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I Die Sophisten:
Die Ausbildung der Areté

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Wir beginnen unseren Gang durch die Geschichte des Bildungskonzeptes bei den Sophisten. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, der aus dem an der Südwestküste Kleinasiens, an der Stelle des heutigen Bodrum, gelegenen Halikarnassos stammte und etwa zwischen 485 und 425 v. Chr. lebte, hat die damalige Szenerie in seinem Geschichtswerk eindrucksvoll beschrieben: Im Jahre 490 v. Chr. stehen sich die verfeindeten Heere der Griechen und Perser bei Marathon und – ein Jahrzehnt später – 480 v. Chr. bei Salamis gegenüber. Beide Male endete die kriegerische Auseinandersetzung mit einem triumphalen Sieg der Griechen. Die Perser, hält Herodot fest, hätten bei Marathon 6400 Krieger verloren, während es auf griechischer Seite vergleichsweise wenige Opfer, nämlich nur 192, zu beklagen gab.9 Und seinen Bericht über die Schlacht von Salamis beendet er mit der lakonischen Feststellung, als der persische Großkönig Xerxes gesehen habe, dass er die Schlacht verloren hatte, habe er sich zum Rückzug entschlossen.10

Mit diesen beiden Siegen wurde der griechischen Seele die Angst vor einem scheinbar unbesiegbaren Gegner, die wie ein Alb auf ihr gelastet haben mag, genommen. Befreit von diesem Druck konnte sie sich nun Anderem, Neuem, zuwenden. Vielleicht ist es übertrieben, zu behaupten, die Siege bei Marathon und Salamis hätten zu einer Revolution der griechischen Psyche geführt. Aber immerhin verschafften sie ihr einen enormen Entwicklungsschub, der zu einem veränderten Selbstverständnis der damals lebenden Menschen und ihrem Verhältnis zur Welt, ins besondere auch der Mit-Welt, führte.

Was war geschehen? Um diese mentalitätsgeschichtlich gesehen enorm bedeutsame Veränderung, die sich nach den Siegen über die Perser feststellen lässt, angemessen nachvollziehen zu können, ist eine kurze Rückblende zu den Anfängen der abendländischen Geistesgeschichte erforderlich, soweit sie uns in den erhaltenen Kulturgütern wie Kunstwerken, Mythen, Religionen und schriftlichen Aufzeichnungen überliefert sind.

Alle uns bekannten Hochkulturen – wie etwa Ägypten, Babylonien, Indien, China und eben auch Griechenland – weisen eine Gemeinsamkeit auf: Für sie alle ist ein Nachdenken über die Welt und das Schicksal der Menschen charakteristisch. Das bedeutet ganz konkret: Die Menschen unternahmen es, die Naturkräfte zu begreifen. Zudem versuchten sie, in ihrem Dasein einen Sinn zu entdecken. Und sie entwickelten Vorstellungen, um die Macht des Todes zu brechen, sei es beispielsweise dadurch, dass man an eine Seelenwanderung durch eine im Prinzip unabsehbare Reihe von Wiederverkörperungen glaubt, oder aber indem man Konzepte von einem Leben in einem Totenreich entwickelt.

Die älteste Form der Weltdeutung – auch und vor allem in Hochkulturen wie den genannten – ist der Mythos. Unangesehen der spezifischen Unterschiede stimmen die Mythen dieser Kulturen in zentralen Merkmalen überein. So werden alle bedeutenden Ereignisse im Lebensbereich und -umfeld der Menschen – wie zum Beispiel der Lauf der Gestirne, Blitz und Donner, Fruchtbarkeit und Dürre, Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Liebe und Hass – auf göttliche Mächte und Einflüsse zurückgeführt. Dies ist nun aber nicht nur symbolisch zu verstehen, sondern der Mythos gibt zu bedenken: Die Götter existieren tatsächlich und wirken – geradezu handgreiflich – in die Natur und das Leben der Menschen hinein. Das wiederum hat seinerseits ein bestimmtes Verhalten der Menschen den Göttern gegenüber zur Folge, ein Verhalten, das sich im Laufe der Zeit zu Riten und kultischen Handlungen verfestigt. In den Mythen, die solches Mit-, Gegen- und Ineinander von göttlichem Wirken und menschlichem Handeln und Verhalten konkret-anschaulich, bisweilen auf fantastische Weise schildern, herrschen bildhaftes Denken und zumeist unbewusstes Gestalten vor. Zwar besitzen die mythischen Erzählungen eine eigene Art innere Logik, jedoch kennen sie kein im engeren Sinn logisches, das will sagen: abstrakt-begriffliches Denken.

Im sechsten Jahrhundert vor der Zeitenwende nun beginnt sich in Griechenland eine neue Sichtweise, eine neue Art des Denkens, ein neuer Zugang zur Welt durchzusetzen. Dieses neue Denken lässt sich als Ablösung vom Mythos, als Zurückdrängung der mythischen Weltdeutung und einer damit Hand in Hand gehenden Hinwendung zu einer rationalen Erfassung der Wirklichkeit beschreiben. Rationale Erfassung der Wirklichkeit, das bedeutet: Die Menschen begreifen ihre eigene Vernunftfähigkeit und versuchen in der Folge, sich die Wirklichkeit mit Hilfe eben dieser Vernunft, des Logos, zu erschließen. Der Altphilologe und Philosophiehistoriker Wilhelm Nestle hat für diese Verschiebung die griffige Formel „vom Mythos zum Logos“ geprägt.11

Dieses neue Denken, dieser neue Geist, diese neue Form der Weltzuwendung ist durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet. Zunächst ist hier das selbstständige Nachdenken herauszuheben, das durch die Verwunderung über die Existenz von Welt und Kosmos, ja auch die Erschütterung über die Fragilität der Welt und der Stellung des Menschen in ihr ausgelöst wird. Wie uns Autoren wie Platon und Aristoteles überliefert haben, wurde solch selbstständiges Nachdenken ausgelöst und initiiert durch Fragen wie: Warum gibt es diesen Kosmos? Warum gibt es diese Welt mit ihrem Formenreichtum? Warum gibt es überhaupt etwas? Warum gibt es nicht Nichts?

