Читать книгу Die Angst der Schatten - Friedrich Karl Schmidt - Страница 3
1. Unter Druck
ОглавлениеEine gewaltige Kraft, deren Ursprung er nicht zu erkennen vermochte, sog ihn in einen engen Schacht, zerrte an seinem Leib. Vergeblich der Versuch, sich mit den Füßen dem ungeheuren Sog entgegenzustemmen, sich mit den Händen am Schachtrand festzukrallen. Wie im Fahrstuhl eines Bergwerks raste die Wand an ihm vorbei, seine Finger fanden keinen Halt, um die Fahrt abzubremsen, rasend schnell flutschte er nach unten, der kühle Luftzug nahm ihm den Atem. Mit an den Leib gepressten Armen rutschte er mit den Füßen voraus bis zur Schachtsohle, eisiger Wind blies ihm aus dem Stollen entgegen, es war bitter kalt. Bibbernd erwachte er, wickelte die Decke um sich, stand auf, schloss das Fenster. Schnee lag, über Nacht war es Winter geworden.
Beklemmende Träume folgten ihm weit in den Tag hinein, es brauchte Stunden, bis sich die wie ein Panzer seine Seele umschließenden Bilder auflösten. Die Albträume läuteten den Beginn eines Wandels ein, der sein Leben umformen sollte. Gegen seine Gewohnheit, auf warnende Vorgefühle zu achten, tat er es in diesem Fall nicht, obwohl er spürte, dass sich im Kopf etwas Fremdes und Störendes einnistete, das sich nicht fassen ließ. Er konnte nicht ahnen, dass ihn die nicht fasslichen Gefühle bald mehr beunruhigen sollten als all die unangenehmen Einflussversuche von außen. Zunächst waren es bloß lästige Nadelstiche, mit denen ihn Institutionen und andere Einrichtungen drangsalierten, aber Zahl und Intensität nahmen zu, arteten in Belästigungen aus, reihten sich aneinander wie billige Glasperlen auf einer Schnur, drohten sein Dasein zu vergiften. Bald konnte er die Möglichkeit nicht mehr ausschließen, dass die Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten, einen Zusammenhang aufwiesen, so absurd das schien. Anfangs hatte er den Vorfällen wenig Bedeutung beigemessen, sie verdrängt, aber sie wuchsen zur Belastung aus, ließen sich nicht mehr ignorieren. Noch wollte er der naheliegenden Folgerung, dass es sich nicht um zufällig übereinstimmende Unannehmlichkeiten handelte, sondern ein gemeinsamer Nenner für Albträume und Missliebigkeiten zu finden sein müsste, keine Gültigkeit zubilligen.
Das allgemeine Unbehagen, das ihn in den Krallen hatte, entzog sich jeder logischen Überprüfung. Es wurde durch eine Vorahnung verstärkt, in ein Abenteuer mit unabsehbaren Folgen zu schlittern. Auch wenn er von Prophezeiungen im Traum nicht viel hielt, beschäftigten ihn die Befürchtungen mehr als ihm lieb war. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, sie begrifflich zu fassen, entwanden sie sich dem Zugriff wieder. Wie das klebrige Netz einer Spinne überzogen diffuse Eindrücke und unscharfe Bilder sein Denken, sonderten wie ein Filter jeden Einwand gegen ein Wagnis aus, dessen Inhalt im dichten Nebel unkenntlich blieb. Er spürte, es lag nicht in seiner Macht, Einfluss auf die Gestaltung zu nehmen. Die nicht fasslichen Empfindungen riefen Unsicherheit hervor, die sich nicht nur im Alltag bemerkbar machte, sondern auch seine Träume formte: Es tauchten Situationen auf, die nicht vorhersehbare Geschehnisse vorwegnahmen und stets mit Ängsten gepaart waren. Das sollte ihm erst bewusst werden, als der Weg zurück bereits versperrt war.
Im Traum war ihm Vater erschienen, hatte ihm prophezeit, er werde eine Welt kennen lernen, die zuvor kein Lebender zu sehen bekommen hat. Gewiss, die Ankündigung war eine Illusion, doch blieb sie nicht ohne Wirkung, passte sie doch zu dem Vorgefühl, das Spannung und nie Geschautes verhieß. Es war wie früher, wenn er eine Reise in ein Land plante, wo Gefahren und Schwierigkeiten auf ihn warteten.
Im beruflichen Alltag häuften sich ärgerliche Vorkommnisse über das übliche Maß hinaus und erschwerten die Arbeit an der Planung von Projekten, die unter hohem Zeitdruck standen. Im privaten Bereich wurden von allen möglichen Stellen ohne Angabe von Gründen plötzlich Bestätigungen oder seine Legitimation verlangt. Hintereinander geriet er in Fahrzeugkontrollen und was er zunächst als allgemeine Maßnahme zur Reduktion der Unfälle einstufte, ordnete er nach Gesprächen mit Bekannten, die nie kontrolliert wurden, den Schikanen zu. Innerhalb eines Monats wurde er dreimal von der Polizei angehalten, musste ins Röhrchen blasen, Papiere, Verbandskasten, Licht und Bremsen aufs Genaueste überprüfen lassen, es war, als suchte man einen Grund, ihm das Leben zu erschweren.
Noch erschien ihm der Gedanke absurd, Albträume, Polizeikontrollen und Unannehmlichkeiten mit Behörden und Bürokratien könnten miteinander in Verbindung stehen, aber ganz ohne Zweifel beeinträchtigten sie die Lebensqualität und erhöhten seine Nervosität. Das wurde ihm bewusst, als er abends, um die Einschlafzeit hinauszuzögern und den Albträumen durch Übermüdung zu entgehen, stundenlang durch die Stadt lief und plötzlich vermeinte, neben sich Schritte zu hören, so deutlich, dass er sich zur Seite drehte, aber da war niemand außer seinem Schatten. „Das gibt‘s doch nicht“, murmelte er, „lasse mich vom eigenen Schatten ins Bockshorn jagen!“ Zu Hause pulte er Steinchen aus den Sohlen, sie mussten das Geräusch erzeugt haben, er lachte laut.
