Читать книгу Die Todgeweihten grüßen dich - Friederike Kielisch - Страница 5
02.12.1985
ОглавлениеAber noch einer suchte meine Nähe… Mustafa.
Ich hatte ihn während des Training kaum beachtet, stand ich doch in der Hierarchie weit über ihn, und er war nur der Bruder eines Karateblaugurts.
Und selbst bei den Auftritten unserer Trainingsgruppe hatte ich es kaum mit ihm zu tun gehabt.
Einmal nach dem Training, gingen wir alle geschlossen nach Hause, und unsere Gruppe wurde immer kleiner, denn irgendwann trennten sich all unsere Wege, doch einer blieb hartnäckig an meiner Seite, und bis zum Schluss ganz allein, Mustafa.
Ich lächelte ihn an, und sagte. ,,Na, Du willst wohl mit mir mit laufen?“ Er war nicht besonders gesprächig, aber wirklich wild entschlossen wie ein Hündchen hinter mir her zu laufen, mindestens vier Kilometer weit.
So in der Mitte von meinem Weg fing ich an, für ihn ein Lied zu singen, denn es war ein grauer Tag, und es nieselte leicht.
,,Here comes the rain again, falling on my head like a memory…”
Zu der Zeit fand ich auch, dass ich eine angenehme Stimme hatte. Und der Mustafa hörte einfach nur zu.
Er schaute mich mit seinen riesigen Augen an, und er lief und lief den ganzen weiten Weg neben mir her. Irgendwie niedlich dachte ich, ein lieber Junge. Und in Wahrheit mag ich es sehr gern Gesellschaft zu haben, oder wenn jemand auf meinem Weg aufpasst.
Und als ich dann am Ziel war, wollte ich mich ganz lieb mit einem Schwesterkuss verabschieden, doch was tat er, er zog mich an sich heran und küsste mich voller jugendlicher Leidenschaft zurück. Du vergreifst dich in der Tonart, dachte ich noch, aber es war zu spät. Unsere Körper schmiegten sich inniglich aneinander, und wir verschmolzen in diesem Kuss zu nur einen Schatten.
Gut, als wir uns lösten, dachte ich mir nichts dabei, und schickte ihn nach Hause.
Und plötzlich, am nächsten Tag, klingelte es an unserer Tür.
Meine Mutter rief mich, und ich ging nach unten. Dort stand er vor mir, völlig verschwitzt, war er doch über 20 Kilometer mit seinem Fahrrad gefahren, um mich zu finden. Er kam mir heldenhaft und irgendwie mutig vor, so mit nichts, außer sich selbst vor unserer Tür zu stehen. Und seine Augen waren wunderschön, groß und hellbraun, fast grün…Mustafa
Verwundert nahm ich ihn mit ins Haus. Sagte meiner Mutter etwas von Nachhilfeschüler, denn ich gab Hausaufgabehilfe in Englisch und Deutsch.
Führte ihn hinauf in mein Zimmer, und noch an der Türschwelle flüsterte ich: ,,Was willst Du?“ Doch er nahm mich sofort in den Arm und küsste mich inniglich und glitt mit seinen samtenen Lippen über mein Gesicht. ,, Oh, das willst Du ?“ Er nickte nur, und schob mich in mein Zimmer.
Er war zwar blutjung, doch schon etwas größer und kräftiger gewachsen als ich. Mir versagten fast die Knie, und er führte mich fest in seinem Armen haltend in mein Zimmer. Wir taumelten fast rückwärts auf mein Bett, und sanken darauf nieder. Es war so unendlich süß und zärtlich. Wir lagen nebeneinander und küssten uns nur. Unsere Hände berührten sich, und unsere Körper fühlten einander. Irgendwann zündete ich Kerzen an, und legte Musik auf, Tschaikowski und Rachmaninow…Wir liebten uns vier Schallplatten lang, bis in die Abenddämmerung hinein.- Als hätten wir alle Zeit der Welt, und als wenn wir uns schon ewig kennen würden. Wir verschmolzen zu Eins, ein Atemzug, eine Ewigkeit. ,,Sevgilim“, fragte ich, ist das richtig? Er nickte, und sagte: ,,Du kannst mich Musti nennen.“ Ich musste lächeln, denn es klang so fast unschuldig und kindlich: Musti.
