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4. Weg ins Moorland

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Wie ein Moor finden, das er zwar beschrieben hat, das es aber nicht gab? Sein Versuch, Vater zu überzeugen, die Örtlichkeiten des Romans seien nichts als Fantasieprodukte, war erfolglos geblieben und er wusste, Vater würde keine Ruhe geben, ehe er es nicht wirklich versucht hat. Überraschend und ohne sein Zutun fand sich im Kopf eine gegenläufige Entwicklung statt: Je mehr er sich gedanklich auf das Moor einließ, desto schneller schien die Sicherheit zu schwinden, nie doch dort gewesen zu sein.

Im Norden gibt es hunderte Moore. Er untersuchte die Landschaftsbeschreibungen im Roman, vielleicht hatte er unbewusst auf Fotos in Büchern oder Zeitschriften zurückgegriffen. Seit langem hatte er nicht darin mehr gelesen, ein seltsames Gefühl erfasste ihn, als hätte sich der Stoff selbständig gemacht, als führten die Figuren ein von ihm losgelöstes Eigenleben und er überlegte, ob das Schaffen einer Romanfigur im Gedächtnis des Urhebers Spuren hinterlässt. Er fühlte sich in Hannes ein, begann sich mit ihm zu identifizieren, empfand Hannes zugeschriebene Gedanken und Erlebnisse so intensiv, dass er vermeinte, es wären seine. Er rief Szenen und Schauplätze auf, um Anhaltspunkte über die Lage des Moors zu finden, durchkämmte im Geist die Moore, die er allein oder mit seiner Frau – das Streifen durch die Moore, die voller Geheimnisse zu stecken schienen, hatte auch sie geliebt – besucht hat, vielleicht stieß er auf einen Hinweis. Vermutlich lag das Moor nicht weit vom Wohnort entfernt, er musste einige Male dort gewesen sein, um es so genau beschreiben zu können. Und allmählich festigte sich die Überzeugung, dass es mehr war als ein Fantasieprodukt, er radelte zu den Mooren in der Umgebung, schied zwei gleich aus, die Warntafeln ‚Achtung, Kreuzottern!’ schreckten ab. Seine Schlangenphobie hat er nie überwunden. In anderen Mooren stellten sich keine Assoziationen zum Romangeschehen ein, sie waren kleiner und weit weniger malerisch, vor allem fehlte der verträumte See. Vielleicht fand er in der kleinen Kirche mit dem geschnitzten Altar auf dem Hügel eine Spur. Während eines Orgelkonzertes war ihm die Idee zum Roman zugeflogen, von dort aus war Hannes wie durch Zauberhand ins Moorland gelangt. Die Kirche war verschlossen, er wischte die nachtfeuchte Bank im Friedhof trocken, ließ Szenen an sich vorbeiziehen, die mit dem Kirchhof in Verbindung standen, doch das Moor oder gar der Weg ins Moorland wollten sich nicht zeigen.

In der Karte war weiter südlich ein Moor mit See eingezeichnet, er war sich ganz sicher, nie dort gewesen zu sein. Die Straße führte an einsamen Höfen und Weilern ohne Kirche vorbei. Schüttere Wälder zogen sich die Hügel hinauf, in denen sich kein Reh vor den unnachgiebigen Jägern verbergen könnte. Er bog von der Straße ab, folgte einem schmalen in der Karte nicht verzeichneten Weg durch ein Gehölz. Büsche streiften das Auto, tiefe Löcher und dichtes Gras ließen erkennen, dass sich selten jemand hierher verirrte. In einer Lichtung stellte er den Wagen ab, hob das Fahrrad heraus, hielt wie erstarrt inne: Es war exakt wie beschrieben, Hannes hatte das genauso gemacht – im Roman. Carl radelte durch den Wald mit den krumm gewachsenen Erlen und Birken, umfuhr die Löcher und zunehmend überkam ihn das Gefühl, doch schon hier gewesen zu sein. Und abermals fragte er sich, ob es Reminiszenzen an Buchsequenzen oder gespeicherte Bilder aus der Realität waren. Nach einer Wegkrümmung hielt er vor einer Schranke mit verrostetem Schild: Befahren und Betreten verboten, Privatgrund! Das war die Stelle im Buch, die Hannes vor Augen hatte, ehe er den Moorsee erreichte – aber doch nicht er! War er nun hier gewesen oder kannte er das Gelände lediglich aus der eigenen Schilderung im Roman? Und war es denkbar, eine Landschaft beschreiben zu können, die man nie gesehen hat und sie Jahre später in der Wirklichkeit exakt so vorzufinden? Er erreichte das Moor, lehnte das Fahrrad an eine windzerzauste Birke, folgte dem Pfad, der sich zwischen Erikapolstern und Krüppelkiefern durchwand, im sumpfigen Boden kaum zu erkennen war. Das sperrige Gras richtete sich nach Betreten sofort auf. Er sprang von Polster zu Polster, drang durch einen schmalen Schilfstreifen und stand jäh vor dem See, schöner und traumverlorener als im Roman. Dichtung und Realität waren deckungsgleich geworden, selbst die Farben der Sumpfpflanzen und des Wassers waren wie beschrieben. Carl setzte sich auf einen umgestürzten Birkenstamm, ließ die Stille auf sich wirken, hin und wieder unterbrachen sie hoch flatternde Wildenten.