Das Lachen verging ihm, als er tags darauf eine Bekannte im Krankenhaus besuchen wollte. Schnellen Schritts lief er durch die sparsam beleuchteten Gänge, fand die ihm in der Auskunft erteilte Zimmernummer, klopfte. Es rührte sich nichts, er klopfte energischer und als abermals keine Antwort kam, drückte er die Klinke nieder und trat ein. Hinter ihm fiel die Tür zu. Der Raum war stockdunkel, seine Hand suchte den Lichtschalter, fand ihn nicht, er tastete sich an der Wand längs weiter. Kein Lichtstrahl drang durch die Fenster, die Jalousien waren herabgelassen und die schweren Vorhänge zugezogen. Ein kratzendes Geräusch, das sich anhörte, als schärfte eine Katze ihre Krallen, erschreckte ihn. Er wollte raus, griff suchend nach Lichtschalter und Türklinke, Panik erfasste ihn, der Puls klopfte bis zum Hals. „Bleib ruhig, ganz ruhig!“, ermahnte er sich, hangelte sich an der Mauer entlang, stieß auf einen Metallrahmen, ein Bett, tastete sich weiter, bekam einen Arm zu fassen, lies ihn entsetzt los. Schritt für Schritt bewegte er sich zurück, erreichte die Tür, riss sie auf und hetzte den Flur entlang zum Ausgang. Minutenlang atmete er die scharfe feuchte Luft ein, die der Wind von der See ins Land blies, ehe er wieder die Auskunft aufsuchte.
„Sie haben mir eine falsche Zimmernummer gegeben“, sagte er missmutig, noch außer Atem.
Ein Zeigefinger fuhr auf der Liste nach unten und plötzlich begann die Frau hinter der Scheibe zu lachen. „Oh Gott, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, habe tatsächlich das falsche Zimmer erwischt! Sie waren im Institut für Pathologie.“ Sie wischte sich Lachtränen aus den Augen. „Wenn ich das den anderen erzähle …“, gluckste sie. „Eigentlich ist Vorschrift, dass abgeschlossen wird, der Professor hat wohl wieder vergessen.“ Lachend nannte sie eine andere Nummer, entschuldigte sie sich abermals.
Carl verschob den Krankenbesuch, eilte zum Parkplatz, warf einen Blick auf die Fenster mit den geschlossenen Rollläden. Auf der Heimfahrt winkte ihn eine Streife auf den Parkplatz einer Tankstelle.
„Ihr linker Scheinwerfer brennt nicht.“ Bei der Kontrolle der Papiere beanstandete der Polizist das Foto im Führerschein, es sei zu alt. Carl wechselte das Birnchen aus. Tage später erschien er mit neuem Passbild in der Behörde, nun hieß es, die Fahrerlaubnis verliere demnächst ohnehin ihre Gültigkeit, er solle das Formular hier ausfüllen und die angekreuzten Unterlagen nachreichen.
Die Unannehmlichkeiten häuften sich, er gewann den Eindruck, Ämter und andere Stellen, mit denen er zu tun hatte, waren darauf aus, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Die Krankenkasse lehnte Leistungen ab, die bisher immer genehmigt worden sind, jedes Mal war ein Widerspruch fällig. Die Bank forderte bei Abhebungen die Unterschrift seiner Frau, obwohl er deren Totenschein vor Monaten übersandt hatte. Ein Geldinstitut, dem er pünktlich die Raten für einen Kredit überwies, verlangte eine Bestätigung seines Einkommens, obgleich bei der Bewilligung alle Unterlagen vorgelegen hatten. In einer Behörde wurde er von einer Abteilung zur anderen geschickt, als er eine Beschwerde wegen nicht erfolgter Erledigung eines Antrags einbringen wollte. Immer hieß es, das könne nicht angehen, niemand hier habe ihm diese Auskunft gegeben, er müsse sich verhört haben. Am Ende landete er bei der gleichen Stelle, bei der er gestartet war, als hätte man ihn absichtlich in die Irre geführt. Einmal drang er in die Direktion einer Versicherung vor, um zu reklamieren. Die Sekretärin mit tiefen Ausschnitt, die gern zeigte, was sie hatte, ließ ihn abblitzen und erklärte, es sei das falsche Stockwerk, die Direktion nehme grundsätzlich keine Beschwerden entgegen, dafür sei die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Sie sah die Zornesröte in seinem Gesicht hochsteigen, fügte beschwichtigend hinzu, bei den vielen Abteilungen könne man sich schon mal irren. Erste Zweifel über der Annahme, dass alles harmlose Zufälle seien, ließen sich nicht mehr unterdrücken.
Das Abschleppen seines Autos passte in das Puzzlespiel. Er hatte, um die Kollegin aus Russland am Flughafen abzuholen, das Auto im Parkverbot abgestellt, es war alles besetzt. Als er mit der Russin zurückkam, war der Wagen weg. Sie suchten umliegende Straßen ab, es wäre nicht das erste Mal, dass er den Standplatz verwechselt hätte.
Elena lachte. „Ich habe nicht gedacht, dass in Hamburg Diebe ihr Unwesen treiben wie in Moskau.“
Die Werbung für einen Abschleppdienst an der Verbotstafel brachte ihn auf die Idee, bei der Polizei nachzufragen und er wurde fündig: Sie hatte das Abschleppen des Wagens veranlasst, Kosten plus Strafe waren fällig. Beim Versuch, wenigstens die Strafe abzuwenden, wurde er gewarnt, bereits anderen Dienststellen unangenehm aufgefallen zu sein. Er war nicht überrascht, als er feststellte, die Behörde eines anderen Bundeslandes verfügte über Informationen, die er ihr nicht übergeben hatte.
