Читать книгу Ich überlebte Rumbula - Frida Michelson - Страница 6
Der Beginn der Tragödie
ОглавлениеDer 22. Juni 1941 ist ein warmer und sonniger Sonntag, meine jüngere Schwester Necha1 und ich sind in fröhlicher Stimmung, denn heute kommt unsere Mutter zu uns nach Riga zu Besuch. Sie lebt mit ihrem Mann, unserem Stiefvater, in Līvāni2. Wir bereiten alles für ihren Empfang vor, und wollen ihr Rigas schönste Ecken zeigen und sie danach nach Jūrmala3 bringen.
Während wir auf dem Bahnsteig stehen und auf den Zug warten, können wir unsere Freude über das bevorstehende Wiedersehen kaum bändigen. So lange ist sie nicht bei uns gewesen … Sieh nur, da kommt der Zug, unsere Mutter steigt aus, und wir laufen ihr entgegen. Doch Mutter ist in einer merkwürdig gedrückten Stimmung, sie umarmt uns und beginnt, ohne wie üblich alle möglichen Fragen zu stellen, gleich über ihre Sorgen zu sprechen:
„Ach Kinder, ich habe in letzter Zeit so schreckliche Vorahnungen und das Gefühl, dass ich mich beeilen müsste, euch zu sehen.“
Wir versuchen, sie zu beruhigen, und gehen gemeinsam in meine Wohnung in der Krišjāņa Barona iela.4 Das Essen ist schon vorbereitet, wir bewirten unsere Mutter, erzählen ihr Neuigkeiten und sprechen über Bekannte. Dann lassen wir sie ein wenig ausruhen und sie schläft ein.
Ich gehe derweil zum Laden, um Eiscreme zu kaufen. Auf der Straße herrscht ganz ungewohnter Lärm. Irgendetwas ist passiert. Plötzlich ertönt eine aufgeregte laute Stimme aus der Menge:
„Hitler hat die Sowjetunion angegriffen! Es ist Krieg! Gerade wurde es im Radio gemeldet, ich habe es selbst gehört!“
Ich bleibe stehen wie vom Donner gerührt. Also doch Krieg … und was bedeutet das für uns? Ich renne nach Hause, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Damit ist unser Fest zu Ende und auch die Freude über unser Wiedersehen. Es beginnen Stunden des Wartens, die ganze Zeit verfolgen wir beunruhigt die Nachrichten im Radio.
Zwei Tage später, am Nachmittag des 24. Juni, taucht ein deutsches Bombergeschwader über der Stadt auf, etwa dreißig Flugzeuge. Irgendwo in einiger Entfernung detonieren die ersten Bomben. Aus Flakgeschützen werden Salven auf die Flugzeuge abgefeuert, aber ohne Erfolg – keines von ihnen fängt Feuer. Pausenlos heulen die Sirenen, im Radio verkündet eine Stimme monoton: „Luftangriff! Luftangriff!“
Der Hausmeister klopft an die Wohnungstür: Alle Hausbewohner müssen sich unverzüglich in den Schutzraum im Keller begeben. ‚Was soll das schon für ein Schutzraum sein‘, überlege ich. ‚Wenn das Haus getroffen wird, würden wir darunter ohnehin alle bei lebendigem Leibe begraben werden.‘
Am nächsten Tag macht sich Mutter bereit, zurück nach Līvāni zu fahren. Als wir sie zum Bahnhof begleiten, ist uns schwer ums Herz; wer weiß, wo, wann und ob wir uns überhaupt wiedersehen werden, wenn die Erde unter den Füßen brennt.
Mein Bruder Schalom5 ist als Freiwilliger zur Roten Armee gegangen. Ich beschließe, für eine Weile in Varakļāni bei unseren Verwandten unterzuschlüpfen. Ich bin davon überzeugt, dass die Rote Armee rasch mit dem Feind fertig wird. Meine Schwestern Sarah6 und Necham wollen jedoch in Riga bleiben. Beim Abschied schärfe ich ihnen ein, dass sie, wenn die Front näher rückt, Riga sofort verlassen und nach Russland fliehen sollten.