„Gut, dass Vater so gedrängt hat“, murmelte er, „sonst hätte ich den See nie gesucht.“ Es war nicht wichtig, ob wieder gefunden oder neu entdeckt, es war unerheblich, woher die präzisen Ortskenntnisse im Roman stammten. „Wie auch immer“, murmelte er, „das einzige, was zählt, ist der gefundene Moorsee.“

Er verstand Hannes‘ Verzauberung, der See strahlte etwas aus, das jeden in Bann schlug, dem die Natur mehr bedeutete als ein Erholungsraum. Ein Boot war nicht zu finden, er erinnerte sich, im vorletzten Kapitel war der einzige Kahn nach Hannes’ Vertreibung aus dem Moorland abgesoffen. Die Suche im dunklen Wasser brachte wie erwartet kein Ergebnis.

Die Befürchtung, dass die Vermengung von Ereignissen im Buch und solchen in der Realität seelische Gefährdungen mit sich bringen könnte, verdrängte er und beschloss, der Fantasiewelt den Vorrang einzuräumen. Auf dem Baumstamm kauernd tauchte er in das Romangeschehen ein, dachte an Maid, wie er sie kennen gelernt hat, stutzte: Nicht er war es gewesen, der mit Maid die Überfahrt im Boot gemacht und später die mysteriöse Nebelgrenze passiert hat, sondern Hannes. Vorsicht, warnte er sich, sonst kommt dir noch die Fähigkeit abhanden, Schein und Sein klar voneinander zu trennen! Doch er steckte schon so tief drinnen im Romangeschehen, dass er sich nicht gewundert hätte, wäre Maid oder eine andere Figur erschienen und hätte mit ihm eine Unterhaltung begonnen. Der auffrischende kühle Wind riss ihn aus der Grübelei, er schlug den Weg zurück ein.

„Ich sollte“, murmelte er, „Hannes und Maid besser in ihrer Welt lassen. Muss das Durcheinander im Kopf ordnen.“

Die Baumwipfel verschwammen in der langsam niedersinkenden Dämmerung, aufsteigender Nebel mahnte zur Eile. Er lief durch Erikapolster und mageres Gebüsch, als wäre er auf der Flucht, stolperte, fiel hin, raffte sich auf, rannte keuchend weiter. Auch beim Rennen ließ ihn die Frage nicht los: Wie konnte er sich einbilden, hier irgendwas erlebt zu haben, wenn er nie hier gewesen ist? Er schwang sich aufs Fahrrad, radelte so rasch es Weg und abnehmendes Tageslicht zuließen, durch den Wald. Und als er das Fahrrad ins Auto wuchtete, gelangte er zur Überzeugung, die gleichen Handgriffe schon des Öfteren ausgeführt zu haben, gerade an diesem Platz.

Wie gierige Lichtfinger griffen die Scheinwerfer in die Dunkelheit, Büsche und Bäume flossen zu kompakten schwarzen Ungetümen zusammen. Noch immer klopfte aufgeregt sein Herz, es wurde erst ruhiger, als er sich vornahm, künftig den Moorsee zu meiden. Seine Versuche, den See und die Begegnungen mit Vater als Produkte seiner Fantasie abzutun, scheiterten allerdings, hartnäckig wie Mücken im Hochsommer tauchten die Bilder auf, ließen sich nicht vertreiben. Zumal er wusste, Vaters Schatten würde wiederkommen und ihn fragen, ob er ihn nun zum Moorsee führe.

Um der Begegnung auszuweichen, nahm er die Einladung aus Russland an, hatte eigentlich nicht mehr ans Weiße Meer fliegen wollen, scheute die Strapazen und hatte das Kapitel Russland abgeschlossen. Der Wechsel in Moskau zum innerrussischen Flughafen nach Norden war nervig wie eh und je. Schließlich stieg die Maschine steil in den Himmel, Wolkenlöcher gaben für Minuten die Sicht auf die Ausläufer der Metropole mit tausenden Datschen frei, der Flieger durchstieß die Wolkendecke und tauchte ins blendende Sonnenlicht. Das Wiedersehen im hohen Norden war herzlich wie immer. Mit ehemaligen Kolleginnen sprach er über die Jahre, da es nur Defizite gab aber nichts zu kaufen, die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stand.

„Jetzt gibt es zwar alles, aber viele können die Waren nur durchs Schaufenster begucken.“

Vom Hotel aus spazierte er auf der Uferpromenade am breiten Strom entlang, schaute zu den Inseln mit Holzhäusern und Sägewerk. Erinnerungen an Erlebtes stiegen auf, gute und weniger gute. Beim Besuch am Deutschlehrstuhl, an dem er ein Semester gelehrt hat, saß auf einmal Vater auf dem Platz, den sein verstorbener Freund Viktor eingenommen hatte.