Gekoppelt war die Suche nach Antworten auf solche Fragen mit dem Problem: Gibt es einen letzten einheitlichen Grund aller Dinge, der sich mittels der dem Menschen zur Verfügung stehenden Erkenntniskräfte erfassen lässt? (Das ist, nebenbei gesagt, heute immer noch Ziel der Naturwissenschaften, suchen doch auch sie nach der viel beschworenen „Weltformel“ und streben sie in ihrer avanciertesten Form die Formulierung einer „Theory of everything“ an.) Die Suche nach diesem letzten Grund hat eine Verabschiedung von mythischen Personifizierungen und religiösen Zwängen zur Folge. Das aber schließt bereits ein Moment von Aufklärung ein.

Ein weiterer bemerkenswerter Zug jener Tendenzen um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends ist die methodische Suche nach Wissen um seiner selbst willen. Zu dem Zweck berufen sich die Menschen, wie gesagt, auf die ihnen eigene Vernunftfähigkeit, den Logos, das heißt die Fähigkeit, rational und begrifflich zu denken und zu argumentieren. Dazu ist es erfordert, Gründe für seine Überzeugungen anzugeben und Begründungs- und Beweisverfahren zu entwickeln. Geleitet ist diese rationale Zuwendung zur Welt von der Hoffnung, die wahre Wirklichkeit zu entdecken und zum Urgrund aller Dinge durchzustoßen.

Die Frage nach dem Urgrund aller Dinge wurde von einer Gruppe von Philosophen und Naturforschern zu beantworten versucht, die mit einer Sammelbezeichnung als „Vorsokratiker“ bezeichnet werden und die all diejenigen Autoren, die sich der Natur und dem Kosmos zuwandten, umgreift, die vor Sokrates (469–399 v. Chr.) lebten. Zu diesen zählen solch illustre Figuren wie etwa Thales, Pythagoras, Heraklit, Parmenides, Demokrit und Empedokles. Dem Forschen dieser Vorsokratiker eignet eine gemeinsame Grundtendenz: Der Mensch ist ihrer Ansicht nach so sehr Teil des Kosmos, dass es überflüssig ist, ihn eigens zum Thema zu machen. Folglich lagen den vorsokratischen Denkern praktische, gar lebenspraktische und erzieherische Gedanken in der Regel fern.

Neue Impulse nun erhielt die neue, rationale Herangehensweise – und damit kommen wir zu dem Punkt zurück, von dem wir ausgegangen sind – nach den Siegen über die Perser und mit dem Beginn des sogenannten ‚Perikleischen Zeitalters‘, welches das halbe Jahrhundert zwischen 480 und 430 v. Chr. umfasst und das als ein ‚goldenes Zeitalter‘ in die griechische Geschichte eingegangen ist. Seit Perikles standen allen – das heißt freilich zum damaligen Zeitpunkt: allen männlichen – Bürgern selbst die höchsten Staatsämter offen. Dadurch wurde ein Bedürfnis nach höherer Bildung und nach Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Leben in der Polis, der Stadtgemeinschaft, wach. Zugleich wurde der Weg für die Entfaltung des einzelnen Menschen, des Einzelbürgers geebnet. Diese Entwicklung führte zur Ausbildung des Ideals vom freien Individuum, das, auf seine rationalen Kräfte vertrauend, sich zunehmend seiner selbst bewusst wurde und eigenverantwortlich, da unbeeinflusst von mythisch-göttlichen Mächten, Entscheidungen traf. In eins damit wurde immer deutlicher: Nur diejenigen gewannen Einfluss und konnten sowohl in politischer als auch ökonomischer Hinsicht Karriere machen, die in den Volksversammlungen und bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht die besten Argumente vorbringen und mit ihrer Redekunst überzeugen konnten. Vor allem in Athen hingen so gut wie alle wichtigen Entscheidungen von den Mitgliedern der Polis und ihren Ausschüssen und Gremien ab. Folglich wurde die Fähigkeit, gut, das heißt überzeugend reden und argumentieren zu können, das entscheidende Mittel, um sich auf der politischen Bühne behaupten und Erfolg haben zu können. Daher ist es kein Wunder, dass die Rhetorik alsbald zur wichtigsten Bildungsdisziplin avancierte.

Diese Marktlücke nun entdeckten die sogenannten ‚Sophisten‘ für sich, insofern sie beanspruchten, in ausgezeichneter Weise nicht nur selbst über die geforderten ‚Schlüsselqualifikationen‘, wie man heute sagen würde, zu verfügen, sondern sie auch anderen lehren, sie mit den gewünschten Fertigkeiten und Techniken ausstatten zu können. Die Sophisten dominierten seit dem fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert weithin die intellektuelle Szene in Griechenland. Wenn wir heutzutage jemanden als ‚Sophisten‘ und seine Ansichten und Argumentationen als ‚sophistisch‘ bezeichnen, dann meinen wir damit, der Betreffende sei spitzfindig, verdrehe einem die Worte im Mund, versuche einen mit windigen Schlüssen hinters Licht zu führen oder gar aufs Kreuz zu legen. Ohne Frage hat das Wort ‚Sophist‘ im Laufe der Jahrtausende eine Bedeutungsverschlechterung erfahren.

Das griechische Wort ‚Sophistes‘ bezeichnet ursprünglich jemanden, der ein Meister seines Fachs ist. Seiner originären Bedeutung nach war der Begriff also nicht auf Rede- und Argumentationskompetenz eingeschränkt, sondern wurde generell auf jeden angewandt, von dem man mit gutem Grund annehmen konnte, er sei ‚sophos‘, beziehungsweise sei mit dem ‚sophon‘ versehen. ‚Sophos‘ und ‚sophon‘ werden gewöhnlich mit ‚weise‘ übersetzt. Aber auch dieser Übersetzung liegt schon eine Einengung zugrunde, denn ‚sophos‘ und ‚sophon‘ bedeuten in jener Zeit nicht nur Weisheit in einem spezifisch philosophischen Sinn, sondern umfassen den ganzen Bereich dessen, den man als Klugheit, speziell auch als Lebensklugheit, bezeichnen kann. Die antike Welt charakterisierte demnach denjenigen als ‚sophos‘, dem wir heute in etwa die Eigenschaften ‚kompetent‘, ‚kundig‘, ‚geschickt‘, ‚klug‘ und ‚weise‘ beilegen würden. Erst im späten fünften vorchristlichen Jahrhundert verengt sich die Bedeutung des Begriffs ‚Sophistes‘ zu einer Art Berufsbezeichnung für die nun auftretenden ‚Lehrer der sophia‘, die Lehrer der ‚Weisheit‘, des Wissens, insbesondere des politischen Wissens und der Kenntnisse, über die ein guter Rhetor, will er überzeugend wirken und Erfolg haben, verfügen muss. Darüber hinaus statteten die Sophisten die angehenden und aufstrebenden Politiker sowie all jene, die im öffentlichen Raum wirken wollten oder mussten, mit allen sonstigen hierfür erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten aus. So umfasste der Bildungskanon der Sophisten, den sie auf dem freien Markt anboten, außerdem Dichter- und Naturerklärung, Mathematik, Grammatik sowie Kultur- und Religionsgeschichte.

