Читать книгу Die Schule der Philosophen - Friedhelm Decher - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеAngesichts der aktuellen Bildungsdebatte lohnt es sich, einen Blick auf das Panorama der Geschichte des Bildungskonzeptes zu werfen. Seit jeher haben sich Philosophen Gedanken über das gute Leben und damit auch darüber gemacht, wie man den Menschen zu einem guten Leben anleiten kann, wie man ihn bilden, wie man ihn erziehen soll. Auf diese Frage gibt es ganz unterschiedliche Antworten. Doch es fällt auf, dass – ebenfalls seit jeher – immer die Formung der menschlichen Seele als ein breit angelegtes Projekt verstanden wurde. Nicht der Broterwerb, nicht die Spezialisierung, sondern eine möglichst umfassende Formung wurde als Ideal gesetzt. Diese Einsicht scheint in heutigen Debatten etwas aus dem Blick geraten zu sein. Die Beschäftigung mit Philosophen, die nicht nur Kulturgeschichte geschrieben haben, sondern auch maßgeblich unseren Bildungsbegriff mit geformt haben, drängt sich daher geradezu auf. Sich auf diese Wurzeln zu besinnen, sie wieder fruchtbar zu machen – dies ist ein Anliegen des vorliegenden Buchs.
Und tatsächlich lässt sich in der Gegenwartsphilosophie schon seit geraumer Zeit eine Rückbesinnung auf das feststellen, was die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen schon immer war: eine Theorie der Lebenskunst, eine Reflexion auf die Bedingungen, Formen und Gestaltungsmöglichkeiten menschlicher Existenz.1 In der griechischen Antike gilt das Gebot, sich um sich selbst zu kümmern, sich um sich selbst zu sorgen – die Epimeleia Heautou, wie es im Griechischen heißt und was im Lateinischen mit cura sui wiedergegeben wurde – als zentraler Bestandteil der Paideia, der eminent philosophisch ausgerichteten Bildung und Erziehung, und zieht sich wie ein roter Faden durch die unterschiedlichsten philosophischen Schulen und Traditionen. So gesehen ist dieses Gebot einer der ältesten Imperative, den die sich herausbildende lebenspraktisch und pädagogisch ausgerichtete europäische Philosophie formulierte. Und in der Tat: Was eigentlich liegt einem näher als die eigene Existenz, das Interesse daran, dass diese Existenz gelingt, dergestalt, dass man nicht nur halbwegs mit ihr zufrieden ist, sondern mit gutem Grund behaupten kann, das Leben sei geglückt? Entsprechend keimt der Gedanke der Sorge um sich in der griechischen Antike – insbesondere in der Anthropologie der Sophisten – auf und wird, wie Michel Foucault einmal geschrieben hat, durch Sokrates geradezu „geheiligt“2; gleichwohl handelt es sich hierbei um ein Prinzip, das, wie Foucault schreibt, „für alle gilt, für alle Zeit und für das ganze Leben“3. Solche Sorge um sich richtete sich, wie Foucault im dritten Band seines Werks Sexualität und Wahrheit, der den Titel Die Sorge um sich trägt, herausgearbeitet hat, seit alters her sowohl auf den Körper als auch auf den Geist und die Seele. Eine gute und sinnvolle Paideia hatte sich mithin um beide Sphären in gleicher Weise zu kümmern: um die physische ebenso wie um die mentale und psychische. So standen Selbstsorge und Bildung einerseits in enger Verbindung mit medizinischem Denken und Handeln,4 schlossen andererseits zugleich aber auch immer eine „Arbeit des Denkens an ihm selbst“ ein,5 die sich als Sorge um die eigene Seele, die Beherrschung der Leidenschaften, das Streben nach Seelenruhe gestaltete. Ziel bei all dem war es, ein Leben zu führen, das sowohl in physischer als auch in psychisch-geistiger Hinsicht als gelingendes empfunden wird. Die Kunst der Existenz kreist, um noch einmal Foucault zu bemühen, „um die Frage nach sich […], nach seiner Abhängigkeit und seiner Unabhängigkeit, nach seiner allgemeinen Form und nach dem Band, das man zu den anderen knüpfen kann und muß, nach den Prozeduren, durch die man Kontrolle über sich ausübt, und nach der Weise, in der man die volle Souveränität über sich herstellen kann“.6
