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Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit

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Es ist der 16. Juli. Auf dem Weg zu meiner Wohnung gehe ich durch die bekannten Rigaer Straßen, die immer von so vielen Juden bevölkert waren, doch jetzt ist nur selten einer zu sehen. Zusammengesackt und mit bekümmerten Gesichtern ziehen sie dahin, niedergedrückt von der Last der Sorgen und der Angst. Hingegen sieht man auf Schritt und Tritt geschniegelte deutsche Soldaten. Mit strahlenden Gesichtern spazieren sie mit lettischen Fräuleins herum, die sich mit hellen Kleidchen und weißen Hüten herausgeputzt haben. Sie genießen das Leben, scherzen, lachen und flirten.

Meine Seele ist von Kummer und Trauer erfüllt. Ich besteige eine Straßenbahn. In ihr befindet sich kein einziger Jude. Vielleicht ist es uns untersagt, mit der Tram zu fahren? Bald habe ich mein Haus in der Krišjāņa Barona iela erreicht. Weil ich keinen Schlüssel habe, komme ich nicht in die Wohnung hinein, also gehe ich zum Hausmeister Koslowski hinunter, der im selben Aufgang wohnt. Seine Frau öffnet die Tür. Ohne jede Einleitung, sogar ohne sie überhaupt begrüßt zu haben, frage ich sie, ob sie etwas von meinen Schwestern weiß.

„Das letzte Mal habe ich sie ein paar Tage vor dem Einmarsch der Deutschen gesehen“, antwortet sie. „Als sie die Wohnung verließen, wollten Ihre Schwestern den Schlüssel bei uns hinterlegen, aber ich habe ihn nicht angenommen.“

„Haben sie mir nichts ausrichten lassen?“

„Nein. Sie haben auch nicht gesagt, wo sie hingehen. Aber falls sie versucht haben, nach Russland zu fliehen“, die Koslowski zögert kurz, „dann wurden sie wahrscheinlich festgenommen und getötet. Hier sind entsetzliche Dinge geschehen.“

„O Gott!“

Ich bringe kein Wort mehr heraus. Stehe da wie angewurzelt. Mir wird schwarz vor Augen, ich drohe ohnmächtig zu werden. Die Hauswartsfrau nimmt mich bei der Hand, führt mich in die Wohnung und setzt mich auf einen Stuhl. Als ich wieder bei Kräften bin, bieten mir Nachbarn an, bei ihnen in einem freien Zimmer zu übernachten.

Nachdem ich am nächsten Morgen meinen Koffer bei den Hauswartsleuten untergestellt habe, gehe ich in die Stadt; vielleicht treffe ich Bekannte und kann die Lage klären. Doch sowie ich die Straße überquert habe, ergreifen mich zwei bewaffnete lettische Polizisten mit rot-weiß-roten10 Armbinden.

„In der Falle, Vögelchen!“, ruft der eine aus. „Bringen wir sie weg!“

„Was soll ich denn für ein Vögelchen sein?“, frage ich unwillkürlich, verblüfft von dem unerwarteten Zugriff. „Sie werden mich wohl mit jemandem verwechselt haben.“

„Red’ nicht so viel und beweg’ dich!“, herrscht mich der zweite Polizist an.

Sie zerren mich an den Armen durch die Straße, als drohte ich zu fliehen. Wir erreichen die Präfektur. Die Polizisten bringen mich in einen Keller, erst dann lassen sie mich los. In dem Raum befinden sich bereits zahlreiche Festgenommene – Männer und Frauen, junge und alte.

Ich bitte die Wachleute, rasch nach Hause laufen zu dürfen, um das Allernotwendigste zu holen – ich hatte nichts am Leib als ein dünnes Kleidchen. Meine Worte treffen auf taube Ohren, niemand wird hinausgelassen – nicht einmal Mütter, deren Säuglinge zu Hause geblieben sind: Die Frauen weinen und flehen, sie nur für einen Moment hinauszulassen, damit sie jemanden beauftragen können, die Kinder zu beaufsichtigen und zu füttern. Nichts vermag die harten Herzen der Polizisten zu erweichen – weder Worte noch Tränen …