Die Sophisten zogen von Stadt zu Stadt, von Region zu Region und gaben ihre Kenntnisse und Fertigkeiten gegen Honorar weiter (weswegen sie von ihren Philosophenkollegen Sokrates und Platon mit missgünstigem Blick beäugt wurden). In gewisser Hinsicht instrumentalisierten sie damit zwar Wissen, Bildung und Philosophie. Auf der anderen Seite führte das jedoch zu einer Demokratisierung des Wissens. Wenn nämlich Rhetorik, Bildung und Philosophie dem Handeln des Einzelnen in der Stadtgemeinschaft dienen sollen, dann werden diese Disziplinen für all diejenigen interessant, die mit der sozialen und politischen Praxis zu tun haben. In dem Maße, in dem immer mehr Menschen die Mitwirkung an der Gestaltung der Polis ermöglicht wurde, musste auch das dafür erforderliche theoretisch-rhetorische Rüstzeug allgemein zugänglich gemacht werden. Folglich wandten sich die Sophisten von jedweder esoterischen Weisheit, die nur einigen wenigen vorbehalten ist, ab. Stattdessen rückten sie praktisch verwertbares Wissen in das Zentrum ihrer Bildungsbemühungen, das sie so vortrugen, dass die Kenntnisse, die nachgefragt wurden und die sie zu vermitteln versuchten, von jedem angeeignet werden konnten. Auf diese Weise öffnete sich die Philosophie dank der Sophisten weiteren Kreisen als bisher.

Ihre Ideen und Kenntnisse verbreiteten die Sophisten in dreifacher Form. Zum einen unterrichteten sie die Söhne begüterter Familien in deren Privathäusern oder in eigens für den Unterricht angemieteten Gebäuden. Darüber hinaus hielten sie öffentliche Vorträge für ein größeres Publikum von Erwachsenen gegen Eintrittsgeld. Und zudem wirkten sie durch den Verkauf ihrer Schriften. Ziel war dabei immer: lehren, bilden und erziehen.

Während die Philosophie der Vorsokratiker auf Natur und Kosmos gerichtet war und theoretisch, ja vielfach spekulativ verfuhr, verfolgten die Sophisten demgegenüber einen praktischen Zweck, nämlich Kenntnisse und Mittel zur Beherrschung und Meisterung des Lebens bereitzustellen – wobei ‚Leben‘ in einem durchaus zweifachen Sinn zu verstehen ist: des eigenen, individuellen, privaten Lebens auf der einen und des öffentlichen Lebens im Staatsgefüge auf der anderen Seite. Geleitet von diesem praktischen Zweck verfuhren die Sophisten gegenüber dem vorsokratischen Forschen nach anderen Methoden, griffen sie doch auf lebensweltliche Erfahrungen zurück und argumentierten sie empirischinduktiv, das will sagen, im Ausgang von einzelnen, konkreten Ereignissen, Beobachtungen und Erfahrungen gelangten sie zu weitergehenden Schlüssen, die ein gewisses Maß von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit beanspruchen können.

Oberstes Ziel ihrer Bildungsbemühungen war dabei die Areté, was nur unzureichend mit ‚Tugend‘ übersetzt werden kann, obwohl sich das seit Langem eingebürgert hat. Areté meint so viel wie Trefflichkeit, Tüchtigkeit, Vorzüglichkeit, also den ganzen Bereich dessen, wodurch sich jemand vor anderen auszeichnet, was jemand besonders gut kann. Ursprünglich bezeichnete Areté eine Art Erbgut, nämlich das Vorrecht der ‚Aristoi‘, der ‚Besten‘, des Adels also. Die Sophisten nun versprachen, Lehrer der Areté zu sein. Auf diese Weise wurde die Areté zu einem Bildungsgut, welches sich jeder erwerben konnte, der über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügte, um die Honorare der Sophisten bezahlen zu können.

So rückten die Sophisten ein neues Thema ins Zentrum der Bildung des abendländischen Geistes: der Mensch als praktisch handelndes und in die Gemeinschaft integriertes Individuum. Ihn, so sahen es die Sophisten, gilt es auf die Aufgaben, die ihn als aktiv in das politische, soziale und ökonomische Geschehen eingreifendes Individuum erwarten, entsprechend vorzubereiten. Diese Aufgaben kann er, vorausgesetzt, er ist mit dem entsprechenden Rüstzeug ausgestattet, aus sich selbst heraus bewältigen, verfügt er doch dank seiner Vernunft über ein Werkzeug, das, entsprechend geschult, auf all den genannten Feldern zu glänzenden Leistungen in der Lage ist. Im Zeitalter der Sophistik erwacht daher die Vernunft zum hellsten Bewusstsein ihrer Fähigkeiten und Kraft. Konsequent weisen die Sophisten jegliche Ansprüche alter, in den Mythen oder den traditionellen Religionen verankerter Autoritäten zurück und befreien die Vernunft von ihren Fesseln.