„Keine Sorge, sie sehen und hören mich nicht. Du musst nichts sagen, nicke einfach oder schüttle den Kopf.“

Das Gespräch drehte sich um von Krankheiten dahingeraffte Kolleginnen, die Carl gekannt hatte. Die Versorgung mit Medikamenten war katastrophal gewesen, das Wohl der Bevölkerung war der Partei ebenso gleichgültig gewesen wie den Zaren. Vater fragte ihn über den Moorsee aus, er nickte oder schüttelte den Kopf, das passte nicht immer zum Gespräch, eine junge Dozentin musterte ihn verwundert.

„Du hast das Moor also gefunden“, stellte Vater fest, „und den See gesehen, gelangtest aber nicht ans andere Ufer...“

Carl wunderte sich nicht mehr, dass Vater immer wusste, was er gemacht oder gedacht hat, schüttelte den Kopf, während Kolleginnen von den Schwierigkeiten berichteten.

„In der Sowjetära hat es oft nichts gegeben“, fasste die Lehrstuhlleiterin zusammen. „Jetzt gibt es alles, aber es fehlt das Geld, es zu kaufen.“

„Carl“, fragte eine Dozentin, die damals, als er das Gastsemester gelehrt hat, Studentin im letzten Studienjahr war, „Sie sehen das offenbar anders, schütteln den Kopf …“

„Nein, nein“, entgegnete er rasch, „ganz im Gegenteil: Ich denke, eure Probleme nehmen kein Ende.“

„Gut pariert“, lobte Vater. „Du bringst mich also zum Moorsee?“

Carl nickte und merkte, seine Reaktion auf die Frage, warum er keine Projekte mehr in Russland durchführe, war unpassend. „Nun“, korrigierte er den Fehler, „ich schaffe es gesundheitlich nicht mehr und es gibt auch kaum Mittel dafür. Bei uns weiß man, dass Russland genug Geld hätte, um Behinderten, Drogenabhängigen und psychisch Kranken zu helfen, um den Armen auf dem Land lebenswerte Bedingungen zu schaffen, den jungen Leuten eine Perspektive zu geben.“

Die Lehrstuhlleiterin Elena berichtete, wie froh damals Studentinnen gewesen sind, als Carl hier lehrte, wie sie Torten gebacken, Kekse gemacht und Geschenke überreicht hatten, um den Abschied von ihm herzlich zu gestalten. „Wir waren gerührt, wie sie den Gast aus Deutschland mit dem Wenigen, das sie hatten, ehrten“, schloss Elena.

Carl genoss den Aufenthalt in der vertrauten Stadt, streifte am letzten Nachmittag durch Straßen, wo er gewohnt, seine Freundin getroffen oder Bekannte besucht hat. Doch unbeirrt kehrten seine Gedanken zu Vaters Ansinnen zurück, ihn zum Moorsee zu führen, mochte er sich zehnmal vorsagen, die Idee, ein Toter möchte etwas kennen lernen, mutete grotesk an und der Wunsch Vaters war schon deshalb vollkommen sinnlos, weil das Moorland nicht existierte.

Die Grippewelle im Land hatte ihn verschont, er hätte sich hier einer ärztlichen Behandlung nur ungern unterzogen, auch wenn anzunehmen war, dass die medizinische Versorgung nicht mehr so katastrophal war wie seinerzeit. Wie immer in all den Jahren wurde er zum Flughafen gebracht. Beim Abschied ahnte er, wohl das letzte Mal hier zu sein und die Kolleginnen schienen ähnlich zu denken, wie ihren Abschiedsworten und Mitbringsels zu entnehmen war. Gott, wie oft hatte er sich in der Halle von der Geliebten verabschiedet, nie hatten sie gewusst, ob es ein Wiedersehen geben würde. Die Löcher im Linoleum der Halle waren größer geworden und wie damals machte jeder einen Bogen um nicht zu stolpern.

Die weiten Wälder in den Sümpfen um die Stadt am Weißen Meer entschwanden, er überließ sich Erinnerungen, dachte an seine Frau, zu der er nach seinen Reisen nach Russland, die er schon längst nicht mehr zählte, immer zurückgekehrt war. Bis jener Brief eines Anwalts auf seinem Bett gelegen hatte, der ihn aufforderte, umgehend das Haus zu verlassen, seine ehewidrige Beziehung mache ein Zusammenleben unter einem Dach für die Ehefrau unzumutbar. Moralische Gesichtspunkte hatten damals mehr Gewicht, zumindest nach außen hin.