In der Präfektur berichten mir Rigaer Juden von den Gräueltaten der Nazis in den ersten Tagen der Okkupation: Tausende von Frauen und Männern seien auf den Straßen aufgegriffen oder bei der Arbeit oder zu Hause festgenommen und ins Zentralgefängnis oder andere Gefängnisse gebracht worden. Die meisten Verhaftungen seien in der Nacht vorgenommen worden, wobei die Täter die Menschen ohne Bekleidung, im bloßen Nachthemd aus den Betten holten …

Insbesondere sei die jüdische Intelligenz in den Fokus geraten: Ingenieure, Juristen, Ärzte, Architekten, die Leiter von Produktions- und Handelsunternehmen. Sobald die Nazis jemanden dieser Berufsgruppen erkannten, holten sie ihn aus der Menge der Festgenommen heraus und erschossen ihn auf der Stelle.

Tausende von Juden, darunter auf den Straßen aufgegriffene Kinder, zwangen sie, die Ermordeten fortzuschaffen und zu begraben sowie Straßen und Gebäude zu reinigen. Vielen wurde befohlen, sinnlose Arbeiten zu verrichten, um die nationalsozialistischen Täter zu belustigen und ihre Opfer zu erniedrigen. Die Zwangsarbeit dauerte vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit, und die Menschen mussten in der glühenden Sonne ohne Essen und Trinken arbeiten.

Nur ein Teil der zum Arbeiten Gezwungenen durfte nachts nach Hause zurückkehren. Sie erhielten aber den Befehl unter Androhung von Strafe, morgens wieder auf der Präfektur zu erscheinen, um dort für weitere Arbeiten eingeteilt zu werden. Die meisten aber wurden nach der Arbeit wieder direkt zur Präfektur gebracht, wo sie, ohnehin schon völlig erschöpft, auch noch die Nacht in unerträglicher Enge und stickiger Luft auf dem Boden hockend zubringen mussten und im Morgengrauen erneut zu schwer Sklavenarbeit genötigt wurden.

Gleich in den ersten Tagen nach der Besetzung seien Hunderte von Juden zur Präfektur gebracht und gefoltert worden. Greise mit langen Bärten zwang man, Tallit und Tefillin anzulegen und sowjetische Lieder zu singen und dazu zu tanzen. Bei Weigerung drohte man ihnen mit Erschießung. Mädchen und junge Frauen wurden gezwungen, sich vor ihren Verwandten und Bekannten nackt auszuziehen und unzüchtige Geschlechtsakte zu vollziehen, viele wurden von den Selbstschutzleuten vergewaltigt. Durch das Erlittene verloren einige den Verstand.

Manche Opfer zwang man auch, in mörderischem Tempo unter Knüppelschlägen eine Treppe hinauf und hinunter zu rennen, bis sie, besonders Ältere und Kranke, tot zusammenbrachen.

Bestialisch gepeinigt wurden insbesondere diejenigen, die in die Folterkammern der lettischen Faschistenorganisation Pērkonkrusts in der Valdemāra iela 19 gerieten. Die Pērkonkrustler taten sich in besonderem Maße durch antisemitische Hetze hervor, sie waren die aktivsten Mörder bei den Massenvernichtungsaktionen und begingen als Erste Raubzüge in den Wohnungen ihrer Opfer.

Entsetzen packt mich, als ich von der unfassbaren Barbarei der Deutschen und ihrer Handlanger erfahre. Mir wird erzählt, dass vor einigen Tagen eine ganze Gruppe jüdischer Frauen nach der Arbeit auf einem offenen Feld lediglich deshalb erschossen wurde, weil sie „schlecht“ gearbeitet hätten.

Ob das vielleicht eine Falle ist? Vielleicht wurden wir hergebracht, damit sie morgen wieder jemanden zum Erschießen haben? Was soll ich tun? Ich beginne, eine Lücke zu suchen, durch die ich entkommen könnte, doch vergeblich, alle Türen sind verriegelt und bewacht.

Mehrere Stunden vergehen unter zermürbendem Warten. Dann wird die Tür geöffnet, ein Polizist tritt ein und verkündet: Zwölf Frauen werden zum Arbeiten aufs Land gebracht. Er beginnt mit der Selektion, und auch ich werde ausgewählt. Auch auf ein gebrechliches und gebeugtes Mütterchen fällt die Wahl. Die Angst steigt. Es heißt, dass die alten Leute gar nicht erst zur Arbeit gebracht werden, sondern gleich zu den Gruben.