In diesem Zusammenhang kam es ihnen darauf an zu betonen – und hiermit enthüllt sich der zentrale Grundgedanke der Sophistik: Moralvorstellungen, Sitten, Gebräuche, Traditionen, ethische Normen, Kategorien wie gut und böse, Wertvorstellungen sowie überhaupt Kultur hat der Mensch nicht ‚von Natur aus‘. Auch handelt es sich hierbei nicht um etwas von den Göttern und mythischen Autoritäten Gesetztes und Vorgeschriebenes, sondern um etwas, was die Menschen selbst gemacht haben. Deshalb unterscheidet sich all das von Ort zu Ort, von Region zu Region und unterliegt geschichtlichem Wandel. Dies ist die berühmte sophistische Unterscheidung zwischen Physis und Nomos. Physis bedeutet wörtlich: das, was von sich selbst her, was von Natur aus besteht. Und Nomos ist das Gesetz, also das Gesetzte, das, was durch menschliche Setzung und Satzung zustande kommt. ‚Kultur‘ mitsamt all den soeben aufgelisteten Phänomenen ist demnach etwas, was die Menschen gemacht haben. Kultur, anders gesagt, gibt es nicht von Natur aus; Kultur ist nicht Physis, sondern Nomos.

Diese Unterscheidung zwischen Physis und Nomos führte die Sophisten zu der Einsicht: Wenn Kulturen mit den für sie typischen Sitten, Gebräuchen, Normen, Traditionen und Werten das Werk von Menschen sind, dann kann keine Kultur für sich beanspruchen, einer anderen überlegen, besser, entwickelter als sie zu sein. Dann kann man bestenfalls sagen, eine Kultur sei anders als eine andere. Da alle Kulturleistungen das Werk von Menschen sind, sind sie alle Nomos: Gesetztes, von Menschen Geschaffenes. Insofern stehen sie alle gleichberechtigt nebeneinander. (Nur nebenher bemerkt: Diese Einsicht verdankt sich wohl der regen Reisetätigkeit der Sophisten.)

Ihrer Behauptung der Gleichberechtigung der vielgestaltigen Kulturen der Menschheit gewinnen die Sophisten zugleich einen kritischen Sinn ab. Wenn nämlich, so argumentieren sie, Kulturleistungen nicht als Physis, also nicht als Werk der Natur begriffen werden können, das heißt nicht als etwas, das von selbst ent- und besteht, sondern als Nomos, als etwas vom Menschen – gleichsam künstlich – Gemachtes, dann kann man sich mit Kulturleistungen auseinandersetzen, dann kann man sie kritisieren, ihre eventuelle Problematik, unter Umständen ihre Lebensfeindlichkeit herausstellen, ja sie sogar am Ende infrage stellen: Wozu brauchen wir überhaupt diesen oder jenen Nomos? Ist nicht vielleicht manches, was wir uns geschaffen haben, unnütz und wider unsere Bedürfnisse und Interessen? Beschränken wir nicht in vielfacher Hinsicht unsere eigenen Entfaltungsmöglichkeiten, wenn wir uns an einem vorgegebenen Nomos orientieren? Unterdrückt gar der Nomos nicht oftmals den Menschen? Und gilt dies nicht gleichermaßen für das individuelle wie für das öffentliche Leben?

Werfen wir zur Verdeutlichung einen Blick auf diejenigen Bestandteile menschlicher Satzung und Setzung, auf die solch kritische Anfragen seinerzeit zielten, dann wird das geradezu Revolutionäre des sophistischen Bildungs- und Erziehungsprogramms sichtbar. Die Kritik des bestehenden Nomos mündet in Forderungen wie diejenigen nach einem gleichen Recht für alle, nach Gleichheit in Bildung und Besitz, nach Gleichstellung der Frau – das heißt nach uneingeschränktem Zugang zu Bildung und Staatsämtern –, nach Abschaffung der Privilegien der ‚Wohlgeborenen‘, des Adels also, ja gar nach Abschaffung des Adels selbst, sowie nach Abschaffung der Sklaverei. Programmatisch heißt es bezüglich des letzten Aspekts beispielsweise bei dem Sophisten Alkidamas: „Frei hat der Gott alle geschaffen. Keinen hat die Natur zum Sklaven gemacht.“12 Die damals in den griechischen Stadtstaaten fest verankerte Unterscheidung zwischen freien Bürgern auf der einen Seite und Sklaven auf der anderen ist das Werk von Menschen, ist menschliche Setzung – und mithin nichts Natürliches, wie noch Aristoteles seinen Zeitgenossen weismachen wollte.

Im Blick auf die damaligen sozialen und politischen Verhältnisse besaßen Forderungen wie die angeführten eine ungeheure Brisanz. Es kam Bewegung in die gesellschaftliche Schichtung der antiken Welt, wurde sie doch aufgeklärt über ihre eigenen Entstehungs- und Konstitutionsbedingungen. Und die Speerspitze dieser Aufklärung bildeten die Sophisten mit ihrem Bildungs- und Erziehungsprogramm, ihrem Ideal der Paideia, der „Formung des griechischen Menschen“, wie der Altphilologe und Philosoph Werner Jaeger es umschrieben hat.13

Scharfsinnig wie sie waren, blieb den Sophisten nicht verborgen, dass und wie ihre Unterscheidung zwischen Physis und Nomos auch auf unsere Erkenntnis der Welt und der Dinge in ihr durchschlagen musste. Parmenides (ca. 540–480 v. Chr.), ein prominenter Vertreter der vorsokratischen Philosophen, hatte streng unterschieden zwischen wahrem Sein einerseits und Erscheinung, und das heißt für ihn: bloßem Schein, andererseits. Mittels unserer sinnlichen Wahrnehmung, so lehrte er, erfasse man immer nur die Erscheinung von etwas; die Wahrnehmung liefere uns immer nur Schein. Das wahre Wesen der Dinge und der Welt, das ‚Sein‘ hingegen sei nur dem reinen Denken zugänglich. Die Sophisten, allen voran ihr erster herausragender Vertreter Protagoras, der aus dem thrakischen Abdera stammte und dessen Lebenszeit etwa die Jahre 485–415 v. Chr. umspannte, erachteten eine solche strikte Trennung zwischen einem vorgeblich wahren Wesen der Dinge und ihrer bloßen Erscheinung für nicht haltbar. Welt und Dinge, so meinten sie, ließen sich nicht in dieser Weise aufspalten. Sie argumentierten: ‚Welt‘ – und hier kommt nun die Unterscheidung von Physis und Nomos zum Einsatz – sei nicht Physis, sondern sei vielmehr das, was wir Menschen handelnd hervorgebracht haben, zum Beispiel Städte und Gemeinwesen, Infrastrukturen, Rechtsvorschriften, Moralvorstellungen, technische und Kulturprodukte der unterschiedlichsten Art. All das macht für uns ‚Welt‘ aus; und nur das ist uns aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Erkenntnisorgane erkennbar. Mit anderen Worten: Nach sophistischer Lehre erkennen wir Menschen die Dinge und die Welt nur insoweit, als sie zu uns in einer Beziehung stehen. Was jenseits dieser Beziehung steht, das ist uns unbekannt, all das bleibt uns verborgen.