Den Hinauswurf ohne Aussprache – offene Gespräche waren nie ihr Ding gewesen – erlebte er im Traum ein zweites Mal: Seine Frau jagte ihn mit ausgestrecktem Arm aus dem Haus, so wie die ersten Menschen aus dem Paradies gejagt worden sind, nur musste jetzt Adam alleine gehen und die Rolle Gottes hatte Eva übernommen. Zwar war das Haus auch im Traum schon lange nicht mehr das wahre Paradies, aber doch Zuflucht und Heimat. Neben der Ehefrau stand im Traum eine Schattenfigur, sein Vater. Als er erwachte, huschte ein Lächeln über Carls Gesicht: Er dachte an die abertausende Leninstatuen, die mit ausgestrecktem Arm die Menschen aus dem sozialistischen Paradies zu weisen schienen.

Ruhig brummte das Flugzeug mit der nach oben weisenden Schnauze dahin, er lehnte sich zurück. Ehe er ins Haus in der Holsteinischen Schweiz gezogen war, Minuten vom größten See entfernt, war er mit dem Sohn kreuz und quer über Land gefahren, bis sie den Weiler am Ende der Stichstraße auf der Halbinsel entdeckt hatten. Die Landschaft mit den von der Eiszeit geformten Hügeln und Seen hatte Carl auf Anhieb gefallen, auch die im rechten Winkel ans Haus gebaute Reetdach-Kate, die zum Verkauf stand. Hier hat er sich frei gefühlt wie lange nicht mehr und nicht nur, weil kein Reihenhaus den Blick ins Grüne versperrte.

Monate hatte er in einer leeren Wohnung am Rand einer Kleinstadt gehaust, auf einer Matratze geschlafen, ein Koffer den Schrank ersetzt. Abends hatte er der gegenüber wohnenden Nachbarin zugesehen, wie sie sich für die Nacht vorbereitet hatte, bis sie die Jalousien herablassen hat. Beim endgültigen Umzug spürte er, wie weh das Verlassen des Hauses tat, in dem er Jahre mit Familie verbracht, für das er gespart, an dem er repariert, im Garten Bäume gepflanzt, geschnitten und gepflegt, einen Teich angelegt hat, wo Kindergeburtstage gefeiert worden sind. Das Schöne hatte das Bittere bei weitem übertroffen.

Sein Jüngster hatte mit ihm Möbel und Klamotten in den Lieferwagen geladen, war zum neuen Domizil gefahren. Carls Frau hatte an dem Tag einen Ausflug mit Behinderten gemacht, das hatte für beide alles erleichtert. Zuerst waren Vater und Sohn einsilbig mit dem vollgepackten Auto dahingerattert, mit jedem Kilometer sind Wehmut und Verbitterung geschwunden, schließlich hatte die Freude aufs neue Heim überwogen. Möbel besorgen und aufstellen, Küchenbedarf und Krimskrams einkaufen, Lampen und Vorhangstangen montieren, all der Kram, der dazu gehört – abends war er todmüde ins Bett gesunken. Ein Jahr hatte er überwiegend allein gelebt, hatte sich in der wunderschönen Umgebung frei gefühlt wie in der Jugend, wenn er Schule geschwänzt und sich vorgestellt hatte, wie die Klassenkameraden sehnsüchtig auf den blühenden Kastanienbaum geguckt hatten. Das hatte dem Schule Schwänzen seine Würze gegeben. War er im Haus mit dem von zahlreichen Vögeln bevölkerten Garten doch manchmal in trübsinnige Stimmung verfallen, hatte ihn nicht nur einmal unerwarteter Besuch aufgemuntert.

Die Pressesprecherin aus Tallinn hatte telegrafisch ihren Besuch angekündigt, für drei Wochen. Carl hatte sie vom Schiff abgeholt, sie hatten auf Radausflügen und Wanderungen die Umgebung erkundet, Museen besucht, in der Ostsee gebadet. Hat er Vorlesungen gehalten, war sie bummeln oder hat in der Bibliothek Publikationen studiert, die in der UdSSR nicht zu haben waren. Die zierliche Frau, die seine Tochter hätte sein können – ein sich witzig vorkommender Ober in einem Landgasthaus hat beim Bestellen gefragt, was er dem Fräulein Tochter bringen dürfe, zum Glück hat sie sein ländlich gefärbtes Deutsch nicht verstanden – half, seine Verstimmung zu überwinden. Die mädchenhafte Frau mit den hellblauen, ein wenig belustigt dreinschauenden Augen hatte ihm das Eingewöhnen leicht gemacht. Nie hätte er vermutet, dass sie nachts erst richtig auflebte.

Die Stewardess unterbrach sein Grübeln, servierte ein mickriges Frühstück. Er trank den lauwarmen Tee, gab sich wieder seinen Träumereien hin. Die Wochen mit Ulla waren schnell verflogen, er hatte sie zum Hafen gebracht – ihr Schiff war gerade stolz aus dem Hafen gedampft, das nächste würde erst drei Tagen später gehen, sagte sie, und sie müsse doch arbeiten. Den ganzen Tag hat sie kein Wort mit ihm gesprochen, selbst dem guten Essen im Gasthaus gelang es nicht, sie zu besänftigen. Das zweite Mal waren sie früh genug am Kai. „Ich bringe dich an Bord.“

„Das geht nicht, du hast kein Visum und kein Ticket!“

Mit Chuzpe und Wiener Schmäh hatte er sich am Passbeamten vorbei gemogelt, bei der Ticketkontrolle am Fallreep dem Fotografen, der Bilder von Passagieren geschossen hat, zugerufen: „Wir sind auf der Hochzeitsreise!“ Klick, klick, sie waren durchgewinkt worden. Fotograf und Ticketkontrolleure hatten sich gewundert, als der Bräutigam das Schiff verließ und die junge Braut allein ließ.