Der Schutzmann11 befiehlt, uns in einer Kolonne aufzustellen. Wir werden über die Daugava zum Bahnhof Zasulauks gebracht. Ein Güterzug fährt ein. Uns wird befohlen, einzusteigen, und die Waggontüren werden verriegelt. Nach etwa einer Stunde hält der Zug, die Türen werden geöffnet, und wir müssen uns in Reih und Glied aufstellen. Wir sind von Polizisten umzingelt, unsere Namen werden auf irgendeiner Liste eingetragen. Das ist ein gutes Zeichen – also sind wir nicht zur Erschießung hergebracht worden.

Als ich mich umsehe, erkenne ich die Gegend, wir befinden uns in Jelgava, wo ich viele Bekannte hatte: Vielleicht entdecke ich ja ein bekanntes Gesicht. Doch in der Stadt sieht man nur ganz wenige Zivilisten, es kommen uns fast ausschließlich deutsche Soldaten und Polizisten entgegen. Dann sehe ich einen Konvoi von Einheimischen, offenbar festgenommene kommunistische Aktivisten. Sie wirken erschöpft und gequält, ihr Anblick ist mitleiderweckend.

Nach der Registrierung befiehlt ein Polizist, uns in Bewegung zu setzen. Übernächtigt schleppen wir uns die staubige Straße entlang. Einige Frauen sind schon völlig entkräftet. Hinter einem Wald geht prachtvoll die Sonne unter. Wohin wir marschieren, wissen wir nicht.

Nach einem Marsch von etwa zehn Kilometern gelangen wir endlich an einen Einsiedlerhof wohlhabender Bauern. Es ist bereits später Abend. Aus dem Haus kommt uns der Wirt entgegen, ein Lette in mittleren Jahren. Nachdem er mit dem Aufseher etwas besprochen hat, weist er uns einen Platz im Stall auf dem Heuboden an, wo wir übernachten sollen.

Erschöpft von dem langen Marsch und verängstigt von allem Erlebten, kriechen wir hinauf. Die meisten von uns haben seit über vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, der Durst ist quälend, und wir haben Angst. Was erwartet uns?

Eine Lage Heu bedeckt den Boden. Es gibt nichts, womit man sich zudecken kann. Wir sammeln das Stroh zu einem Häufchen zusammen, lassen uns eng zusammengezwängt irgendwie darauf nieder und fallen vor enormer Erschöpfung bald alle in Schlaf. Noch vor Sonnenaufgang werden wir mit einem lauten Anschnauzer geweckt:

„Aufstehen, Zeit zum Arbeiten!“

Wir krabbeln hinunter, wo uns der Aufseher schon erwartet und zu einer Küche bringt. Endlich gibt man uns zu essen. Wir erfahren, dass wir ein Zuckerrübenfeld jäten müssen.

Das riesige Feld ist von Unkraut überwuchert, die Blätter der Rüben sind kaum noch zu erkennen. Der Boden ist lehmig und hart, es ist schwer, das Unkraut herauszuziehen. Für uns Städterinnen, die wir an solche Arbeit nicht gewöhnt sind, zu schwer und anstrengend. Bald haben alle blutige und schwielige Hände. Der Aufseher überprüft häufig, ob wir auch schnell genug arbeiten.

Jeden Tag teilt er uns ein bestimmtes Stück von dem Feld zu – das Pensum, welches wir zu schaffen haben – und schärft uns mit Nachdruck ein, dass wir, wenn wir schlecht arbeiten, erschossen werden. Uns ist klar, dass er seine Drohungen jederzeit wahr machen kann, und wir bemühen uns, alles zu seiner Zufriedenheit zu machen – wir arbeiten so gut wir können, wenn auch mit letzter Kraft. Als wir mit den Äckern des einen Bauern fertig sind, werden wir zu einem anderen Bauern gebracht. Die Arbeit ist dieselbe.

Unser Arbeitstag dauert von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Weder uns noch unsere einzigen verschwitzten Kleider, die wir am Leibe tragen, dürfen wir waschen. Schmutz und Schweiß haben sich in den Körper eingefressen, die Haut juckt, und es tauchen schon Läuse auf. Auch die Haare können wir uns nicht kämmen – weder haben wir einen Kamm, noch wird uns eine Arbeitspause gewährt. Zumindest werden wir verköstigt.