Damit ist grundlegend und in aller Schärfe das Grundproblem der Erkenntnis formuliert – und zugleich auf eine spezifische Art und Weise beantwortet. Gegen Parmenides macht Protagoras geltend: Sind wir aufgrund unserer Fähigkeiten überhaupt in der Lage, die Wirklichkeit so, wie sie an sich ist, zu erkennen? Und er beantwortet diese Frage mit einem entschiedenen „Nein“. Demnach sind wir wohl nur innerhalb bestimmter Grenzen fähig, die Dinge, die Welt, die Wirklichkeit zu erfassen. Wo aber ist diese Grenze zu verorten? Seine Antwort, so hörten wir, gibt zu bedenken: Wir erkennen die Dinge nur insoweit, als sie zu uns als handelnden Wesen in eine Beziehung treten.

Prägnant formuliert ist diese Erkenntnislehre in dem Satz, der Protagoras’ Buch, das den kämpferischen Titel Die niederboxenden Reden trug, eröffnete und der es in der Folgezeit als ‚Homo-mensura-Satz‘ zu einiger Berühmtheit bringen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (oder wie) sie sind, der nichtseienden, daß (oder wie) sie nicht sind“.14

Über Sinn und Bedeutung dieses Satzes ist viel und lange gestritten worden. Insbesondere drehte sich der Streit um die Frage: Was meint Protagoras hier mit ‚Mensch‘? Meint er den Menschen im Allgemeinen, mithin die Gattung Mensch? Oder hat er hierbei den einzelnen, individuellen Menschen im Blick? Für die erste Lesart, also dafür, dass der Mensch als Gattung gemeint sei, bietet die antike Überlieferung keinerlei Anhaltspunkte. Ganz das Gegenteil ist der Fall, verstehen doch Gewährsleute wie Platon, Aristoteles und Sextus Empiricus ‚Mensch‘ ganz selbstverständlich im konkret-individuellen Sinn. Und diese Lesart ist insofern aufschlussreich, als sich ihr zufolge anhand dieses Satzes mehrere zentrale Aspekte des sophistischen Bildungs- und Erziehungsprogramms ins Licht rücken lassen.

Zunächst einmal spricht sich in ihm die sophistische Überzeugung aus, die Dinge seien für uns nur insofern interessant und erkennbar, als sie zu uns in einer Beziehung stehen. Welt ist das, mit dem wir handelnd umgehen. Eine Welt ‚hinter‘ der sichtbaren, für uns wahrnehmbaren Welt – eine „Hinterwelt“, wie Nietzsche später sagte – ist für die Sophisten, da sie uns gemäß unserer Organausstattung, die uns immer nur den Zugang zu dieser phänomenalen Welt eröffnet, völlig uninteressant und braucht uns nichts anzugehen. (Eine solche Sicht der Dinge enthält natürlich brisanten theologischen Sprengstoff!)

Darüber hinaus stellt dieser Satz des Protagoras noch einmal klar und deutlich heraus: Erkenntnisse haben nur insofern eine Bedeutung für den Menschen, insofern er praktisch, also handelnd mit den Dingen umgeht. Verdeutlichen wir uns das an einigen wenigen alltäglichen Beispielen. So gibt es etwa kein Maß an sich für Kälte oder Wärme. Es ergibt keinen Sinn zu sagen, bis zu so und soviel Grad Celsius reicht die Kälte, und ab dem nächsten Grad beginnt die Wärme. Sondern, und darauf will Protagoras mit seinem Satz hinaus, ob etwas – beispielsweise der Wind – als kalt empfunden wird, hängt vom jeweiligen Menschen ab: Der einzelne Mensch ist hier das Maß der Kälte; für einen einzelnen, individuellen Menschen ist etwas kalt oder nicht.

Ähnlich verhält es sich mit einer Orange: Der eine empfindet den Geschmack ein und derselben Orange als süß, ein anderer dagegen als sauer. Es gibt hier kein objektives Maß von Süße. Das Maß der Süße ist der individuelle Mensch. Und genau diesen Sachverhalt akzentuiert Protagoras, wenn er behauptet, der Mensch sei das Maß der Dinge. Der Mensch ist das Maß der Süße einer Orange – aber nicht der Süße an sich von Orangen überhaupt, sondern nur insofern, als ein konkret-einzelner Mensch zu einer bestimmten Orange in einer bestimmten Beziehung steht.

So manch einer wird in Anbetracht solcher Überlegungen das Schreckgespenst eines allumfassenden Relativismus – nicht nur eines Kulturrelativismus – an die Wand malen. Wiederum andere haben den Homo-mensura-Satz mitsamt seinem Verfasser als selbstherrlich brandmarken – die abendländische Geistesgeschichte legt davon beredtes Zeugnis ab! – und auf diese Weise die Bildungsbemühungen der Sophisten selbst relativieren, wenn nicht gar in Bausch und Bogen verdammen wollen. Aber ganz so abgrundtief relativistisch ist die sophistische Lehre und ganz so schrecklich selbstherrlich, wie es mancher augenscheinlich gern hätte, ist der einzelne Mensch nach Auffassung des Protagoras nun denn doch nicht. Denn Protagoras, und mit ihm andere seiner Sophisten-Kollegen, haben durchaus gesehen und es auch eigens betont, dass der einzelne Mensch in einer konkreten Lebenswelt lebt und dass diese Lebenswelt zutiefst kulturell geprägt ist, dass sie, mit der spezifisch sophistischen Begrifflichkeit gesagt, von einem Nomos getragen wird, und das heißt ja: von Gesetzen, Gebräuchen, Sitten, Normen, Werten und dergleichen mehr. Dieser Nomos artikuliert sich, modern gesprochen, als öffentliche Meinung. Und von der ist der einzelne Mensch immer schon mehr oder weniger, je nach individuell unterschiedlicher Beeinflussbarkeit, geprägt. Da nun die öffentliche Meinung übermächtig werden, die Entwicklungsbemühungen des Einzelnen hemmen, seinem Versuch, sein Leben selbst- und eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen, unterlaufen kann, ist der Einzelne nach sophistischer Ansicht gut beraten, seine individuellen Interessen offensiv zu artikulieren und, soweit ihm das innerhalb des ihn tragenden und prägenden Nomos möglich ist, durchzusetzen. Hierbei versuchten ihm die Sophisten Hilfestellung zu geben, indem sie ihre ausgefeilten Argumentations- und Disputierkünste entwickelten und auf dem freien Markt anboten, damit der Einzelne ein Instrument an die Hand bekam, um seine Ansichten und Interessen wirkungsvoll im öffentlichen Raum zur Geltung bringen und verteidigen zu können.

