Читать книгу Schlaf. 100 Seiten - Friederike Gräff - Страница 7
ОглавлениеWeiterschlafen – zu Besuch bei den Traumdeutern von gestern und heute
Ich war zwei Mal in meinem Leben bei einer Traumdeuterin, einer Freundin meiner Tante. Meine Tante hatte mir das Geld für den Besuch geschenkt. Sie war Teil einer Gruppe von Freundinnen, die sich regelmäßig mit der Traumdeuterin trafen, um über ihre Träume zu sprechen. »Die anderen haben oft keinen Traum zu erzählen«, sagte meine Tante, »aber ich habe immer einen.« Damit sie ihre Träume nicht vergesse, sagte meine Tante, kreuze sie direkt beim Aufwachen die Füße. Sie verband wie wenig andere Menschen etwas Kindlich-Koboldhaftes mit etwas Alterslosem, und es war schwierig herauszuhören, ob sie es ernst meinte. Sicher war, dass Träume für sie etwas Kostbares waren und dass sie glaubte, auch andere könnten von ihnen profitieren. Jedes Jahr erinnerte sie mich in der Zeit zwischen den Jahren daran, dass dies die heiligen Nächte seien, in denen man besonders auf seine Träume achten sollte.
Als ich zur Traumdeuterin kam, stellte sie sich vor und erklärte, dass sie mit den Ideen von C. G. Jung arbeite, aber ich hörte nicht sehr konzentriert zu, weil ich wissen wollte, was sie zu meinem Traum zu sagen hatte. Es ist einige Jahre her, dass ich dort war, ich erinnere mich daran, dass sie einen mütterlich-klugen Eindruck auf mich machte und dass ich ihr ohnehin vertraute, weil sie eine Freundin meiner Tante war.
Ich hatte geträumt, dass ich in einem Konzerthaus war und man mich zum Dirigentenpult brachte, vor ein wartendes Orchester und ein wartendes Publikum. Ich wehrte mich dagegen, weil ich wusste, dass ich nicht dirigieren konnte, aber niemand kümmerte sich darum. Obwohl der Traum Jahre zurück liegt, erinnere ich mich gut an das Gefühl der Panik: zu wissen, dass man etwas von mir erwartete, was ich nicht konnte.
Sie lese darin eine Botschaft an mich, sagte die Traumdeuterin. Und zwar die, dass ich über mehr Kräfte verfügte, als ich selbst annähme. Das Orchester, so erinnere ich mich eher vage, sei ein Teil meines Selbst, das mein zweifelndes bewusstes Selbst davon überzeugen wolle. Ich war erstaunt darüber, dass man einen Albtraum, denn so hatte ich ihn empfunden, so positiv auffassen konnte. Und ich erinnere mich daran, sonderbar beeindruckt gewesen zu sein: Wenn irgendein Teil meiner selbst einen so komplexen Weg der Botschaftsübermittlung wählte, dann musste die Nachricht von Belang sein.
Wenn ich jetzt darauf zurücksehe, denke ich, dass ich zu der Traumdeuterin gegangen bin, wie man zu einer Psychologin gehen könnte: mit der Vorstellung, dass das Gegenüber den Traum besser deuten kann als man selbst. Darin unterscheide ich mich nicht von den Träumenden vor knapp 4000 Jahren in Ägypten oder denen vor 3000 Jahren in Babylonien. Das Wissen um die Träume war kostbar, und es wurde über die Generationen gehütet. Das älteste erhaltene Buch zur Traumdeutung stammt aus der 12. ägyptischen Dynastie (ca. 1891–1786 v. Chr.).
Was die meisten heutigen Träumenden von denen früherer Zeiten unterscheidet, ist die Vorstellung davon, was sie in den Träumen erfahren: Erst mit Sigmund Freud hat sich die Idee durchgesetzt, dass sich über die Träume Wissen über den Träumenden selbst vermittelt, über seine Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste. Davor erhoffte man sich von den Träumen auch Aufschluss über die Zukunft und sah ihren Ursprung nicht allein im Schlafenden, sondern verstand sie als Botschaft göttlicher Mächte. In den altindischen Veden ist der Traum ein Zwischenzustand der Seele, die im Schlaf den Körper verlässt und in einem Raum schwebt, in dem sie Diesseits und Jenseits zugleich überblickt.
Aber die Geschichte des Traums ist nicht die einer ungebrochenen Wertschätzung. Dem Traum geht es nicht besser als dem Schlaf: Er ist immer wieder Ziel von Disziplinierungs- und Eindämmungsversuchen.
In der Aufklärung begegnete man ihm überwiegend mit Misstrauen, weil er dem Menschen die Souveränität zu nehmen schien, und Wissenschaftler wie der Kriminalpsychologe Johann Christian Gottlieb Schaumann, der für ein aufgeklärtes Strafrecht kämpfte, fanden nebenbei noch Zeit, Anleitungen für die Reinhaltung der Träume zu verfassen. Erforderlich dazu sei eine reine Phantasie, die wiederum nur durch eine keusche Lebensführung ermöglicht werde.
Die Romantiker feierten den Traum als kostbare Inspiration, während um 1900 viele Ärzte und Psychologen propagierten, dass gesunder und erholsamer Schlaf derjenige ohne Träume ist. Da man annahm, dass das Gehirn im Schlaf in einen todesähnlichen Zustand fiel, führte man die Träume auf äußere Reize zurück, die aber nur bei leichtem Schlaf aufträten. Eine Reaktion auf Zugluft und verstopfte Nasen – das war aus den Botschaften der Götter geworden, die man jahrhundertelang im Traum zu finden glaubte.