Manchmal sind die Nächte frostig. Dann drängen wir uns eng aneinander, doch auch das hilft nicht – es ist derart kalt, dass man nicht einschlafen kann. Die Schinderei und die unmenschlichen Verhältnisse, die glühende Sonne auf dem offenen Feld und die kalten Nächte bewirken das ihrige – wir sind entkräftet und Krankheiten breiten sich aus.

Unser altes Mütterchen wird auf dem Acker plötzlich ohnmächtig. Wir ziehen sie in den Schatten, legen sie ins Gras, verdecken sie, damit sie vom Aufseher nicht bemerkt wird, und versuchen, sie mit kaltem Wasser wieder zu sich zu bringen.

Am nächsten Tag bekommt ein junges Mädchen einen Sonnenstich. Sie hat unerträgliche Kopfschmerzen, muss sich ununterbrochen übergeben, und wir befürchten, dass sie stirbt. Es gelingt uns aber, den Aufseher zu überreden, dass er uns erlaubt, sie in den Schatten zu legen und ihr zu helfen – natürlich nur unter der Bedingung, dass wir übrigen Frauen das Pensum der Kranken übernehmen.

Einmal wurde auch mir beim Arbeiten schlecht und schwarz vor Augen, mir wurde schwindelig vor Schmerzen und ich bekam Nasenbluten. Ich drückte die Nase mit der Hand zu, brachte die Blutung mit einem in kaltes Wasser getauchten Lappen zum Stillstand, sammelte mich ein wenig und ging weiterjäten. Sich hinlegen oder ausruhen darf man nicht, dafür kann man mit dem Leben bezahlen. So ziehen sich die Tage dahin.

Einmal fährt ein fremder Aufseher auf dem Fahrrad an uns vorbei. Als er jüdische Frauen auf dem Feld arbeiten sieht, wird er hysterisch. „Wo kommen diese Jüdinnen her? Wer hat sie hergebracht? Wer ist der Verantwortliche?!“, poltert er und richtet die Waffe auf uns. „Ich!“, ruft unser Aufseher und eilt mit seinen Papieren auf ihn zu.

Nach einem scharfen Wortwechsel ist es „unserem Verteidiger“ gelungen, den Fremden zu überzeugen, dass er der bevollmächtige Aufseher dieser Gruppe Jüdinnen sei. Der zornige Radfahrer fährt unzufrieden weiter. Unsere Bäuerin sagte später: Wenn unser Aufseher nicht in der Nähe gewesen wäre oder seine von der Präfektur ausgestellte Vollmacht nicht hätte vorweisen können, dann wären wir alle wahrscheinlich auf der Stelle erschossen worden.

Nach diesem Zwischenfall sprach es sich in der Gegend herum, dass auf den Feldern Jüdinnen aus der Stadt arbeiten. Da sie uns nicht einfach erschießen konnten, lauerten die örtlichen Speichellecker der Nazis auf Gelegenheiten, uns erniedrigen zu können. Rudelweise versammelten sie sich vor dem Stall, in dem wir übernachteten, schossen in die Luft, randalierten und grölten herum, als hätten sie den Verstand verloren. Das belastete unsere ohnehin schon angeschlagene Gesundheit und die angespannten Nerven noch zusätzlich.

In unserer Gruppe gab es eine Lehrerin, die alle Hoffnung aufgegeben und die Beherrschung verloren hatte, und die wieder und wieder sagte, dass man uns hier halb zu Tode schinden und danach abschlachten würde, und dass es besser sei, dem gleich selber ein Ende zu machen. Ich hielt dagegen und versuchte, die Übrigen zu beruhigen, insbesondere die Geschwächten, indem ich darauf hinwies, dass zurzeit die Arbeit unsere Rettung sei, sie helfe uns, über unsere unglückliche Lage hinwegzukommen, und dass wir nach Hause zurückkehren würden.