Weiteres zur Bildungsidee der Sophistik lässt sich einem Dialog Platons entnehmen. Dieser Dialog trägt den Titel Protagoras, in dem eben dieser Sophist selbst auftritt. In diesem Dialog kommt es zu einem Streitgespräch zwischen Sokrates und Protagoras hinsichtlich der Frage, ob die Tugend – die Areté – etwas ist, das der Mensch von Natur aus besitzt, oder ob sie nicht vielmehr Produkt der Kultur ist – und infolgedessen etwas, was dem Menschen gelehrt, was ihm anerzogen werden kann. Mit anderen Worten gesagt, der Streit dreht sich um die Frage: Ist die Tugend Physis oder ist sie Nomos? Es dürfte klar sein, dass Protagoras für Letzteres plädiert. Um seine Position zu stützen, erzählt er einen Mythos (so jedenfalls stellt Platon es dar).15 Bei diesem Mythos handelt es sich nun aber nicht um eine bloße ‚Göttererzählung‘ oder eine ‚Sage von den Göttern‘, wie sie vor allem von Homer und Hesiod überliefert worden sind. Vielmehr will er im Sinne eines philosophischen ‚Kunst-Mythos‘ verstanden werden, als eine rational, also mit Gründen, belegbare Darstellung von Wahrheiten, in denen menschliche Grunderfahrungen zum Ausdruck gelangen.

Dieser Mythos handelt von dem Hervortreten und der spezifischen Ausstattung der Lebewesen, einschließlich des Menschen. Die Götter, so beginnt die Erzählung, schufen anfangs die Lebewesen aus Feuer und Erde und aus dem, was aus Feuer und Erde gemischt ist, also eine Art Rohling. Dann übertrugen sie dem Brüderpaar Prometheus und Epimetheus aus dem Geschlecht der Titanen die Aufgabe, die Lebewesen auszustatten. Den griechisch sprechenden Menschen der damaligen Zeit war mit diesen beiden Namen ein wesentlicher Hinweis auf den weiteren Gang der Ereignisse gegeben, denn ‚Prometheus‘ bedeutet ‚der Vorsorgliche‘, ‚der Vorausbedenkende‘, während ‚Epimetheus‘ der ‚Nachbedenkende‘, der ‚Im-nachhinein-Denkende‘ ist.

Epimetheus überredet nun seinen Bruder, ihn diese Aufgabe der Ausstattung der Lebewesen allein ausführen zu lassen. Wenn er sein Werk vollendet habe, dann könne er, Prometheus, kommen und es besichtigen und begutachten. Prometheus lässt sich darauf ein. Bei der Namenskonstellation ahnt man schon, dass das nicht gut gehen kann!

Epimetheus macht sich also ans Werk: Einigen Lebewesen verleiht er Stärke, aber keine Schnelligkeit; die schwächeren stattet er hingegen mit Schnelligkeit aus. Einige bewaffnet er, indem er sie mit scharfen Zähnen, Krallen und dergleichen versorgt. Anderen gibt er eine wehrlose Natur. Damit auch sie überleben können, verleiht er ihnen Flügel oder schafft ihnen Höhlen, in denen sie sich verbergen können.

Dem ersten Eindruck nach stellt sich Epimetheus, trotz des bösen Omens, das in seinem Namen mitschwingt, gar nicht so ungeschickt an. Aufs Ganze gesehen versucht er nämlich alle Eigenschaften ausgleichend zu verteilen. Geleitet ist er dabei von dem Gedanken: „Dies aber ersann er so aus Vorsorge, daß nicht eine Gattung gänzlich verschwände.“16 Das allein ist ein bemerkenswerter Gedanke!

Nun belässt Epimetheus es jedoch nicht bei der Ausstattung mit Eigenschaften wie den genannten. Einige Lebewesen versah er zudem mit „Bekleidung“, das heißt mit dichten Haaren und Fellen, die in der Lage waren, vor Kälte und Hitze gleichermaßen zu schützen. Zudem versah er einige unter den Füßen mit Hufen und Klauen, andere mit Häuten. Darüber hinaus wies er den Lebewesen unterschiedliche Nahrungsquellen zu: „Dem einen aus der Erde die Kräuter, dem anderen von den Bäumen die Früchte, einigen auch verordnete er zur Nahrung anderer Tiere Fraß.“17

So weit, so gut – könnte man vielleicht meinen. Aber, so heißt es in der Geschichte, die Protagoras vorträgt, Epimetheus war eben „doch nicht ganz weise“.18 Denn er hatte, wie er mit Entsetzen feststellen musste, bereits alle ihm zur Verfügung stehenden Eigenschaften und Kräfte für die unvernünftigen Lebewesen verbraucht – und das Geschlecht der Menschen war noch mit nichts bedacht worden!

Damit gibt Protagoras zu verstehen: Als Physis, also als Naturwesen, ist der Mensch ein Wesen, das mit ganz spezifischen Benachteiligungen leben muss: Er besitzt keine natürliche Ausstattung, die ihn vor der Vernichtung durch andere Lebewesen schützen könnte: Er ist weder der Stärkste noch der Schnellste, er besitzt weder Krallen noch Klauen noch Flügel. Außerdem ist er von Natur aus weder gegen Kälte noch gegen Hitze hinreichend geschützt. Auch gibt es von Natur aus keine ihm spezifische Nahrung. Kurz und gut, der Mensch als Physis ist, wie später Johann Gottfried Herder und Arnold Gehlen sagen werden, ein ‚Mängelwesen‘ – und mithin ein ‚riskiertes Wesen‘.