Die Kollegin, die so gut deutsch sprach, dass viele nicht glauben wollten, dass sie Russin war, wunderte sich, als Carl ihr die Aufforderung der Polizei zeigte, er habe den Kaufvertrag fürs Auto vorzulegen, ein ähnlicher Wagen sei als gestohlen gemeldet.
„Die Polizei schätzt dich wohl sehr“, feixte sie.
„Vermutlich Schlamperei“, entgegnete er, „es gibt hunderte gleiche Autos in der Stadt.“ Weder Zufall noch Schlendrian war es, als er auf dem Parkplatz der Hochschule tiefe Schrammen in den Autotüren entdeckte. Er vermutete, ein Student, der in der Prüfung nicht so gut abgeschnitten hat wie er sich eingeschätzt hatte. Die Versicherung nahm den Schadensfall zum Anlass, die Prämie zu erhöhen. Das Finanzamt teilte ihm eine ungünstigere Steuerklasse zu und mit gleicher Post traf die Mahnung ein, die überfällige Steuerklärung zu schicken, verbunden mit einem Zahlschein für den Säumniszuschlag. Er hatte die Unterlagen längst abgesandt, der Beamte behauptete, sie seien nicht eingetroffen. Erst als sich Carl nach der Telefonnummer der übergeordneten Behörde erkundigte, fand sich die Akte. Die Klinik schickte Rechnungen über eine Operation, die ein Jahr zurück lag, er musste sich wegen der überzogenen Frist herumstreiten. Alles kaum erwähnenswerte Banalitäten, in der Häufung jedoch misslich, die seine Gelassenheit erschütterten. Er merkte es, als er an der Anlegestelle der Fähre unter dem gewaltigen Ahorn wartete. Bogenlampen an der Straße zu den großen Fährschiffen ins Baltikum warfen den Schatten des Baums auf den Kai; er beobachtete verblüfft einen zweiten, der nach dem Lichteinfall nicht existieren dürfte und der ihm, als er zur Stiege an der Kaimauer ging, zu folgen schien. Es war kein gewöhnlicher eindimensionaler Schatten, sondern hatte die Form eines menschlichen Körpers. Das Schiff legte an, misstrauisch blickte er zurück, als könnte der Schatten mit an Bord gehen. Schnell lief er über die mit Seilen gesicherte Planke an Deck.
Die Erscheinungen nannte er Schattenspiele, sie hielten auch in seine Träume Einzug. Er spazierte mit einem Schatten, der aufrecht neben ihm ging und dessen Haltung der seines toten Vaters glich, an endlos langen Gebäuden entlang, die alle gleich aussahen, in deren Mauern runde Löcher geschnitten waren, wie Bullaugen. Gelblicher dicker Nebel lag über der Anhäufung grauer Bauten. Sie gingen und gingen, Vaters Schatten wich nicht von der Seite, bis sich der Nebel so verdichtete, dass nichts mehr zu erkennen war und er erwachte. Bei Tag verdrängte er die Schattenwelt, doch hartnäckig drängte sie sich immer wieder zwischen seine Gedanken.
Eine Woche hatte er Ruhe vor Belästigungen durch Staat und Bürokratien, frohlockte schon, damit sei es vorbei, als ihn Strafzettel wegen überschrittener Geschwindigkeit und überzogener Parkzeiten, beides in geradezu lächerlichem Ausmaß, eines Schlechteren belehrten. Das Finanzamt schickte den Steuerbescheid an die Kinder. Sie hatten zwar das Haus geerbt und ihm stand nur das Wohnrecht zu, doch bedeutete das nicht seine Entmündigung. Sein Widerspruch wurde mit haarsträubenden Begründungen abgewiesen. Um zu vermeiden, auf die schwarze Liste gesetzt zu werden, schaltete er die Anwältin nicht ein. Es wurde so schon bei jeder Eingabe ein Haar in der Suppe gefunden, wurden kleinste Unterlassungen beanstandet. Und wiederum musste er feststellen, dass ein Amt über Informationen verfügte, die er nicht zugeschickt hatte. Der Gedanke lag nahe, dass die Schwierigkeiten, die früher an ihm abgeperlt wären wie Regentropfen von der Öljacke und nun zunehmend sein Lebensgefühl beeinträchtigten, in einem Zusammenhang standen. Vorkommnisse, über er sonst gelacht hätte, begannen ihn zu beunruhigten wie spätabends in der Fakultät. Gemächlich schlenderte er zum Lift, in Gedanken beim Fax aus Russland, als das Licht ausging. Er knipste es an, da erschien an der Wand ein Schatten, den es nicht geben dürfte, da die Deckenlampen den Gang gleichmäßig ausleuchteten und seiner bloß ein kleiner dunkler Kreis am Boden war. Hastig drückte er den Liftknopf, als befürchtete er, die Gestalt an der Wand könnte ihm in den Aufzug folgen. Beim Aussteigen sah er sie verdutzt wieder, als hätte sie auf ihn gewartet. Wie gehetzt verließ er das ehemalige Verwaltungsgebäude der Werft und eilte über das nass glänzende Kopfsteinpflaster zur Anlegestelle.