,,Sag‘, wie alt bist Du, Musti?“ Er sagte erst mal nichts. ,,Du, hör‘ mal, ich weiß das ich älter bin, ich werde 20. Und Du?“ ,,Ehm…17, ich werde 17…“, erwiderte er. Stirnrunzelnd sah ich ihn. Er war erheblich jünger als ich, es war mir fast peinlich, ja schien unmoralisch…Was hatte ich bloß getan? Drei Jahre Unterschied waren auch für mich schon hart an der Grenze des Anstandes und der guten Sitten.
Doch die Wahrheit sah in der Realität wirklich noch schlimmer aus, denn 25 Jahre später erfuhr ich, er ist zu diesem Zeitpunkt erst 15 gewesen war.
Man sollte solche Augenblicke im Leben nicht unterschätzen.
Glaube an den Himmel über Dir, denn allein kann niemand überleben.
Und somit legte sich von diesem Tage an etwas über uns, ein kosmisches Band, getragen von den Engeln. Denn manchmal verbinden sich unsere Seelen miteinander, wenn wir uns wahrhaft lieben, und nicht nur die Körper.
Denn wir uns liebten, dann lag ich oftmals in seinem linken Arm neben ihm, und spürte wie sich etwas über uns erhob, so als wenn ein Teil von mir selbst sich aus mich herauslöste, und über uns schwebte, und ich konnte von oben hinab auf uns blicken.
Und noch immer, auch heute, erzittert meine Seele wenn ich ihn sehe, und Körper versinkt haltlos ohne Materie, wenn er mich in den Armen hält, oder küsst.
Für mich erschien er wie ein goldenes Wesen aus einer anderen Zeit, irgendwie unwirklich. So als wenn ich ihn schon immer gekannt habe, seit tausenden von Jahren, vertraut.
Ach, ich liebe doch ...wenn ich überhaupt etwas für Menschen empfinde...alle anderen sehe ich doch gar nicht, aber wenn ich mal einen anderen Menschen entdecke, der auf meiner Schwingungsebene liegt, dann liebe ich...
Egal ob männlich oder weiblich, das hat nichts mit Sexualität zu tun, einfach weil es so selten ist... denn im Grunde leben wir alle in einem Elfenbeinturm, in der Hoffnung dort irgendwie heraus zukommen...Uns wird erzählt, liebe deinen Nächsten wie Dich selbst, und du bist frei....
Doch frei? Wir wissen nun wie es ist, zwischen den Welten zu leben, das ist die einzige Freiheit die wir erreichen können.
Und gerade Mustafa und ich hinterließen, wenn wir uns in der Mitte trafen, jede Menge Brandspuren...denn wir sind jeweils für die Welt des Anderen, im Grunde, ein Angriff auf die Türme (Kultur und Gesellschaft).
Wo ist der Weg der Mitte...?
Und wenn am Boden Chaos herrscht, müssen wir nach oben schauen...und dort liebe ich
seni seviyorum, Mustafa
Er erzählte auch nicht viel über seinen Hintergrund, und so ich nahm ihn in meine Welt auf, wie er kam.
Ja, meine Welt, was ist das für eine Welt?
In meiner Welt werden wir hinein geboren, geboren mit dem Bewusstsein, erfolgreich und strebsam sein zu müssen. Deutsche Werte haben wir zu verkörpern, zuverlässig und perfekt unser Leben zu organisieren, sauber und anständig. Wir wuchsen in den sicheren Wohlstand unserer Eltern hinein, und sollten möglichst noch mehr als diese in unserem Leben erreichen. Das heißt eine gute Schul-und Ausbildung schaffen, einen anständigen aufstrebenden jungen Mann heiraten, der möglichst schon Akademiker ist, und aus einem guten christlichen Zuhause kommt. Dafür wurden wir erzogen. So einem Mann zur Seite zu stehen, und artige begabte Kinder zu gebären. Alles andere bedeutete ein Abweichen von der Norm, und einen Ausschluss aus der Geborgenheit der Gemeinschaft des Mittelstandes. Auch schon das ungefähre Heiratsalter war frühesten mit 25 Jahren vorgesehen.