Just in dem Moment nun, in dem Epimetheus bewusst wird, dass er für die Menschen keinerlei Ausstattung mehr im Lager hat, kommt Prometheus, um das Werk seines Bruders zu begutachten – und ist, natürlich, geschockt. Und er überlegt: Wie kann man dieses höchst gefährdete Wesen noch retten? Denn unter rein natürlichen Bedingungen, das wird ihm sofort klar, wäre es innerhalb kürzester Frist um es geschehen.

Und er findet einen Ausweg: Er schleicht sich in die gemeinsame Werkstatt des Hephaistos und der Athene. Dem Hephaistos, dem Gott des Feuers, der Schmiede und der Handwerker, stiehlt er das Feuer und die Handwerkskunst, und der Athene, der Schützerin der Städte – besonders Athens –, der Künste und der Wissenschaft, raubt er die Künste und die Wissenschaft (wofür er später von den Göttern grausam bestraft wird), und bringt all das den Menschen und stattet sie damit aus. Auf diese Weise gelingt es ihnen, mittels technischer Produkte ihr nacktes Überleben, ihre Physis, zu sichern. Aber noch fehlen ihnen jegliche über handwerklich-technische Produkte hinausgehende Kulturgüter: Sie kennen weder Städte noch staatliche Ordnungen, sie besitzen weder Sprache noch Religion, auch mangelt ihnen die ‚bürgerliche Kunst‘, das meint die Einsicht in das Funktionieren und den Ablauf zivilisatorischer Prozesse, zudem haben sie keinerlei Gerechtigkeitsvorstellungen. All diese Mängel führen dazu, dass die Menschen auf dem besten Weg sind, sich gegenseitig auszurotten. Zeus, der das eine Zeit lang mit ansieht, gerät allmählich in Sorge um den Erhalt des Menschengeschlechts. Daher schickt er seinen Boten Hermes zu den Menschen, um ihnen sittliche Scheu und Rechtsgefühl zu bringen, damit dies beides Ordnung in das Zusammenleben bringe und Eintracht unter den Menschen stifte.

So sind es in diesem Mythos, den Platon Protagoras erzählen lässt, noch die Götter, welche am Ende die Menschen retten, indem sie ihnen Zivilisationstechniken und Tugenden vermitteln. Aber im Anschluss an die Erzählung des Mythos liefert Protagoras sogleich seine Deutung der Geschichte nach. Dieser Mythos nämlich soll für ihn darlegen, dass Menschen Kultur und Tugenden nicht von Natur aus haben, dass sie nicht ‚von selbst‘ kommen, sondern dass man dergleichen von einem anderen hat, dass, mit anderen Worten, Kultur und Tugend lehrbar sind, dass es sich bei ihnen um Bildungsgüter handelt.

Aufs Ganze gesehen stellt Protagoras damit auf folgenden Sachverhalt ab: Von Natur aus ist der Mensch ein Mängelwesen. Er ist, so heißt es im Dialog, „nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet“.19 Aber er verfügt über Fähigkeiten, die kein anderes Lebewesen besitzt, nämlich Sprache, Religion, zivilisatorische Techniken, Tugend. Und diese allein dem Menschen eigentümlichen Fähigkeiten sind Produkte der Kultur: All das hat der Mensch nicht von Natur aus, sondern das hat er sich alles selbst geschaffen. Und eben deshalb ist es lehr- und lernbar. Zu all dem kann der Mensch gebildet, kann er erzogen werden.

Diese Überzeugung bildet das Zentrum der sophistischen Bildungs- und Erziehungsbemühungen. Um es herum lagern sich weitere, freilich unterschiedlichste Bildungsgehalte und -bestrebungen an. Gorgias aus Leontinoi in Sizilien, dem man nachsagte, ein Lebensalter von 108 Jahren erreicht zu haben (483–375 v. Chr.), ein ebenso einflussreiches und wirkmächtiges Mitglied der sophistischen Bewegung wie Protagoras, ging es weniger darum, ein Lehrer der Tugend zu sein. Gorgias trat vor allem als universell gebildeter Sprachkünstler auf, der den Anspruch erhob, zu schlechterdings jedem Thema aus dem Stegreif eine umfassende Rede halten zu können. Sein erklärtes Ziel war es daher, hervorragende Redner heranzubilden, die den seiner Ansicht nach primären Zweck der Redekunst erreichen: die Beherrschung des Menschen nämlich. Diesem Ziel ordnete er so gut wie alles unter: Wahrheit ebenso wie Sachlichkeit, Tugend ebenso wie Redlichkeit – Hauptsache war allemal der rhetorische (Schein-) Erfolg. Kein Wunder daher, dass er eine Lehre von der „berechtigten Täuschung“ entwickelte! Mit all dem arbeitete er jedoch der Selbstzersetzung der Sophistik in die Hände, die ja ursprünglich angetreten war, die zeitgenössische Gesellschaft im Sinne eines positiven, am Begriff der Areté, der Tugend, der Trefflichkeit orientierten Bildungsideals aufzuklären und zu formen.

Andere, wie etwa Thrasymachos, den Platon im ersten Buch seiner Schrift über den idealen Staat auftreten lässt, vertraten die äußerst problematische Lehre vom Recht des Stärkeren und koppelten sie mit der Behauptung, das Leben des Ungerechten sei bei Weitem besser als das des Gerechten, sodass also die vollendete Ungerechtigkeit nützlicher sei als alle Gerechtigkeit. Infolgedessen erweise sich die Gerechtigkeit im hergebrachten Verständnis als Einfalt. Mit solchen waghalsigen Thesen sorgten sie mit dafür, dass die Sophistik nach und nach in Verruf geriet. Dazu trug auch bei, dass in der Schülergeneration der Sophistik der Brauch verbreitet war, für ein und denselben Prozess beispielsweise gleich mehrere Reden zu verfassen: eine für und eine gegen die Anklage, und eine für und eine gegen die Verteidigung – eine, gemessen am heutigen Anwalts-Ethos, haarsträubende Praxis.