Auf dem Gelände wohnten in den Häusern am Rand Zuhälter, die abends mit ihren Kampfhunden durch die Gegend flanierten. Die Warnung des Rektorats, nach Einbruch der Dunkelheit umgehend das Gelände zu verlassen, hatte er wie die meisten ignoriert. Es war die letzte Fähre, er verspürte keine Lust, mit dem Bus um die Förde herum zu fahren. Als er hinter sich Schritte vernahm, ging er schneller, der andere ebenfalls. Verängstigt wischte sich Carl die Stirn und wandte sich um, doch da waren nur die Schatten der frisch gepflanzten Bäume. Sein eigener Schatten verlängerte und verkürzte sich beim vorbei Hasten an den Laternen; kam der Schein von hinten, wurde der Schatten vor ihm lang, näherte er sich der nächsten Laterne, kürzer und durchscheinend, verschwand schließlich, während der hinter ihm wuchs. Kam das Licht von der Seite, erschien ein kurzer, irgendwie geknickt aussehender Schemen an der Mauer, als wäre der Träger von einer schweren Krankheit verkrümmt worden. Und plötzlich gewahrte er, als bewegte sich jemand neben ihm, er wandte sich zur Seite. Und tatsächlich huschte eine schwarze Gestalt im Gleichtakt mit, obwohl nach den Lichtverhältnissen dort kein Schatten sein dürfte, sein eigener sogar in die entgegengesetzte Richtung fiel. Der fremde Schatten lag nicht flach auf dem Pflaster wie es sich gehörte, sondern ging aufrecht wie er, als marschierte eine dunkel verhüllte Figur neben ihm. Erleichtert, dass die Fähre noch nicht abgelegt hatte, eilte er über die Planke, die der Gehilfe sogleich einzog, als hätte er auf ihn gewartet.
Zu Hause lachte er über seine Angst, doch das dunkle Gebilde, das ihn unabhängig von der Beleuchtung wie eine erschöpfte Gestalt begleitet hat, ging ihm nicht aus dem Sinn. Tagsüber tat er sie als Ausgeburt seiner Fantasie und Anzeichen von Überarbeitung ab.
Die Ärgernisse hingegen, die nicht enden wollten, ließen sich nicht verdrängen und sein vager Eindruck, man schieße sich auf ihn ein, wandelte sich zur Gewissheit. Nur wer verbarg sich hinter dem „man“? Trug er, Carl, ein Brandmal auf der Stirn, ein Zeichen für Behörden und andere Stellen, ihn zu kontrollieren und zu drangsalieren? Bestand zwischen diesen Vorfällen und den nächtlichen Schattenspielen etwa doch ein Zusammenhang?
Auf dem Bildschirm tauchten geheimnisvolle Botschaften auf, die ihn aufforderten, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Werbesprüche entwickelten sich zu aggressiven Versuchen von Abzockern, ihn zu schröpfen. Das Vorschalten eines Filters nützte kurzzeitig, bis sie wieder auftraten, das Schutzprogramm austricksten oder den Rechner zum Absturz brachten. Der Ton verschärfte sich, unbekannte Firmen forderten ihn auf, Waren, die er weder bestellt noch erhalten hatte, innerhalb kurzer Frist zu bezahlen. Die Beträge für nicht gelieferte Dinge summierten sich, in unverschämtem Ton abgefasste Mahnungen folgten. Da er nicht daran dachte, den Aufforderungen nachzukommen, schickten Anwälte und Inkassofirmen Rechnungen, drohten mit Pfändung. Sein Anwalt riet, jede Forderung zurückzuweisen, löschen genüge nicht. Als die Belästigungen durch Schwindelfirmen, die mit kriminellen Methoden Geld einzutreiben suchten, für kurze Zeit seltener wurden, hoffte er, sie würden aufhören. Das war blauäugig, aber hinterher ist man immer klüger. Bald häuften sich die Attacken erneut, nötigten ihm Stellungnahmen ab oder zwangen ihn, Entgegnungen zu verfassen. Er war es müde, immerfort auf der Hut sein, auf etwas reagieren zu müssen. Zu den fortwährenden Ärgernissen kam die überraschende Erkenntnis, dass Informationen, die er einem Amt, einem Polizeirevier, einer Bank oder einer Versicherung anvertraut hatte, weitergegeben wurden. Als er sich im Finanzamt über verschlampte – der Auffassung war er jedenfalls – Unterlagen beschwerte, hieß es, er solle sich im Ton mäßigen, ihm eile schon der Ruf voraus, sämtliche Dienststellen und Organisationen zu kritisieren, ihnen gar Inkompetenz zu unterstellen. Er fragte Freunde, ob sie seinen Eindruck teilen, dass Staat, Verbände und Wirtschaft aufs Engste miteinander vernetzt seien und Daten von Bürgern oder Kunden trotz Verbot austauschten. Sie widersprachen seiner Befürchtung, dass das Raster, mit dem er angeblich beobachtet und kontrolliert werde, immer engmaschiger werde. Ein Jurist behauptete sogar, das sei völlig aus der Luft gegriffen.
Widerstrebend hatte er dem Drängen nachgegeben, die Bildübertragung beim Telefonieren zu übernehmen, hatte die Kamera am Monitor montiert. Das Unbehagen, dass Internetkonzerne und Geheimdienste durch die Kamera alles aufnehmen und verwenden konnten, verließ ihn beim Sprechen nie. Wer Mails abgreifen und weitergeben kann, schafft das auch mit Bildern. Am meisten aber störte ihn, keine Gesichter mehr schneiden zu können, wenn ihn eine Dauerrednerin langweilte.
Und immer Träume, die beklemmende Angstgefühle auslösten, vor allem, wenn sie sich wiederholten wie jener von den zwei Schatten, die ihn durch die Stadt führten, sich nicht abschütteln ließen. Schlug er Haken oder wechselte die Straßenseite oder lief unversehens in die entgegengesetzte Richtung, klebten sie an ihm wie Kletten, drängten ihn zu einem abgewohnten Haus aus der Gründerzeit. Kaum betrat er den dunklen Gang, verschwanden die Wächter. Er erwachte.