Die Stewardess servierte Limonade, auf innerrussischen Linienflügen war das Service minimal, dafür war das Fliegen für Russen billig. In den Wolkenformationen tanzte der Schatten des Flugzeugs auf und ab. Die Triebwerke dröhnten, das durchdringende Geräusch gemahnte an die Bomber im Krieg, Erinnerungen an die Geschichte mit der Bombe überfielen ihn.

Die Tankstelle mit zehn Zapfsäulen an der Ortseinfahrt war angerufen worden, eine Bombe sei versteckt. Der Alarm hatte die Tankstelle für Stunden lahm gelegt, Polizei und Feuerwehr waren angerückt, um die Bombe zu entschärfen. Es stellte sich heraus, Lausbuben hatten ein Taschentuch auf die Sprechmuschel gelegt und die Bombendrohung lanciert, sein Jüngster war auch dabei. Der Pächter, ein Nachbar, hatte keine Anzeige erstattet, weil sein Sohn auch mit von der Partie gewesen ist – sonst hätte Carl den Verdienstausfall mitbezahlen müssen –, trotzdem war er mit Sohn zur Kriminalpolizei vorgeladen worden. Die Psychologin hatte gefragt, ob er mit oder ohne Vater reinkommen wolle. Er war mit einer Verwarnung davongekommen. Die Anklage wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit war fallen gelassen worden, den Sondereinsatz hatten die Eltern allerdings zu berappen. Wochen später hatte Carl geträumt, die Bombe war nicht zu finden, war explodiert, Angestellte und Kunden hatten sich gerade noch retten können. Der verzweifelte Pächter hat versucht, mit einem Handlöscher das Feuer zu ersticken. In der Ferne war ein Martinshorn zu hören gewesen, sein Sohn hatte mit großen Augen und in sicherem Abstand zugeguckt.

Die Sonne blendete durchs Bullauge, er zog die Jalousie herab, es war noch etliche Minuten bis zur Landung. Er liebte es, am See entlang zu spazieren, auf den steil aufragenden Hügel zu steigen, einem Überbleibsel der Eiszeit, von der Bank aus einen Großteil des Sees überblicken zu können und zuzusehen wie die am Horizont schwebende Sonne den Himmel in dunkles Orange tauchte und zögernd der Nacht das Zepter überließ. Stockenten und Blesshühner waren zu den Nestern auf der Vogelinsel geschwommen, er hatte sich eins mit der Natur gefühlt.

Plötzlich war neben ihm ein Schatten aufgetaucht, obwohl die letzten Sonnenstrahlen gerade ausreichten, ein zartes Violett an den Himmel zu malen. Nicht zum ersten Mal lief neben ihm ein Schatten, wo eigentlich keiner sein dürfte.

Und deutlich war Vaters Stimme zu vernehmen: „Deine Weibergeschichten haben bald ein Ende, sie tun dir nicht gut. Dein Leben wird sich grundlegend verändern, nichts wird sein wie bisher!“

Ehe er fragen konnte, was damit gemeint sei, hatte sich der Schatten dem Wasser zugewandt und aufgelöst. „Fängt das wieder an“, hatte Carl gemurmelt, „ich dachte, es sei vorbei mit dem Spuk.“

Die tausend Kilometer nach Moskau vergingen, wie man so treffend sagt, im Flug. Die Maschine landete, beim Schubumkehr klappten die unbesetzten Sessel nach vorn, sie rollte aus. Trotz der Ansage, angeschnallt sitzen zu bleiben, begannen Passagiere ungeduldig, das Gepäck unter den Sitzen und aus der Ablage zu wuchten, obwohl sie wussten, ohnehin auf den Bus warten zu müssen. Im voll besetzten Bus ging es zur Kofferausgabe, er wies den Zettel mit der Nummer vor und bekam den Rollkoffer. Es hieß nun Stunden auf den Anschluss zu warten, er setzte sich in ein Restaurant im ersten Stock, bestellte Tee, sah den startenden und landenden Maschinen zu, überließ sich wieder den Erinnerungen. Damals nach der Rückkehr vom Hafen hatte er schleunigst verräterische Spuren beseitigt, die Freundin aus Russland hatte sich angemeldet. Sie blieb etliche Wochen, diesmal war ihr Söhnchen mit, ihr Ex-Mann hatte sich geweigert, ihn zu versorgen. Der Ehemann hatte dem Deutschen die Schuld am Scheitern seiner Ehe gegeben, aber sie war bereits kaputt, als Carl seine Frau kennen gelernt hat. Er hat sie vom Flugplatz abgeholt und der Kleine, der etliche Zentimeter gewachsen war, hatte fünfzig Kilometer ohne Unterlass geplappert, bis Carl gereizt gefragt hat, ob sie das nicht abstellen könne, er müsse sich auf den Verkehr konzentrieren. Der Mutter war gar nicht aufgefallen, dass der Junge, dem das Ignorieren normal schien, ununterbrochen gequasselt hat. Carl hatte es sich schnell abgewöhnt, mit ihr über Erziehung zu diskutieren, in Russland war es Tradition, Jungen zu Machos zu erziehen, und spätestens die Armee brachte ihnen dann jene Härte bei, die von russischen Männern erwartet wird.