Die Lehrerin war beleidigt und redete nicht mehr mit mir, weil es mir gelungen war, die Frauen zu überzeugen. Auch mit einem achtzehnjährigen Mädchen aus Krāslava stritt ich mich; sie drückte sich systematisch vor der Arbeit und versteckte sich im hohen Gras, um zu schlafen. Das machte mich so zornig, wo doch unser greises Mütterchen jätete, ohne auch nur einmal aufzublicken. Alle waren über dieses Verhalten empört, aber niemand wollte sich mit ihr anlegen. Darum beschloss ich, ihre Taktik zu durchkreuzen, und bat den Aufseher, er möge jeder Einzelnen von uns einen bestimmten Abschnitt zu jäten zuweisen. Er war einverstanden. So war denn auch die junge Frau gezwungen, zu arbeiten wie alle anderen.

Inzwischen ging mir die Arbeit ganz gut von der Hand, ich jätete schnell und ordentlich. Nachdem ich mit dem eigenen Pensum fertig war, half ich dem Großmütterchen und auch dann hatte ich noch Zeit übrig. Denjenigen, die ihr Pensum erledigt hatten, erlaubte der Aufseher, zu einem Flüsschen hinunterzugehen, um uns und unsere Kleider zu waschen, die wir dann am Leibe trocknen ließen. So arbeiteten wir etwa sechs Wochen lang, bis wir sämtliche Rübenfelder der Umgebung fertig gejätet hatten.

Am Tag, an dem wir die Arbeit beendeten, teilte uns der Aufseher mit, dass eine neue Anordnung ergangen sei: Alle Juden müssten einen sechsstrahligen gelben Davidstern tragen, der gut sichtbar an der Kleidung angenäht ist.

Da wir keinen gelben Stoff hatten, befestigen wir Kartonsterne an unseren Kleidern. Als wir uns zum ersten Mal die gelben Brandmarkungen der „minderwertigen Rasse“ anstecken, brechen manche in Tränen aus, auch die Lehrerin fällt sofort über mich her:

„Ich hab’s doch gesagt, dass uns so oder so ein furchtbarer Tod erwartet. Wozu mussten wir uns für die noch abschuften, bevor wir eine Kugel in den Kopf bekommen?“

Der Aufseher bringt die Frauengruppe zum Fluss12, wo ein kleiner Flussdampfer auf uns wartet.

„Ihr werdet schon sehen“, ereiferte die Lehrerin sich wieder, „sie bringen uns hin, wo es niemand sieht, und ersäufen uns!“ „Hört nicht auf sie, nur keine Panik, das wird nicht geschehen“, unterbreche ich die Lehrerin, „wir haben doch gut gearbeitet. Wir werden nach Hause zurückkehren.“

Nachdem er ein paar Worte mit dem Steuermann gewechselt hat, befiehlt uns der Aufseher, den Dampfer zu besteigen. Sobald wir uns alle hingesetzt haben, legt das Schiffchen ab.

„Wo werden wir hingebracht?“, fragen die zu Tode geängstigten Frauen eine nach der anderen den Aufseher.

Er weicht einer Antwort aus. Bedrückt sitzen wir da und ängstigen uns, dass jeden Augenblick etwas Schreckliches passieren kann. Aber das Schiffchen fährt und fährt, der Motor brummt monoton, bis schließlich in der Ferne die bekannten Türme von Riga auftauchen. In diesem Moment erfasst uns eine so große Freude, als ob es in dieser Stadt keine Nazis mehr geben würde. Der Dampfer legt an, der Aufseher sagt, dass wir nach Hause gehen können. Vor Glück fallen wir einander um den Hals, selbst die Lehrerin ist wie neugeboren – sie weint vor Freude, es scheint, als könne sie den Worten des Aufsehers immer noch nicht glauben. Herzlich verabschieden wir uns voneinander und gehen auseinander.

Ich gehe wieder zu meiner Wohnung – in der Hoffnung, meine Schwestern dort anzutreffen oder zumindest irgendein Zeichen oder einen Hinweis, aus denen sich schlussfolgern ließe, ob sie tatsächlich wegfahren und fliehen konnten. Mit diesen Gedanken erreiche ich meine Wohnung, doch an der Tür ist eine Bekanntmachung mit der Überschrift „Beschlagnahmt“ befestigt.