Kein Traum war es, sondern Realität, dass ihn mitunter Schatten begleiteten, die Gestalt annahmen. Physikalisch nicht zu deuten, schienen sie unabhängig von Lichtquellen zu existieren, traten auch an grau verhangenen Tagen auf, an denen Bäume oder Gebäude keine Schlagschatten warfen.
Die Belästigungen im Netz wurden aggressiv, eine Firma drohte, seinen PC lahm zu legen, wenn er den geforderten Betrag plus Bearbeitungs- und Mahngebühren nicht umgehend überweise. Einige Tage später blieb der Bildschirm tatsächlich dunkel, so viele Tasten er auch drückte. Mit Wonne hätte er dem Rechner eins mit dem Hammer verpasst und als ahnte der, was ihm blühen könnte, ließ er sich hochfahren. Kaum gab er das Passwort ein, kam die Meldung, Name oder Passwort seien falsch. Vom Nachbarn, dem freundlichen Ingenieur, hörte er, eine Leitungsstörung lege das Internet lahm. Die Hoffnung, nach Behebung des Fehlers funktioniere es wie vorher, erwies sich als Illusion, ein Fachmann musste her. Der verlangte das Passwort, sonst könne er den Fehler nicht finden und die Daten sichern, lud das Gerät ins Auto. Carl registrierte, ohne sich etwas zu denken, dass der Lieferwagen keine Firmenbeschriftung trug. Am nächsten Tag kam der Computer zurück und funktionierte. Bald merkte er, Behörden und andere Institutionen verfügten über Informationen, die er ihnen nicht gegeben hatte. Hing es mit dem Firmenwagen ohne Aufschrift zusammen? Er verwarf den Verdacht.
Auf von Anwälten in rüdem Ton verfasste Mahnschreiben reagierte er nicht, Inkassobüros drohten, Leute mit spezieller Ausbildung für permanente Zahlungsverweigerer zu schicken. Von ähnlichen Trupps, die vor nichts zurückschreckten, hatte er zwar in Russland gehört, aber doch nicht hier. Er ging zur Polizei, erzählte von den ungerechtfertigten Rechnungen und dass er sich bedroht fühle.
„Ist Ihnen ein materieller Schaden entstanden?“, fragte er.
„Ihrer Frage entnehme ich, dass Ärger, nutzlos vergeudete Zeit und Bedrohung nicht als materielle Schäden gelten – also nein.“
Der Dorfpolizist warf ihm missbilligende Blicke zu. „Ist ein solcher Trupp, wie Sie ihn beschreiben, zum Eintreiben der Geldforderungen zu Ihnen gekommen?“
Wieder verneinte er und der Polizist meinte, dann gebe es auch keinen Grund, einzuschreiten. Als Carl mit ironischem Unterton fragte, ob die Polizei immer erst tätig werde, wenn ein Verbrechen vorgefallen sei, riet ihm der Beamte mit hochgezogenen Brauen, er solle derlei an den Haaren herbeigezogene Vermutungen besser unterlassen, seine Nörgelei sei anderen Stellen bereits aufgefallen.
„Ich meine es Ihnen nur gut“, fügte er hinzu. „Und was die Forderungen im Internet betrifft, können Sie sich an die Kriminalpolizei wenden, sie ist zuständig.“
Also fuhr er zur Kriminalpolizei, schilderte sein Problem erneut und wurde mit einem Durchschlag der Niederschrift in den ersten Stock geschickt.
„Der Spezialist für Computerbetrug ist überlastet und kann nicht jeden Fall übernehmen“, erklärte der Staatsdiener in Zivil. „Deshalb wird jede Anzeige vorher geprüft.“
Beim Lesen des Protokolls aus dem Erdgeschoss fuhr er mit dem Zeigefinger wie ein Grundschüler die Zeilen entlang, spannte ein Formular in die Schreibmaschine, erwähnte, auf dem Stockwerk arbeite nur noch der Spezialist mit Computer, alle anderen seien durch Viren lahm gelegt. Er ließ offen, ob sich die Lähmung auf die Computer oder die Beamten bezog.
„Der Programmierer, der als einziger den Schaden beheben könnte, ist ins Ministerium beordert worden. Dabei sind wir zu siebenundzwanzig Prozent unterbesetzt.“
Er stellte fast identische Fragen wie die Kollegen im Erdgeschoss, hackte auf der Schreibmaschine herum, fertigte ein zweites Protokoll und murmelte: „Immer gehen alle von der Schuld anderer aus.“
Die Warnung des Dorfpolizisten im Ohr schwieg Carl und war erleichtert, endlich mit dem zuständigen Fachmann sprechen zu können. Der fragte, warum er die Rechnungen nicht bezahlt habe. Carls gereizte Entgegnung, das stehe doch im Protokoll, veranlasste den Spezialisten, es zu lesen. Dann schrieb er zwei Nummern an den unteren Rand.