Carl war annähernd glücklich gewesen, wenn die vom schwierigen Leben in der Sowjetunion geprägte Freundin, Monate jünger als seine älteste Tochter, bei ihm war. Durch sie hat er erfahren, was körperliche Liebe bis zur Erschöpfung sein kann, durch sie hat er, wenn er in Russland gewesen ist, Informationen über Land und Leute erhalten, zu denen Westler sonst keinen Zugang haben, durch sie hat er Städte und Gebiete kennengelernt, für die er kein Visum hatte, wo er nicht hin hätte dürfen. Sie hatten Künstler, Kunsthandwerker, Freundinnen und Verwandte besucht, an Festen und drei Tage dauernden Hochzeitsfeiern teilgenommen, alles Gelegenheiten, die Mentalität zu studieren. Je länger er das tat, umso klarer wurde, dass Zwiespältigkeit in unterschiedlicher Gewichtung jedem Volk zu eigen ist. Trotz der Mangelwirtschaft waren üppige Feste gefeiert worden, Gastfreundschaft war heilig. Carl hatte sich anfangs kaum getraut, bei Einladungen zuzulangen, hatte ja gewusst, dass die Familie wochenlang gedarbt, bei Verwandten und Bekannten geborgt hat, um den Gästen was bieten zu können. Natürlich blieben ihm die dunklen Seiten der Mentalität nicht verborgen: Neid, Missgunst, Bosheit und Grausamkeit. Was nicht zu übersehen war: Demokratisches Bewusstsein spielte praktisches keine Rolle, in der Geschichte Russlands war dafür kein Platz.

Einmal hatte ihn die Freundin zu einem Fest der Stadtverwaltung mitgenommen. Er hatte an der Garderobe gewartet, wie üblich war sie zu spät gekommen, hatte atemlos hervorgesprudelt, den Jungen zum Schwiegervater gebracht zu haben, Carl ihre Handtasche in die Hände gedrückt. Er hätte sie fast fallen lassen, so schwer war sie.

„Um Gottes Willen, was hast du denn da drin? Einen Stein?“

Sie hatte gelacht und geflüstert: „Keinen Stein, einen Revolver.“

„Aber wozu denn …“ Sie war ihm ins Wort gefallen: „Pst, nicht so laut!“ Er hatte ihr aus dem Mantel geholfen, sie die Tasche an sich genommen. Beim Hineingehen hat sie erzählt, sie habe ihren Jungen mit dem neuen Fahrrad begleiten müssen.

„Was hat das damit zu tun?“, fragte er naiv.

„Ich lief neben ihm her und passte auf. In den Hinterhöfen gibt es Banden, die den Jüngeren alles wegnehmen. Sie wollten ihm das Fahrrad wegreißen, da habe ich die Pistole gezeigt. Sie wussten, dass ich schießen würde.“

Das war die Geschichte mit der Pistole, Carl grinste. Der Kellner wunderte sich nicht, Westler sind komisch. Der andere Fall, der mit der Bohrmaschine, war gar nicht lustig gewesen. Seine Freundin hat wie viele Frauen in Russland davon gelebt, in Asien Kleider einzukaufen – die eigenen Produkte waren unmodern und hässlich –, über Moskau in den Norden zu bringen und zu verkaufen. Mafiosi hatten am Flughafen in Moskau von den Frauen eine Sicherheitsgebühr kassiert. Sie hatte ein gut sortiertes Lager, als eines Abends eine Bande junger Leute erschienen war, einer hatte ihr eine Pistole an die Schläfe gedrückt, während die anderen das Lager leer geräumt hatten. Bei einer Geburtstagsfeier einer Bekannten, auch eine Kleiderhändlerin, hatte sie Carl auf einen Mann aufmerksam gemacht.

„Er hat mir den Großteil meines Lagers wieder beschafft“, hatte sie geflüstert. „Sein Freund gehört zur Mafia, er hat die Sachen zurückgebracht.“

„Gut für dich. Und wie?“, bohrte er nach.

„Nicht hier, komm, tanzen wir.“ Beim Tanzen – die eben servierten Speisen wurden kalt, das war normal – hat sie erzählt, die Mafia habe die jugendlichen Gangster ausfindig gemacht, den Anführer an die Wand gestellt.