Heißt das, dass meine Wohnung und meine Habe jetzt den Deutschen gehören? Was tun? Ich nehme allen Mut zusammen und gehe auf die Präfektur. Dort wende ich mich forsch an den Diensthabenden mit der Armbinde. Ich erkläre ihm, dass ich heute aus Jelgava zurückgekommen sei, wo ich zusammen mit anderen Jüdinnen anderthalb Monate zur Zufriedenheit Feldarbeit verrichtet habe, und nun käme ich nicht in meine Wohnung, weil jemand sie beschlagnahmt habe. Ich wolle nur ein paar Habseligkeiten und Kleidung holen: einen Mantel, Kleider und Handtücher; alles andere – Gebrauchsgegenstände, Möbel und die Wohnung selbst – möge ihnen überlassen bleiben. Nachdem der Diensthabende mich sorgfältig gemustert hat, beginnt er in verschiedenen Büchern herumzublättern und vergleicht die Einträge.13 Schließlich sagt er:

„Ja, tatsächlich, es stimmt alles, Sie haben gut gearbeitet. Warten Sie einen Augenblick, ich werde Sie begleiten und nachsehen, was da los ist.“

Im Unterschied zu anderen Schutzleuten erscheint mir dieser Mann mit Armbinde menschlich. Er stellt sich sogar mit Namen vor und verhält sich höflich mir gegenüber.

Ich bringe ihn bis vor meine Wohnungstür. Nachdem er sich kurz die Bekanntmachung angesehen hat, drückt er sogleich entschlossen den Klingelknopf. Die Tür wird geöffnet, und auf der Schwelle steht eine junge lettische Dame von etwa dreißig Jahren – gekleidet in mein schwarzes Kostüm (das ich als Erinnerungsstück bis auf den heutigen Tag aufgehoben habe)!

„Guten Tag, meine Dame!“, beginnt der Polizist Svipste das Gespräch.

„Krisone“, stellt sich die junge Frau vor.

„Wer hat die Beschlagnahmung an der Tür angebracht?“

„Ich!“, antwortet die Krisone.

„Mit welcher Berechtigung?“

„Einige deutsche Offiziere, meine Freunde … Sie haben gesagt, dass ich hier wohnen kann. Übrigens, ich bin jetzt auch die Verwalterin dieses Hauses.“

„Gibt es einen Grund für die Großzügigkeit der deutschen Offiziere Ihnen gegenüber?“

„Nun, ich bin ihnen hier und da, sagen wir, ein bisschen gefällig.“

Auf dem Gesicht des Polizisten zeigt sich ein Grinsen.

„Sie haben gesetzeswidrig gehandelt, Frau Krisone, und sich eigenmächtig etwas angeeignet, was Ihnen nicht gehört. Können Sie denn eine Genehmigung vorweisen?“

„Nein.“

Ich nutze die peinliche Situation aus und mische mich in das Gespräch.

„Übrigens, das Kostüm, das sie trägt, gehört mir.“

Die Krisone errötet und wird verlegen wie ein aufgeschrecktes Vögelchen.

„Treten wir ein und schauen uns um!“, bittet Svipste mich in die Wohnung.

Die Krisone ist eine ziemlich schlechte Hausfrau. Noch nie war meine Wohnung derart verludert – leere Flaschen, benutzte Gläser, Geschirr mit Essensresten, Zigarettenstummel auf Sofa und Parkett … Offenbar hat hier nicht nur eine feucht-fröhliche Feier stattgefunden.

Sarahs Schlafzimmer ist mit Kleiderschachteln, Pelzen und Schuhen vollgestopft.

„Das sind nicht unsere Sachen“, erkläre ich dem Polizisten.

Die stammen wahrscheinlich aus anderen Wohnungen von Juden. In Svipstes Augen taucht ein Fünkchen Habgier auf. Für einen Augenblick sehen sich die beiden Kontrahenten an: Svipste voller Neid und Gier, die Krisone hingegen voll Angst und Hass.

„Frau Krisone, Sie müssen diese Wohnung noch heute verlassen! Rühren Sie nichts an, was nicht Ihnen gehört, und geben Sie auf der Stelle das schwarze Kostüm seiner Eigentümerin zurück!“, so die entschiedene Anweisung.