Bereits die Sophisten des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts, die einer solchen Kunst der Existenz die entscheidenden Impulse gaben, verstanden sich hinsichtlich dieser Themen als sachkundige Führer, als Pädagogen und Psychagogen. Im Vordergrund stand dabei für sie – wie in der Folge dann etwa auch für Sokrates und Platon – weniger die Kultur des Körpers, sondern mehr die Kultivierung von Geist und Seele. Anders gesagt: Diejenige Paideia, die sie anstrebten, war in erster Linie eine philosophische Erziehung, eine philosophische Bildung. Genau das macht bis heute den Reiz und die Aktualität ihrer Reflexionen aus, finden sich doch ihre Ansichten in gegenwärtigen Diskussionen über philosophische Bildung und Erziehung sowie deren Ziele wieder. Beispielsweise betont Bärbel Frischmann, Bildung müsse verstanden werden als Behandlung des Menschen als Selbstzweck, nicht als Mittel. Dementsprechend bestehe Bildung nicht in einer bloßen Anhäufung von Kenntnissen, dem Erwerb bestimmter definierter Qualifikationen oder der Vorbereitung auf das Berufsleben. Vielmehr sei Bildung allgemeiner zu verstehen „als der vielschichtige Prozess der Selbstkonstitution des Menschen“. In dieser Sicht unterliegt sie „keinen fremden Zwecken, sondern hat ihren Maßstab und ihren Zweck in dem sich bildenden Menschen selbst“.7 Hieraus lassen sich ihrer Ansicht nach dann konkrete Ziele einer philosophischen Bildung und Erziehung ableiten, als da etwa wären: „die kritische Distanz gegenüber dem Alltagsdenken, die Fähigkeit zur Reflexion von Werten, Zielen, Möglichkeiten menschlichen Daseins und ihre Umsetzung für ein gutes, tugendhaftes Leben und nicht zuletzt der Stellenwert für ein intaktes politisches Gemeinwesen und eine gerechte politische Verfassung“.8
Bei diesen Zielen handelt es sich um genuine Themen der hier vorgestellten, für die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte äußerst relevanten Denker. Zwar ist ihre Auswahl zahlenmäßig begrenzt – zudem mag sie dem einen oder anderen willkürlich erscheinen: Wo bleibt beispielsweise Erasmus von Rotterdam?, wo Michel de Montaigne?, wo Wilhelm von Humboldt?, dessen Bildungstheorie ja, zumindest in Deutschland, nachhaltig gewirkt hat. Gleichwohl bemisst die vorliegende Auswahl sich mit ihren Stationen daran, dass sie sich vorrangig auf Persönlichkeiten konzentriert, die unsere abendländische Geistes- und Kulturgeschichte im Sinne einer philosophischen Bildung, Erziehung und Aufklärung entscheidend geprägt haben. Zudem repräsentiert sie eben jene Vielfalt an Reflexionen, die sich an Zielen wie den genannten entzünden. Exemplarisch etwa findet sich bei ihnen allen eine kritische Distanz gegenüber dem Alltagsdenken – bereits die Sophisten begriffen sich in dieser Hinsicht als Aufklärer. Zudem waren sie es, die den Blick von der Natur weg und hin zum Menschen und seiner Kultur lenkten. Zugleich waren sie im Rahmen ihrer Bildungstheorie ebenso wie Sokrates und Platon an der Umsetzung der Möglichkeiten menschlicher Existenz in ein ‚tugendhaftes‘ Handeln interessiert, was bei Platon einherging mit dem Entwurf eines idealen Staatswesens, das die Rahmenbedingungen hierfür bereitstellen sollte. Bei Seneca dann finden sich alle relevanten Fragen einer Kultur der Existenz und philosophischen Bildung in ihrer ganzen Bandbreite entfaltet, und Giovanni Pico della Mirandola wagt im Zeitalter der Renaissance einen kühnen Neuanfang mit seiner These, der Mensch verfüge über kein vorgegebenes, kein fertiges Wesen und er sei aufgrund seiner Freiheit selbst der Modelleur und Gestalter seines Lebens. John Locke, der sich nicht nur als einer der ersten Philosophen der Neuzeit explizit zu Fragen der Erziehung geäußert hat, klärt uns auch darüber auf, wie seiner Ansicht nach unser Bild von