„Und hat er geplaudert?“ Fragend hat Carl sie angesehen. Sie hat den Kopf geschüttelt. „Freiwillig hätte er nie ausgepackt.

Sie haben ihm eine Bohrmaschine an die Stirn gehalten, dann hat er geredet.“

„Oh Gott! Hätten sie denn…“ Sie hat genickt. „Natürlich.“

Carl war die Lust zum Feiern vergangen, auch zum Essen, das ohnehin kalt geworden war, sie waren ins Hotel gegangen. Derlei Geschichten wurden in seine Albträume integriert.

Im Restaurant von Scheremetjewo II hatte er das dritte Glas Tee im silbern schimmernden Becher vor sich, war zweimal auf der Toilette gewesen, beobachtete die aus den niedrig hängenden Wolken auftauchenden und im aufgewirbelten Regenwasser aufsetzenden Maschinen. Die Wartezeit zog sich, seine Gedanken liefen in die Vergangenheit.

Als er seine Freundin gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte sie ihre blaugrünen Katzenaugen – sie hat Katzen mehr als alles andere auf der Welt geliebt – nachdenklich auf ihn gerichtet und geantwortet: „Warum nicht?“ Es hatte sich angehört, als hätte er gefragt, ob sie Lust habe, spazieren zu gehen. Er war dankbar, dass sie nicht hinzugefügt hatte: „Es gibt Schlimmeres.“

Seine Frau und er waren sich an dem Tisch mit den scharfen Ecken gegenüber gesessen, an denen er sich oft das Knie wund gestoßen hat. Mit trockener Kehle hat er mitgeteilt, die Russin, wie sie im Haus nur genannt wurde, heiraten zu wollen. Ihre dunklen warmen Augen hatten ihm einen schmerzerfüllten Blick zugeworfen und er hatte einen Stich in der Herzgegend verspürt. Es hat wehgetan, der Frau, die er mehr geliebt hat als sich selbst, das anzutun, aber die Sekunden, da er alles wenden hätte können, hat er verstreichen lassen. Ihr sonst so sanfter Blick hat sich wie eine Nadel in seinen gebohrt.

„Du bist dir hoffentlich im Klaren, dass es nicht lange dauern wird, bis die so viel jüngere Frau abhauen und sich nach einem anderen umschauen wird.“ Sie hatte über ihn hinweg gesehen wie immer, wenn ihn eine Antwort treffen sollte. „Also gut, aber ich bestehe auf dem gesetzlichen Jahr der Trennung.“

Der Hieb mit dem Verschwinden der jungen Frau hatte gesessen, ähnliche Gedanken waren ihm durchaus nicht fremd geblieben, das hatte ein Traum gezeigt: Die Männer, die ihre Gunst genossen hatten – ihre Figur, ihre herausfordernder Blick und die lockigen blonden Haare hatten ihr oft anerkennende Pfiffe eingetragen, und es war eine erkleckliche Zahl von Bekannten, wie sie die Kavaliere genannt hatte –, waren bei ihm aufgetaucht und hatten verlangt, er habe sie zu versorgen, sonst ergehe es ihm schlecht, er verstehe schon. Hätte er ihr den Traum erzählt, hätte sie wahrscheinlich gelacht.

Wieder kam der Kellner, er stürzte sich auf die wenigen Gäste, hatte den Umsatz zu heben, doch wenige Russen konnten sich das Restaurant leisten. Carl bestellte den zweiten Espresso, vom Tee hatte er genug, schaute auf den Block, auf dem er sich Notizen machte, wenn er unterwegs war. Er schloss die Möglichkeit nicht aus, dass die Freundin nach einem oder zwei Jahren der Akklimatisierung verschwinden könnte, zumal er im Alltag mit der geliebten Russin manche unerfreuliche Situation erlebt hatte, vor allem wenn es um Hausarbeit gegangen war.

„Du könntest mir beim Saubermachen helfen“, hatte er vorgeschlagen.

Abschätzend hatte ihr Blick aus den im Sonnenlicht grün funkelnden Augen auf ihm geruht. „Dann hättest du dir besser eine Kuhmagd aus dem Dorf suchen sollen!“

Trotz des strahlenden Sonnentags hatte es ihn gefröstelt. Seiner Frau war trotz ihrer Intelligenz und Universitätsabschluss keine Arbeit zu schmutzig gewesen. Es war eine bittere Lektion, er hatte immerhin begriffen, dass Sex und Liebe zweierlei sind.

Im Schlaf hatte er einmal gerufen: „Ich bin unschuldig!“, sie hatte ihn wach gerüttelt und gefragt, ob er von einem Verhör geträumt habe. Er hatte den Kopf geschüttelt, wollte nicht seine dunklen Seiten und Albträume offenbaren, oder gar vom Schatten seines Vaters erzählen. Noch war er sich dessen nicht bewusst gewesen, aber er hatte einen Trennungsstrich gezogen.