„Kommt abermals eine derartige Drohung, rufen Sie die kurze Nummer an, dann gehen wir der Sache nach! Die längere ist Ihre Fallnummer. Diese müssen Sie angeben, wenn Sie Hilfe brauchen.“
Eineinhalb Stunden bei der Kriminalpolizei und Carl hatte eine Fallnummer, war eigentlich davon ausgegangen, die Inkassofirma sei der zu lösende Fall, nicht er. Unter dem Scheibenwischer steckte ein roter Zettel. Sein Einwand, er sei doch die ganze Zeit hier im Revier gewesen, wurde mit einem mitleidigen Blick bedacht und belehrt, das gebe ihm noch lange nicht das Recht, die Straßenverkehrsordnung zu missachten und die regle nun mal Kurzparkzonen. Beim Verlassen der Dienststelle hörte Carl durch die angelehnte Tür einen Amtsträger zum anderen sagen, die Erfahrung zeige immer wieder, dass Leute, die ständig mit der Polizei zu tun bekommen, in der Regel Dreck am Stecken haben. Mit anderen Worten wurde Carl als der eigentliche Störer betrachtet. Und irgendwie stimmte das ja auch, er schreckte die Bürokraten aus ihrer Routine auf. Erneut trafen Rechnungen und unverhüllte Drohungen ein, er griff zum Hörer. Vom Tonband klang eine angenehme Frauenstimme: „Bitte warten Sie! Sobald eine Leitung frei wird, werden Sie verbunden.“ Dreimal erklang die Ansage, endlich eine barsche Amtsstimme. „Sie wünschen?“
Carl bat, mit der Abteilung Computerbetrug verbunden zu werden und gab seine Fallnummer an. Abermals wurde er auf „Bitte warten…“ gestellt, nach mehreren Versuchen gab er auf.
Der Abwehrkampf kostete Zeit und Nerven. Kein Wunder, dass sich seine Träume den Widrigkeiten anpassten: Bei Tag die Scherereien, in der Nacht Albträume – Realität und Traumwelt ergänzten sich.
Ein Traum über eine Russlandreise gehörte in diese vermischte Kategorie: Gehetzt rannte er vom Taxi zu einem der riesigen Moskauer Bahnhöfe, spürte den Pass mit der Fahrkarte in die Brusttasche, lief in die Vorhalle, suchte das richtige Gleis, fand es nicht. Die Geleise waren stufenförmig angeordnet, die Bahnsteige verliefen in unterschiedlicher Höhe. Keuchend rannte er mit dem über die Steine zwischen den Schienensträngen hüpfenden Rollkoffer. Das war natürlich verboten. Den Zug entdeckte er zwar, aber seinen Wagen nicht. Der Fahrdienstleiter hob die grüne Scheibe, Carl sprang mit Koffer auf, erwischte den Gepäckwaggon, saß zwischen Kartons und Kisten, fror jämmerlich. Selbstverständlich war das auch verboten, stieg er in der ersten Station aus, lief suchend auf und ab, erblickte die Wagennummer, doch der Schaffner wollte ihn ohne Billett und Bettkarte nicht einsteigen lassen. Nervös kramte Carl in den Taschen, vergeblich. Wie schön, als der Wecker schrillte.
Im anderen Traum stand er in der Schlange vor dem Zoll, die wie in der Realität nicht vom Fleck kam. Der Zeiger der großen Uhr signalisierte, nur noch Minuten bis zum Abflug. Endlich in der Passkontrolle zog er die Schuhe aus, passierte den Röntgenbogen. Die Alarmlichter leuchteten, er gab Geldbörse, Schlüssel und Gürtel ab, hielt die Hose mit einer Hand, während er durchsucht wurde. Unerbittlich rückte der Zeiger vorwärts. Er hatte den Flieger schon einmal versäumt – sein Visum war wegen einer Schlamperei im Generalkonsulat einen Tag vor Abflug abgelaufen, man hatte ihn zurückgewiesen und seinen Koffer aus dem startbereiten Flugzeug geholt, er hatte beim Flughafenkonsul kräftig nachzahlen müssen, in Dollar versteht sich –, der Angsttraum entsprach den Gegebenheiten. Alles war so naturgetreu, dass er schweißgebadet aufwachte.
Auch das Erlebnis mit der ‚Omon’, der gefürchteten Sondereinheit der Polizei im Mafiacafé hielt in die Traumwelt Einzug. Das Café im Nachbargebäude des Studentenheims hieß so, weil es einem Mafioso gehörte. Aber es war sauber und das Essen gut. Sie hatten gerade bestellt, er seine geliebte Soljanka, beide Hering im Pelz, als die Türen – wegen der Kälte haben die Häuser Doppeltüren, die äußere ist eine meist gepolsterte Schwingtür aus Holz, die bei jedem Besucher mit lautem Knall zufällt – aufgerissen wurden und vier Polizisten mit schwarzen Gesichtsmasken und Maschinenpistolen im Anschlag hereinstürmten. Die Masken trugen sie, um von den Kollegen, die hier oft an der Theke saßen, nicht erkannt zu werden. Carl erschrak, die Freundin raunte ihm zu: „Bleib ganz ruhig, dann passiert nichts!“ Die Maskierten zogen ab. „Vermutlich ist der Gesuchte gewarnt worden“, flüsterte sie. Im Traum standen die Polizisten drohend vor ihrem Tisch und verlangten seinen Pass. ‚Das Visum für die Stadt fehlt!’ Bevor er erklären konnte, das werde bei Ausländern nicht in den Pass eingetragen, brach der Traum ab.
Manchmal hatte er den Eindruck, eine finstere Macht nahm ihn von zwei Seiten in die Mangel: Mit täglichen Behinderungen durch Institutionen von der einen, mit Albträumen von der anderen Seite. Ein solcher Albtraum hing mit Erinnerungen an Zugfahrten durch den Korridor in der DDR zusammen. Unhöfliche, schroffe Volkspolizisten durchsuchten jeden Waggon mehrfach, ob sich ein Republikflüchtling versteckt hatte. Carl hat auf einer Fahrt aus Polen sogar erlebt, dass die Vopos die Deckenplatten im Gang abschraubten. Polizisten mit Hunden patrouillierten am Zug entlang. Er schaute durchs Fenster, hielt dem Uniformierten, der ohne anzuklopfen die Tür aufriss, den Pass hin.
„Drehen Sie sich gefälligst zu mir!“, bellte er.