Davor wurde uns allerdings durchaus eine gewisse Jugendtoleranz zu gebilligt, das heißt wenn wir unsere Auflagen erfüllten, konnten wir unsere Jugendzeit genießen, und Erfahrungen sammeln, auf allen Ebenen.
Und nun weiß ich, all dies war für eine Tochter aus den meisten türkischen Familien in Deutschland damals fast unerreichbar.
Schon für Ergüns Eltern war ich zu mindestens schon die „Verlobte“ gewesen, denn unter anderen Umständen hätte ihr Sohn mich nicht besuchen dürfen, oder ich ihn.
Verliebt, verlobt, verheiratet…Erst jetzt öffnet sich die türkische Gesellschaft für diese Reihenfolge, doch davor wurden Ehen abgesprochen und arrangiert, ohne das sich oftmals die Beteiligten vorher kannten. Alles andere wurde als Angriff auf die „Ehre“ empfunden.
Als er das erste Mal bei mir gewesen war, haben seine Eltern natürlich nicht gewusst, wohin er gefahren war, und ihn bei der Polizei als vermisst gemeldet. Das alles erfuhr ich nur im Nachhinein.
Er kam trotzdem oft zu mir, immer wieder, oder er rief an, um mich zu treffen. Niemals sagte ich nein, denn, er war mir nah, er hörte mir zu, und verinnerlichte mein wahres Ich. Ich zeigte ihn meine Wälder… Wir lernten zusammen für meine Abschlussprüfungen zum Abitur, und das, obwohl er viele Schulklassen unter mir gewesen war, und eine andere Schulform besuchte. So teilte ich einfach alles mit ihm, auch meine Gefühle und Gedanken. Er nahm leicht alles auf, was ich ihm sagte, und gab. Und es machte mir Freude, wie intelligent er war. Auch ihn versteckte ich nicht, vor nichts und niemanden, nicht vor meinem Freundinnen oder der Familie. Und nahm ihn auch mit in Cafés, um mit ihn wie mit einem jungen Mann aus meiner deutschen Welt auszugehen, denn woher sollte ich Unterschiede kennen? Er lebte hier, in meiner Zeit, und mit mir in meiner Welt. Fern der Realität. Und ich wagte es sogar einmal ihn einfach nach dem evangelisch lutherischen Ritual als Christ zu taufen, denn ich wollte dass er für Gott nicht verloren ging, und ich keine Sünde an ihm begehe, und ihn vor allem Übel schützen. Er sollte „gleich“ sein mit mir. Er sagte dazu nur: “Spinnst Du!?“ Ich war selber fast noch ein Kind, ein liebes freundliches Mädchen, voller Fantasie und Romantik.
Nur niemals sagte ich zu ihm: ,,Ich liebe Dich“
Denn ich wusste, es konnte kein gemeinsamer Weg für uns zu finden sein…undenkbar, dass ein deutsches Mädchen, damals, aus bürgerlichen Verhältnissen, einen Sohn eines moslemisch/türkischen Bauarbeiters, der auch noch jünger als sie ist, heiratet. Bei uns war es üblich, das der Bräutigam etwa fünf Jahre älter als die Braut zu sein hat, und nicht fünf Jahre jünger.
Und auch bei ihm Zuhause war ich nie gewesen… Ich kannte nur vom Sport seine Brüder und wusste, dass er noch eine Schwester hatte. Doch er kam aus einer sehr traditionellen und gläubigen Familie, und seine Geschwister folgten alle streng den Regeln der türkischen Kultur. Und ebenso wie wir Deutschen, erreichten seine Brüder hier durchaus gute Abschlüsse und Berufe, und natürlich heirateten sie Frauen aus ihren Kreisen, mit Kopftuch, versteht sich.
Es war mir bewusst, wir hatten beide unseren Weg im Leben parallel zu gehen.
Denn aus den gleichen Gründen bin ich damals auch nicht Ergüns Frau geworden.