Svipste gestattet mir, in der Wohnung zu bleiben. Er fügt hinzu, er würde bald jemanden herschicken, um alle fremden Sachen abzuholen. Ich danke ihm, habe jedoch Angst, in meiner Wohnung zu bleiben – man kann ja nicht wissen, was die Verwalterin alles anstellen kann. Schnell packe ich eine Tasche: etwas Wäsche, ein paar Kleider, den Mantel, ja, auch mein schwarzes Kostüm, und verlasse die Wohnung, ohne mit ihr noch ein einziges Wort zu wechseln.

Bevor ich das Haus verlasse, schaue ich noch beim Hauswart vorbei. Als die Koslowskis mich erblicken, werden sie überaus verlegen. Die Hauswartsfrau erblasst, dann errötet sie … Es scheint, als würde sie ein Gespenst sehen – Schweißperlen treten ihnen auf die Stirn.

„Ich habe nichts damit zu tun! Mein Mann … Ihm wurde befohlen … So ist das Gesetz. Sie haben sogar deinen Koffer mitgenommen!“, rechtfertigt sie sich.

Wir wissen beide, dass sie lügt. Trotzdem fährt sie fort:

„Deine Sachen sind nicht bei uns. Die Krisone, diese Schlampe, die sich in deiner Wohnung breitgemacht hat …“

Die Koslowska holt Luft und wechselt erleichtert das Thema:

„Sie hat sämtliche jüdischen Wohnungen im Haus ausgeraubt. Sie veranstaltet Feiern und führt ein wüstes Leben, alle Nachbarn beschweren sich. Warum bekommt die Krisone all die guten Sachen, und wir nur irgendwelchen Krempel?“

„Das wissen Sie selber am besten!“, antworte ich, schlage die Tür hinter mir zu und verlasse das Haus.

‚Wohin soll ich jetzt gehen? Wer könnte mich wohl aufnehmen? Ich werde zu Sonja Bobrowa gehen‘, überlege ich, ‚sie ist eine gute Freundin und wird mich nicht wegschicken.‘

Sonja Bobrowa wohnt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Bruņinieku iela auf Höhe der Kreuzung Avotu iela.14 Als sie mich sieht, freut sie sich wirklich von Herzen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich fange an zu weinen, Sonja beruhigt mich. Ich berichte von meinen Sorgen und Nöten, erzähle alles, was ich erlebt habe. Sonja fühlt mit mir und wischt sich hin und wieder eine Träne ab.

Später bereitet sie mir ein Bad. Nach langer Zeit kann ich endlich meine langen Haare kämmen. Ich lebe regelrecht auf. Das Kleid, das ich bei der Feldarbeit getragen habe, muss weggeworfen werden – es war schon fast aufgelöst und verrottet an meinem Leib. Nach all dem Durchgemachten, den Nächten über dem Stall in ständiger Todesangst, ausgezehrt von der übermäßig schweren Arbeit, bedeutet selbst eine einzige Nacht im Warmen bei lieben, gastfreundlichen Freunden in einem bequemen Bett eine wahre Glückseligkeit für mich. Vor dem Krieg hätte ich das nicht zu schätzen gewusst.

Doch meine beschwingte Stimmung verfliegt schon bald, als ich Sonja bitte, mir zu erzählen, was in Riga während meiner Abwesenheit vorgefallen ist. Ich will wissen, wie die Lage für die Juden ist, was wir zu erwarten haben. Sie empfiehlt mir, mich lieber zu erholen und das Gespräch auf den nächsten Tag zu verschieben, doch ich gebe nicht nach.

„Es gibt nur Schreckliches zu berichten“, beginnt Sonja. „Fast alle Synagogen sind geschändet und zerstört. Du kennst doch die große Choral-Synagoge in der Gogoļa iela.15 Sie existiert nicht mehr. Ein solches Baudenkmal! So viele alte Kunstschätze wurden in dieser Synagoge aufbewahrt! Nichts ist übrig geblieben … Das Gebäude und der Innenhof waren voller Menschen – Männer, Frauen, Kinder, alte und junge Leute … Flüchtlinge aus Litauen. Weiter als bis nach Riga sind sie nicht gekommen. Sie fanden Zuflucht in der Synagoge, doch dann … Eines Tages haben die Pērkonkrustler16 das Gotteshaus umzingelt, aus dem Hof, von der Straße und aus den umliegenden Häusern Juden hineingetrieben, rundherum Bretter und Stroh aufgestapelt und sie in Brand gesteckt. Meine Freunde, die das Ganze gesehen haben, berichteten von unmenschlichen und herzzerreißenden Schreien. Auf alle, die versuchten, aus den Fenstern zu springen, wurde sofort geschossen.