der Welt entsteht, wie wir überhaupt zu Erkenntnissen gelangen. Darüber hinaus erarbeitet er Vorschläge, wie wir unsere gesellschaftliche Lebenspraxis sinnvoll und vernünftig gestalten können – Vorschläge, ohne welche moderne Demokratien nicht vorstellbar sind. Und – nicht zu vergessen – er wagt es als Denker der Aufklärung, Toleranz in allen den Glauben und die Religion betreffenden Fragen einzufordern. Das Erziehungsthema wird aufgegriffen von Jean-Jacques Rousseau, der als der große Erziehungstheoretiker im Zeitalter der Aufklärung schlechthin gilt. Ziel seines Bildungsprojekts ist die Sorge um die Existenz des Einzelnen auf allen Ebenen: der des Kindes, des in der Gesellschaft lebenden Menschen, welcher sich, wie Rousseau seiner Zeit die Diagnose stellt, mehr und mehr von der Natur entfremdet, und schließlich der des Staatsbürgers. Inspiriert durch Rousseaus Erziehungsroman Emile sagt Immanuel Kant vom Menschen, er sei dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen. Dieser Kerngedanke hat Konsequenzen sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Ethik sowie die Überlegungen hinsichtlich einer übernationalen Friedensordnung. Kant wiederum wurde zum Anreger für Friedrich Schiller, welcher das Konzept einer ästhetischen Erziehung des Menschen vorstellt, wonach sich Menschwerdung und Selbstkonstitution, Bildung und Formung des Menschen mit Hilfe und im Zuge der Beschäftigung mit dem ‚schönen Schein‘, sprich der Kunst, vollziehen. Arthur Schopenhauer tritt in kritische Distanz zum Alltagsdenken, indem er uns darüber aufklärt, dass wir insofern von einem aus seiner Sicht verfehlten Menschenbild verführt werden, als wir meinen, wir seien Wesen, die sich primär von ihrer Vernunft leiten lassen. Demgegenüber unternimmt er es, aufzuzeigen, dass und wie wir von dunklen und dumpfen Trieben, von vielfältigen Regungen eines Willens zum Leben und von uns oftmals nicht bewussten Antrieben gesteuert werden, was alles bei dem Bemühen um ein gelingendes Leben zu berücksichtigen ist. Als zunächst gelehriger, dann immer kritischer werdender ‚Schüler‘ Schopenhauers hat Friedrich Nietzsche dessen Lehre vom Willen zum Leben zum Willen zur Macht radikalisiert. Spannender als das ist im Blick auf seine Funktion als philosophischer Erzieher seine grundsätzliche Reflexion auf die Werte und Wertvorstellungen, die in den letzten zweitausend Jahren das Abendland geprägt haben. Folgt man seiner Diagnose, dann sind diese Werte gegenwärtig dabei, mehr und mehr entwertet zu werden, sodass wir uns einer Epoche nähern – beziehungsweise uns bereits in ihr befinden –, die Nietzsche als „nihilistische“ bezeichnet, was für uns eine Besinnung auf diejenigen Werte erforderlich macht, an denen sich unsere Lebensgestaltung und Bildungsbemühungen orientieren. Im Werk Bertrand Russells schließlich finden sich so gut wie alle Themen wieder, an denen philosophische Bildung und Erziehung seit jeher interessiert war und gegenwärtig immer noch ist. Noch einmal wirft er die Grundfrage einer Kultur der Existenz auf – was ist das glückliche Leben, das zugleich ein im ethischen Sinn gutes ist? – und entwirft bildungstheoretische Leitlinien, wie sie zu beantworten wäre.
Mit diesen insgesamt zwölf Bildungskonzepten gewinnt das Projekt einer philosophischen Bildung, die ja seit alters her immer auch eine Kultur der Existenz, eine Kultur der Sorge um sich im Blick hat, Kontur, sodass trotz der notwendigen Auswahl am Ende ein Panorama philosophischer Reflexion über die anthropologisch begründete und insofern unaufgebbare Aufgabe der Selbstsorge und mithin der Bildung und Erziehung entsteht.
Bildung verstanden als Selbst-Bildung ist nicht erst seit der Aufklärung, sondern schon in der Antike ein roter Faden, der sich durch alle Bildungskonzepte zieht. Und dieses Verständnis ist auch heute noch von enormer Aussagekraft.