Ich weiß nicht welche Bedeutung ich damals für ihn hatte, doch auch für ihn sind wir seitdem irgendwie liiert. Er hatte es nie vergessen… Und er nennt mich trotzdem immer noch, Du „Fast Frau“ von Ergün, denn er sieht mich seit je her als dessen erste Frau an.
Mustafa, dachtest Du wegen Ergün, hättest Du mir weniger bedeutet? Ich habe immer an Dich geglaubt, in meinem Herzen, über Alles.
Damals, hast Du gedacht, ich habe mich gegen Dich entschieden? Damals, als ich Dich dann verleugnete, als Dein Bruder, und Fadil der Kurde, zu mir kamen? Ich wollte Dich beschützen!
Denn eines Tages erhielt ich offiziellen Besuch bei mir zu Hause. Es muss ein Samstag gewesen sein, als sein ältester Bruder und Fadil bei mir auftauchten, unverhofft, ohne Vorwarnung. Die beiden kannte ich nur von Sport. Und ich dachte eigentlich nur: Mein Gott, hilf mir!
Wir setzten uns draußen auf den Rasen, um zu reden. Sie redeten alles Mögliche, über rituelle Waschungen und so… Wie sollte ich aus der Situation heraus kommen? Ich hatte wirklich Angst. Angst, ein Verbrechen begangen zu haben. Ich hörte nicht wirklich zu, und rang um Fassung. Es war so unfair, denn Du warst nicht dabei…Ich wusste nicht was sie wirklich wollten. Um Dir unangenehme Konsequenzen zu ersparen, behauptete ich einfach, ich würde Dich nicht kennen. Nur Ali, ja, den kannte ich, sagte ich zu ihnen. Du warst doch noch so jung! Wie hätte ich zu der Wahrheit stehen können? War das die Heiratsdelegation gewesen?
Sie sagten, Du bist wohl irgendwie verwirrt, und sie sind dann wieder friedlich von unserem Grundstück gegangen.
Im Grunde war doch unser Plan, dass ich irgendwann studieren wollte, und Du so wie immer bei mir sein solltest. In Freiheit.
Doch nach diesem Tag, kamst Du nicht mehr zu mir, hast nie wieder mit mir gesprochen. Obwohl ich Dich suchte, denn meine Regel blieb aus. Ich ging weinend zu einer Beratungsstelle, und betete zu Gott, nicht schwanger zu sein. Irgendwann fand ich Dich, in einer Gruppe von anderen Jugendlichen, stand vor Dir, doch Du hast mich nur angesehen, und Dich abgewendet.
Und noch niemals in meinem Leben habe ich mich so sehr verletzt gefühlt…
Du hast nicht mit mir geredet
Du hast nicht um mich gekämpft
Du hast mich einfach weggeworfen
Ich zerbrach, blind vor Schmerz und aus den Tiefen meiner Seele habe ich Dich verflucht, Sohn des Teufels:
Jallah! Ben Esch Shaitani !
Der Fluch der Frauen seit Urzeiten
Nie mehr sollst Du Dein Glück finden, und durch tausendfachen Betrug die Deinen. Niemals hättet Ihr in unser Land kommen dürfen…
Haha, heute weiß ich dass viele Türkinnen ihre Männer verfluchen, oder mit einem bösen Blick belegen, wenn sie nicht parieren. Ach, so sollte man nie lieben, sondern reden!
Und doch Gott erbarmte sich meiner, zehn Tage später wusste ich, nicht schwanger zu sein.
Und heute weiß ich, auch Mustafa suchte nach Mittel und Wege mit seinem Schmerz umzugehen. Und er rächte sich teilweise an der deutschen und türkischen Gesellschaft. Er nutzte auch Ali aus, ließ sich Getränke spendieren, und jede deutsche Frau, die ihm gefiel, und nicht bei Drei auf dem Baum war, wurde angebaggert. Er sich selbst verletzt.
Ergün hatte recht gehabt, als er mich warnte, und meinte ich sollte diese Kreise meiden. Es war kein Umgang für mich. Er kennt mich zu gut.
Es war mein innerer Tod.