Dasselbe machten sie mit der Synagoge in der Stabu iela 63. Sie warteten, bis der beliebte Rabbi Kilow hingebracht wurde, trieben ihn in den Tempel zu seinen Gemeindemitgliedern und setzten das Gotteshaus in Brand.

Auch in die alte Synagoge in der Maskavas iela wurden die Juden aus den umliegenden Häusern zusammengetrieben. Als im Gebäude kein Platz mehr war, zwangen sie Juden, indem sie ihnen mit Erschießung drohten, Bretter und Stroh um die Synagoge zu legen, Petroleum darüberzuschütten und alles in Brand zu stecken. Als der Tempel in Flammen stand, haben die Pērkonkrustler auch sie erschossen. Mein Gott, wird das jemals jemand erfahren und diese furchtbaren Ereignisse ins Buch der Geschichte schreiben – die Flammen, die Schüsse und die Schreie, die sich mit dem Gelächter der betrunkenen Mörder vermischten?“

Sie erzählt, dass auch andere jüdische Heiligtümer in Riga ein ähnliches Schicksal ereilte – auf beiden jüdischen Friedhöfen wurden die Gebetshäuser niedergebrannt.

Auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Šmerlikamen in den Räumen, die für die Totenwäsche vorgesehen waren, kamen die Chewra-Kadischa17-Mitarbeiter und ihre Familien in den Flammen ums Leben.

Auch auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Moskauer Vorstadt wurden sämtliche Gebäude mitsamt Dutzenden von Menschen, die in sie hineingetrieben wurden, niedergebrannt. Mich erfasst das Grauen angesichts dieser Barbarei, die an meinem Volk verübt wurde. Obwohl ich schrecklich müde bin, kann ich nicht einschlafen. Der Verstand weigert sich, das Gehörte zu akzeptieren. Das, was die Menschen vor ihrem qualvollen Tod erleiden mussten, übersteigt alles Vorstellbare.

Ich erfahre, dass es den Juden außerhalb Rigas nicht besser ergeht. Auch wenn die Nachrichten über das, was in Kleinstädten und Dörfern vor sich geht, noch bruchstückhaft und unzusammenhängend übermittelt werden, ist bekannt, dass die Juden dort auf Befehl der SS-Leute und von den einheimischen Handlangern der Nazis durchgeführten Massenermordungen vollständig vernichtet wurden. Lediglich in den größeren Städten wie Liepāja18 und Daugavpils19 sollen noch einige wenige Juden übrig geblieben sein, ebenso dass die Ortsschilder von Tukums, Jelgava, Bauska und anderen Städten bereits mit dem Zusatz „judenrein“20 versehen wurden.

Schon in den ersten Tagen der NS-Okkupation hatte sich zwischen den Juden und der sie umgebenden Welt eine Wand der Entfremdung und Isolation gebildet. Juden durften ihre Wohnorte nicht verlassen. Ariern wurde jeglicher Kontakt zu Juden untersagt. Jede Berührung zwischen Letten und Juden wurde vermieden und so erfuhren die Juden nichts.

Insofern ist es sehr schwer herauszufinden, was in der näheren Umgegend von Riga vor sich geht, ganz zu schweigen von weiter entfernten Orten. Einige Juden, die von der Zwangsarbeit in anderen lettischen Städten zurückgebracht wurden und wussten, was in den Kleinstädten und Dörfern vor sich ging, sprachen jedoch nicht darüber – entweder um nicht noch weitere Trauernachrichten zu überbringen, von denen es Riga schon mehr als genug gab, oder um nicht Panik zu verbreiten. Weshalb wurden in der Provinz sämtliche Juden ermordet, in Riga hingegen nur ein Teil? Vielleicht waren sie Opfer derselben Massakerwelle, die in den ersten Julitagen auch mehrere Tausend Rigaer Juden fortgerissen hat? Oder aber … Man darf gar nicht daran denken! Erwartet uns wirklich auch ihr furchtbares Schicksal?

Ich überlebte Rumbula

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