Auf den Start- und Landespisten war es ruhig geworden, mittags flogen nicht viele Maschinen. Zur Toilette nahm er die Umhängetasche mit, obwohl das Restaurant leer war. Bis zum Einchecken dauerte es noch, er blätterte in seinen Notizen, ergänzte das eine oder andere.

Erstaunt hatte er festgestellt, dass sich plötzlich Frauen für ihn interessierten, die er kaum gekannt hat. Eine ehemalige, längst verheiratete Studentin, die er in ihrem Haus an einem anderen See besucht hat, meinte, seine Ungebundenheit und innere Freiheit seien zu spüren, das locke Frauen an wie der Braten die Wespen. Carl hatte keine Ahnung, dass sein Vater seine Amouren mit Missfallen beäugt und ihn im Testament wegen seiner Liaison mit der Russin bestraft hatte. Gewiss, das lag alles weit zurück, aber er hatte es nicht vergessen.

Endlich erschien auf der großen Tafel das Zeichen zum Einchecken, er zog den Koffer zur Zollkontrolle. Der Beamte sah an den Visa, dass er oft hier war, der Koffer wanderte auf dem Förderband in die Tiefe. Wie immer standen Schlangen vor den Kabinen der Passkontrolleure. Endlich war er dran, reichte den Pass, empfand wie immer während der Überprüfung ein Gefühl der Ohnmacht, fühlte sich der übermächtigen Bürokratie ausgeliefert, bis der Beamte den Stempel auf das Visum knallte und den Ausweis zurückgab. Um die Prozedur an der letzten Hürde zu beschleunigen, legte er Gürtel und Geldbörse gleich in die Plastikkassette.

Endlich saß er in der Maschine, die Gebäude des Flughafens flitzten vorbei, sie stiegen auf, tauchten durch die Wolkenbänke und erreichten in Minuten die vorgeschriebene Flughöhe. Die Sonne blendete, er lehnte sich zurück, zerbrach sich den Kopf, wie sich Vater das vorstellte, das Moorland zu besuchen, hatte es doch selbst nicht mehr betreten dürfen. Mit einem Ruck setzte er sich auf: Er hatte gedacht als wäre er Hannes, ist aber nie dort gewesen, das Moorland war doch nur ein seinem Kopf entsprungenes Fantasiegebilde. Er hätte Vater nicht versprechen dürfen, zu versuchen, ihn hinzuführen. Verwundert ob der heftigen Bewegung schaute der Sitznachbar hoch, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem großformatigen Tageblatt schenkte, für die er zwei Sitzplätze gebraucht hätte.

Auf die Wolkengebirge unter ihnen starrend dachte Carl an den Vorfall, als der Hausdetektiv im Kaufhof seinen Jüngsten beim Diebstahl zweier Jo-Jos erwischt und angezeigt hat. Vor dem Jugendrichter hatte sich das Gesicht des Jungen abwechselnd rot und blass verfärbt, die zur Schau gestellte Gleichgültigkeit war leicht zu durchschauen. Der Richter hatte Carl belehrt, es sei besser, beim ersten Mal erwischt zu werden und hatte dem Jungen vier Stunden gemeinnützige Arbeit im Friedhof aufgebrummt. Carl hatte ihn zum Pastor im Nachbarort gefahren.

„Holen Sie ihn ab?“, fragte der. „Ich mache das mit ihm zusammen.“

Ein Novembertag, der Wind blies eisige Regentropfen ins Gesicht, Carls Nase tropfte. Sie harkten Laub, trugen welke Blumen und Kränze zum Abfallhaufen, ihre Kleider waren klatschnass, bald fühlte sich der Anorak auch innen feucht an. Manchmal fing er einen nachdenklichen Blick des Jungen auf. Es dämmerte, sie meldeten sich beim Pastor ab, der die Arbeitsdauer in ein Heft eintrug, Carl die Hand drückte.

„Das ist für mich neu, dass ein Vater die Strafe mit dem Übeltäter teilt.“ An den Sohn gewandt: „Du hast es geschafft! War‘s kalt?“

Die Hände reibend antwortete er. „Geht so…“

Im Traum hat sich Carls Vater im Kirchhof auf eine nassglänzende Bank gesetzt, ihnen eine Weile zugeguckt, war dann zwischen den Gräbern zum Ausgang gegangen und ehe Carl ihm etwas zurufen konnte, hatte sich die Figur in den Regenschleiern aufgelöst.

Die Maschine kreiste über Hamburg, er war froh, zu Hause zu sein, so interessant Russland immer war. Doch zu Hause griffen bald wieder Albträume mit Angst auslösenden Bildern aus Russland nach ihm, tauchten neben ihm Schatten auf, versetzten ihn familiäre Kümmernisse, Ärger mit Behörden und lästigen Schwindelunternehmen mitunter in eine lähmende Gemütslage. Dann konnte er minutenlang vor sich hin stieren, außerstande, konzentriert zu arbeiten.

Die Angst der Schatten

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