Erschreckt wandte sich Carl dem Grobian zu. Just in dem Augenblick fiel ihm die Weissagung einer Zigeunerin ein, die dem Sechzehnjährigen aus der Hand gelesen und prophezeit hatte, er werde mit fünfundvierzig standrechtlich erschossen. Zwar war er inzwischen ein paar Jährchen älter, aber Prophezeiungen legt man nicht engherzig aus. Sein Geburtstag lag nicht weit zurück und nun hatten die bedrückende Atmosphäre und der barsche Befehlston die Prophezeiung aus den Tiefen des Unterbewusstseins gehievt. Eine innere Stimme flüsterte: ‚Jetzt ist es so weit, du bist dran, wirst erschossen!’
Hinterher fiel ihm ein, seiner Frau von der Prophezeiung erzählt zu haben und sie hatten beide darüber gelacht. Mitunter vollführt das Unterbewusstsein seltsame Kapriolen. In seinen Träumen tauchten bedrohliche Situationen auf, begleitet von Kontrollen, Willkür und Schikanen.
Ein Traum, dessen Inhalt ihm erst viel später klar wurde, kam zweimal: Vater wollte ihm etwas mitteilen, doch wenn er den Mund aufmachte, entrang sich seinen weißen Lippen kein Laut. Carl sah nur das Gesicht, die Gestalt verschmolz mit der Nacht. Vater wollte ihm, das hatten seine Augen signalisiert, etwas Wichtiges zu sagen.
Spazierte er abends durch die Stadt, verwischte sich die Grenze zwischen Phantasie und Realität häufig. Er gewahrte einen Schatten, der ihm folgte, aber es war kein gewöhnlicher flacher Schatten auf dem Asphalt, sondern eine schwarze Figur, die nicht parallel zu ihm im gleichen Tempo ausschritt. Blieb Carl aber stehen, ging die Gestalt weiter, hielt inne, als wartete sie auf ihn. Die scharf umrissene Schattengestalt dürfte es gar nicht geben, es war ein trüber Tag, die Straßenlampen brannten noch nicht, Häuser und Menschen warfen kaum Schatten. Fiel denn niemandem auf, dass niemanden sonst einer begleitete? Ein Seitenblick zeigte, die dreidimensionale Gestalt ähnelte seinem Vater. Zitternd bemerkte er den Versuch des Schemens, ihm etwas mitzuteilen, Carl begann zu rennen, Vater verschwand. Träume und Ängste wurden zum Labyrinth, in dem er sich verlief. Immer öfter fragte er sich, ob es zwischen Albträumen, Ärgernissen und Schattenfiguren nicht doch einen Zusammenhang gab.
Wie Millionen andere bezahlte Carl für Leistungen mit Kreditkarte, prägte sich Geheimzahlen ein, fand sich damit ab, dass anonyme Stellen überprüften, ob er Rechnungen, Steuern und Raten zahlte, Schulden anhäufte oder gar gesetzeswidrige Geschäfte tätigte. Die Tatsache, dass Mails und Telefone angezapft und die Daten an Geheimdienste, Regierungen und Konzerne übermittelt wurden, war nicht zu ändern. Der Zugriff auf seinen Rechner bewies, dass niemand gegen den Versuch gefeit war, Opfer krimineller Aktivitäten im Internet zu werden. Nach weiteren Aufforderungen, für nicht erbrachte Leistungen zu zahlen, drohte er, die Nummer der Polizei zu übergeben. Das verschaffte ihm einige Tage Ruhe, dann begannen die Forderungen erneut. Die Abzocker wussten, dass die Polizei personell und materiell nicht in der Lage war, Bürger zu schützen.
Ein Kollege, dem er vom Datenklau und Missbrauch damit berichtete, spielte es herab und meinte, es bringe nichts, sich darüber aufzuregen. Das war so hilfreich wie der Hinweis an einen Todkranken, hunderttausende sterben auch an Krebs. Ursprünglich hatte Carl die Auffassung geteilt, es lasse sich, gesetzeskonformes Verhalten vorausgesetzt, in diesem Land ganz gut leben. Seit er begriffen hatte, dass das große Geld die Politik steuert und die Demokratie zum Papiertiger degradiert, war er sich da nicht mehr so sicher. Ein Kollege schätzte seine Schwierigkeiten als Verkettung zufälliger Ereignisse ein. „Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat!“
Carl verkniff sich die Bemerkung, das habe er bis vor kurzem auch geglaubt. Sein Gefühl, ständig beobachtet zu werden, wurde durch die Bemerkung eines Polizeibeamten bei einer Routinekontrolle bestätigt: „Aha, Sie wieder …“
Auch wenn er es nicht aussprach, schwang in dem Halbsatz unterschwellig mit: ‚Sie sind uns bereits hinlänglich bekannt …‘
Hatte ihm Vater vielleicht im Traum mitteilen wollen, wie er mit den unsinnigen Belastungen fertig werden oder zumindest die Ursachen erkennen könnte, um etwas dagegen unternehmen zu können? War die Kooperation mit russischen Institutionen der Grund, steckte der FSB dahinter? Wer sonst hatte die Macht, Firmen im Ausland zu veranlassen, jemanden unter Druck zu setzen? Bis ihm einfiel, die Geheimdienste im Westen hatten sie ebenfalls, auch sie sammelten Daten, ohne sich um Grundrechte und Souveränität des Gastlandes zu scheren.