Wiederum andere fühlten sich hingegen mehr dem ursprünglichen Bildungsideal verpflichtet. Zu erwähnen wäre hier etwa Prodikos, der nicht nur eine ausgefeilte Sprachtheorie entwickelte, die in den Wortbezeichnungen das Wesen der Dinge angedeutet fand, sondern auch rein rationale, also nicht mehr mythisch rückversicherte Argumente hinsichtlich des Ursprungs von Religion, Staat und Ethik entwickelte und sie zu rein menschlichen Erfindungen erklärte. Während jemand wie Demokrit die Religion aus der Furcht herleitete, begriff Prodikos sie als eine psychische Reaktion auf die Förderung, die dem menschlichen Leben aus dem Kosmos, vor allem aber aus der Erde, zuteilwerde. Die Menschen, so argumentierte er, erblickten darin ein Wohlwollen höherer Mächte, die sie im Laufe der Zeit zu Göttern personalisierten und denen sie mittels ihrer Opfergaben dankten. Und Staat und Ethik entstanden, weil das Zusammenleben der Menschen gesetzliche Regelungen gewissermaßen erzwang. Aus dieser Erfahrung entwickelten sich dann Vorstellungen hinsichtlich dessen, was gerecht ist. Nachdem Gerechtigkeit als Sitte etabliert war, entwickelte sich solche Sitte zur Sittlichkeit, zur Ethik.

Zu ähnlichen Überzeugungen hinsichtlich des menschlichen Ursprungs von Religion, Staat und Ethik hatte sich ja bereits Protagoras bekannt. Vertreten wurden sie überdies auch von Kritias, einem Verwandten Platons, und einem gewissen Antiphon. Letzterer wurde darüber hinaus noch aus einem anderen Grund berühmt beziehungsweise, je nach Perspektive, berüchtigt, auf alle Fälle aber reich. Er nämlich machte sich die Schwierigkeiten zunutze, in die die Bauern durch Gerichtsverhandlungen verwickelt wurden. Und zwar kam er auf die Idee, jedem, der vor Gericht erscheinen musste, seine Dienste als Reden- und Plädoyerschreiber anzubieten – gegen entsprechende Entlohnung, versteht sich. Da seine Klienten überwiegend Analphabeten waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die von Antiphon verfassten Reden und Plädoyers auswendig zu lernen. Die Zeit, in der sie die Reden auswendig lernten, ließ sich Antiphon selbstverständlich auch honorieren. Zudem entdeckte er für sich eine weitere Marktlücke: Er gründete nämlich eine Art therapeutischer Praxis, die er „Institut für Tröstungen“ nannte, und vertrat theoretisch wie praktisch die Überzeugung, psychische Leiden allein mit Worten heilen zu können. So gesehen haben wir es hier mit der ersten psychotherapeutischen Praxis des Abendlands zu tun.

Über all diese Figuren hinaus ist zudem hinzuweisen auf Hippias, einen jüngeren Zeitgenossen des Protagoras, dessen Lebenszeit um 400 v. Chr. anzusetzen ist. Er führte nicht nur die Physis-Nomos-Unterscheidung fort, sondern trat außerdem entschieden für eine Aufwertung und Gleichstellung der Frau auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein. Außerdem entwarf er ein Konzept einer enzyklopädischen Jugendbildung und hinterließ uns eine Liste der Olympia-Sieger. Vor allem aber proklamierte er die Autonomie und Autarkie des Individuums im Sinne einer weitestgehenden Unabhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft. Was das konkret bedeuten konnte, demonstrierte er eindrucksvoll bei einem legendären Auftritt bei den Olympischen Spielen, wo er in Kleidern und Schmuck erschien, die er vom Umhang bis zu den Sandalen und den Fingerringen selbst hergestellt hatte.

Letzten Endes aber waren es Sophisten wie der bereits erwähnte Gorgias oder Euthydemos – denen Platon ebenso wie Protagoras, Hippias und Menon ein literarisches Denkmal setzte, indem er sie in Titeln seiner Dialoge verewigte –, die mit ihren dialektischen Kniffen, argumentationslogischen Kunstgriffen, Scheinargumenten, rhetorischen Finten, ihren den Verstand verwirrenden Paradoxien und Paralogismen die Sophistik mehr und mehr in den Ruf einer nicht länger ernst zu nehmenden Wortverdreherkunst brachten, die ihr eigentliches Bildungsziel aus den Augen zu verlieren und sich in erster Linie an schier hemmungslosen Spitzfindigkeiten zu delektieren schien.

Auch wenn Platon immer wieder seinen Sokrates als Gegengift gegen die Sophistik in Stellung bringt und damit einen fundamentalen Gegensatz zwischen beiden suggeriert, so darf doch nicht übersehen werden, dass zwischen Sokrates und einzelnen Vertretern der Sophistik, wie beispielsweise Prodikos, durchaus freundschaftliche Beziehungen bestanden. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund sind solch freundschaftliche Beziehungen indessen nur zu verständlich, bekämpften doch beide, die Sophisten ebenso wie Sokrates, die gleichen Gegner: die überkommenen Autoritäten, die sich einem eigenständigen Denken und einer selbst verantworteten Lebensführung hindernd und hemmend in den Weg stellten und jegliche Aufklärung im Keim zu ersticken versuchten. Sie orientierten sich beide an ein und demselben Ideal: dem der Paideia, der Bildung und Formung des Menschen.

Entscheidend mitinitiiert durch die Sophisten setzt sich demnach schon früh in der abendländischen Geistesgeschichte die Einsicht durch, dass der Mensch der Erziehung und Bildung im Sinne der Paideia bedarf. Ja, dieser Gedanke nimmt bereits bei den Sophisten die Gestalt an, Paideia als ein Anthropinon zu begreifen, als etwas, das unabdingbar und unaufgebbar zum Menschsein gehört – und das, wie man von ihnen lernen kann, in zweifacher Hinsicht. Erstens steht, so gibt Protagoras in seinem von Platon formulierten Mythos zu bedenken, der Mensch ohne Paideia in der Gefahr, sich als Gattung selbst auszurotten. Und zweitens bedürfen Menschen bei der Meisterung und Gestaltung ihres Lebens sowie der Ausbildung von Areté kundiger Führer, die in der Lage sind, die Epimeleia Heautou, die Sorge um sich und die Kultivierung der Existenz anzuleiten.

Die Schule der Philosophen

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