stapel ließ, er habe möglicherweise eine Erklärung dafür, warum ich bereits aus verschiedenen Anlässen in der Psychiatrie gewesen und mit ebenso verschiedenen Diagnosen wieder entlassen worden sei, beschäftigte ich mich mit dem Rätsel, was diesen Mann wohl zu seiner Berufswahl getrieben haben mochte. Doch meine Spielerei mit Vermutungen war sofort vergessen, als er, nach einer Wiederholung all dessen, was er bei unserem ersten Gesprächstermin aus mir herausgefragt hatte, über meine Kindheit, meine Eltern undsoweiter, endlich mit seiner Diagnose aufwartete: Borderline-Syndrom. Ich war wie elektrisiert. Meine sämtlichen Vorbehalte gegen diesen Psycho-Typen hin oder her: Das war endlich mal eine Diagnose, mit der ich mich total identifizieren konnte. Und bestimmt nicht deshalb, weil es nunmal das Etikett für jene Patienten ist, die sich erdreisten, von einem psychiatri-schen Schubfach ins andere zu hüpfen. Um Abhilfe zu schaffen, wurde einfach diese neue Schublade mit dem Etikett Borderline eingerichtet.

Ich verliebte mich in das Wort: Grenzlinie. Und spielte damit: Sich von Grenzen nicht aufhalten lassen. Über Grenzen springen, Grenzen sprengen. Grenzgängerin, Zaunreiterin.

Diesmal schwebt der nächtliche Panther nicht mit einem eleganten Satz über den Fluss hinweg, sondern springt mitten hinein. Absicht oder Versagen? Erst nachdem die Strudel sich wieder geglättet haben, taucht ein rundlicher Kopf auf. Nein, es ist nicht die Raubkatze, sondern der schon bekannte Otter, der im Wasser fröhliche Pirouetten dreht. Dann bleibt er auf dem Rücken liegen, lässt sich vom Wasser tragen... und winkt dabei mit den Vorderpfoten...

Der Fluss wird breiter, sein Wasser fließt schneller, formt sich zu einer riesigen Woge, und aus der einen werden viele...

Eine Frau steht am Strand, von wo sie sehnsüchtig auf die Linie schaut, wo Himmel und Wasser verschmelzen... Ein Punkt auf dieser Linie wird allmählich größer, kommt auf sie zu... bis ein Delphin erkennbar wird, der auf den Wellen reitet. Wie zuvor der Otter scheint er sie zum Mitmachen aufzufordern. Vorsichtig taucht die Frau den rechten Fuß ins Wasser, doch die Kälte lässt sie zurückschrecken. Als sie wieder nach dem Delphin Ausschau hält, ist er kaum noch zu erkennen, so weit hat er sich entfernt. Dennoch hat sie den Eindruck, er winke ihr zu. Zum Abschied?

Auch dieser neue Traum ist nicht gerade dazu angetan, meine Stimmung zu heben. Obwohl ich es toll finde, wenn meine kreativen Projekte über das Tagesbewusstsein hinaus Wellen schlagen bis in die Träume hinein. Noch beim allmählichen Wachwerden habe ich den Delphin, dem ich so gern gefolgt wäre, lebhaft vor mir gesehen. Wie ich allerdings vor dem kalten Wasser zurückgeschreckt bin — das ist schon richtig peinlich! Ich tröste mich damit, dass es halt ein Traum war. Im realen Leben bin ich weder wasserscheu noch schrecke ich vor krassen Wechselbädern zurück. Damit habe ich reichlich Erfahrung. Trotzdem bleibt eine diffuse Gefühlsmischung hängen, in der sich nur Traurigkeit genau benennen lässt. Das einzige Heilmittel, das ich inzwischen für mich akzeptiere, ist die kreative Umsetzung. Der Delphin reizt mich mehr als der Otter, aber für welches Wasserwesen ich mich auch entscheide: Immer wieder lande ich bei den Aquarellfarben — oder vielmehr: deren Mangel. An diesem Punkt war ich gestern auch schon, fällt mir ein — und dazu gleich noch meine Abneigung, ein Wasserspiegelbild zu malen. Sollte da etwa immer noch, irgendwo tief verborgen, die Angst nisten, mich bei all diesen Grenzüberschreitungen zu verlieren? Schließlich sieht so ein Wasserspiegelbild eindeutig nach Auflösung aus. Aber ich mag Wasser, und ich meine jetzt nicht als Getränk. Heißt es nicht irgendwo, dass Wasser selbst den härtesten Stein klein kriegt? Wasser fließt oder löst sich auf zu Wasserdampf, es kann zu Eis gefrieren, und bei all diesen Transformationen bleibt es eben doch: Wasser. Okay, es kann auch stagnieren, zum Sumpf werden — wobei mir schon wieder etwas anders einfällt: Mein Gedicht über Kreativität. Wie lange mag das her sein?

Schaffenskraft ist...

immer im Fluß

aus deinem innersten Wesenskern sprudelt ihre Quelle hervor

strömt durch dich hindurch

immer neu immer frisch

Beachtest du sie nicht

staut sich ihr Wasser, stagniert,

wird zum stinkenden Tümpel,

wird zum Morast, in dem du stecken bleibst.

Hör auf die Stimme dieses ewigen Strömens in dir

gib ihr deine Stimme, deine Hand

gib ihr deine Augen, deinen Körper

gib ihr dein Leben und du selbst wirst lebendig sein

Okay, sieht ganz so aus, als wär' mal wieder was Neues dran. Zur Abwechslung Aquarell. Seufzend blicke ich in Richtung Tee-Dosen-Tresor.

Ein Fall von Borderline

Подняться наверх