Die gedankliche Verbindung Dollar – USA erinnerte ihn an das utopisch erscheinende Angebot aus dem Internet, man wolle ihm fünfzehn Millionen Dollar für soziale Zwecke zur Verfügung stellen. Dass dies kein Traum war, bewies eine von der Bank bestätigte Geldüberweisung, normalerweise etwas Erfreuliches. In einer Mail auf Englisch – die Geldgeber meinten, wer im Kapitalismus mitreden wolle, habe gefälligst die Weltgeldsprache zu verwenden – wurde ihm vorgeschlagen, ein Institut mit dem Ziel aufzubauen, Einrichtungen für die Betreuung behinderter Kinder zu fördern. Im Vorstand sollten ein Sozialverband, ein Vertreter der Geldgeber und Carl sitzen; über die Verwendung der Mittel werde einstimmig entschieden, ohne Zustimmung der Kapitalgeber ginge also nichts. Im Institut sollten zudem Treffen der Sponsoren stattfinden, die unerkannt bleiben wollen. Medien dürften über die Projekte nur informiert werden, wenn die Geldseite zustimme. Die Überlegung lag nahe, der eigentliche Zweck der Aktion sei, unter sozialem Deckmantel mit wissenschaftlicher Verbrämung dunkle Geschäfte abzuwickeln oder Geldwäsche zu verschleiern. Carl hatte abgelehnt und die Bank beauftragt, die überwiesene Summe zu retournieren. Hingen seine Schwierigkeiten etwa damit zusammen? Die Vernunft gebot, niemandem davon zu erzählen, man hätte ihn für bescheuert gehalten, so viel Geld zurückzuweisen – für einen guten Zweck!
Für die Ablehnung war das Erscheinen Vaters im Traum ausschlaggebend gewesen. Er hatte davor gewarnt, das verlockende Angebot anzunehmen und anders als bei seinem früheren Erscheinen war seine Stimme klar gewesen. Vater hat außerdem eröffnet, man werde ihn Prüfungen unterziehen und bestehe er sie, dürfe er mit ihm das Schattenreich besuchen. Im selben Traum hatte Vater angekündigt, sich mit ihm zu treffen, um über das Moorland zu reden.
Carl war nicht so sehr erstaunt, im Traum vom toten Vater Ratschläge zu bekommen, als vielmehr über die Tatsache, dass er seinen Roman gelesen hat. Die Ankündigung des väterlichen Besuchs allerdings tat er als Produkt seiner Einbildungskraft ab und die Idee, den Sohn ins Reich der Schatten mitzunehmen, als Schnapsidee. „Sonderbarer Traum“, murmelte er. „So lebendig, als wäre Vater wirklich erschienen …“ Hätte er geahnt, dass die Erschwernisse und Ärgernisse die Vorankündigung von Ereignissen waren, die sein Leben umkrempeln würden, hätte er intensiver nach Ursache und Zusammenhang geforscht.
Nach dem Tod seiner Frau war er überzeugt gewesen, keine großen Änderungen mehr zu erleben, alles würde in eingefahrenen Bahnen weiterlaufen, sah er von den Besuchen in Russland ab. Nun hatte sich eine unbestimmte, rational nicht zu begründende Idee eingenistet, etwas ganz Außergewöhnliches komme auf ihn zu, etwas, das alles, was er bisher erlebt habe, überragen werde.
Eine Folge seiner zerrissenen Gemütslage war, dass er immer öfter das Gefühl bekam, jemand folge ihm. Drehte er sich um, war da nur der eigene Schatten, den der Mond auf die Straße warf. Bog er um die Ecke, ging sein Schatten wie es sich gehörte mit, wurde seitwärts auf die Mauer geworfen.
Er lachte auf und murmelte vor sich hin: „Nichts als Einbildung! Wer sollte mich denn verfolgen? Bei mir ist nichts zu holen, ich nehme keine bedeutsame Position ein, bin kein Geheimnisträger. Für Machtspielchen dieses Schlags bin ich nicht interessant genug.“ Selbstgespräche waren ihm in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden. Ihm war bekannt, dass der FSB eine Akte über ihn führte, aber das hatte ihn nicht sonderlich beunruhigt, die Beobachtung war gewissermaßen eine Art Schutzschild – wenn auch ein fragwürdiges – gegen Verbrechen gewesen.
Die Schattenspiele auf den nächtlichen Streifzügen änderten ihr Erscheinungsbild, es traten zwei Schatten auf: Der eigene und ein zweiter etwas versetzt neben sich, den es nach dem Lichteinfall nicht geben dürfte. Der fremde lief im Gleichschritt neben ihm, machte gleiche Bewegungen wie er – ein Spiegelbild. Bis sich ganz unerwartet der Schatten selbständig machte, plötzlich etliche Schritte voraus war. Und zu seiner Verblüffung änderte sich sein Volumen auch dann nicht, als das Licht von vorne kam. Carl schob das unglaubhafte Phänomen auf seine überreizten Nerven, vielleicht hatte er auf der Weinkost auch ein Glas zu viel probiert, überlegte er, hatte vorsichtshalber den Bus genommen. Doch das bizarre Spiel der Schatten wiederholte sich und er überlegte, einen Psychiater zu Rate zu ziehen. Ein Freund hatte ihm dazu geraten, nachdem ihm Carl anvertraut hatte, sein toter Vater werde ihn besuchen, wolle ihn ins Schattenreich mitnehmen. So verrückt das klang, aber deshalb gleich einen Psychiater konsultieren?
Die Scherereien mit Bürokraten und die Manipulationen krimineller Firmen nahmen kein Ende, allmählich gelangte er zur Überzeugung, alles stand zueinander in Beziehung und wurde von anonymen Mächten gelenkt. Das Nichtgreifbare und Nichtfassbare verunsicherte ihn, ein Gefühl des Ausgeliefertseins machte sich breit.
Und mit einem Male war er sich sicher, so unlogisch das sich auch anhörte, dass alles mit dem angekündigten Erscheinen seines toten Vaters zu tun hatte. Er schalt sich einen Narren, der Gespenster sah, doch die Erkenntnis half nicht, seine unbestimmte, durch nichts gerechtfertigte Angst vor dem Kommenden zu bezwingen.