Читать книгу Die Angst der Schatten - Friedrich Karl Schmidt - Страница 5
3. Zweite Begegnung
ОглавлениеCarl hatte nicht erwartet, dass es so schnell zu einem zweiten Treffen mit Vater kommen würde, hatte sich auch, wenn er ehrlich war, nicht gerade danach gesehnt, die letzte Begegnung lag ihm noch in den Knochen. Je länger er darüber nachdachte, desto unglaubwürdiger erschien sie ihm. Es war nicht so sehr die Gestalt Vaters oder das Unheimliche der Begegnung als vielmehr die Befürchtung, die Bilder könnten sein mühsam gefundenes Gleichgewicht erneut gefährden. Die Begegnung ließ sich nicht einfach als Sinnestäuschung oder Wachtraum abtun, die er vergessen konnte. Vater hatte doch angedeutet, etwas von ihm zu wollen. Abwegig der Gedanke, er war seit Jahren tot. Aber er war doch erschienen und hatte mit ihm gesprochen und es war eine Sache, eine Erscheinung im Traum zu haben und eine ganz andere, mit einem Toten zu reden. Carl hütete sich, jemandem davon zu erzählen, man hätte an seinem Verstand gezweifelt.
In der Bibel hatte er den Satz gefunden, der dazu passte: ‚Die Lebenden wissen wenigstens, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen gar nichts.’ Sollten die Halluzinationen andauern, blieb ihm wohl nichts anderes übrig als sich bei der Therapeutin zu melden. Sie hatte ihm Monate nach dem Tod seiner Frau geholfen, als er Briefe gefunden hatte, die ihm gezeigt hatten, dass sie bereits verlobt war, als er um ihre Hand angehalten und sie ihm das Jawort gegeben hat. Erst nach ihrem Tod erfuhr er, dass das alte Verlöbnis nicht gelöst war, brachte noch andere Dinge in Erfahrung, die seine Jugendliebe in einem anderen Licht erscheinen ließen. Die späten Erkenntnisse hatten die heile Welt zum Einsturz gebracht, die er sich aufgebaut hatte, sie hatten ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, sogar an Suizid hatte er gedacht. Das Schönste und Kostbarste in seinem Leben, die große Liebe, war auf einem Lügengebäude aufgebaut gewesen, hatte sich als Illusion erwiesen. Schmerz und Zorn hatten Denken und Fühlen beherrscht, das Wissen, jahrzehntelang belogen worden zu sein, hatte etwas im Inneren zerstört. Wie bei einer Aufziehpuppe, bei der die Feder gebrochen ist. Die Therapeutin hatte ihn nach etlichen Sitzungen so weit stabilisiert, dass er wieder Mut geschöpft hatte. Nun befürchtete er, die emotionale Festigung aufs Spiel zu setzen, wenn er zuließ, dass die Treffen mit dem verstorbenen Vater sein Denken beherrschte. Wie sehr Erinnerungen mit gefühlsmäßig wirkenden Bildern, die aus verborgenen Kammern des Gehirns ins Bewusstsein gehoben werden, das Denken steuern, merkte er an ganz alltäglichen Tätigkeiten, wie Wein aus dem Keller holen und sich dabei einzubilden, Vater mit der Flasche unterm Arm die Kellerstufen heraufschlurfen und in der Küche mit einem dumpfen Plupp die Flasche öffnen zu hören. Er sah das Einschenken anschaulich vor Augen, war versucht, sich auf seinen alten Platz hinter dem Tisch zu setzen. Oder er sah Vater im Lehnstuhl sitzen, nachdem er ein Klavierkonzert von Schuhmann aufgelegt hatte und nun andächtig lauschte, manchmal die Hände bewegte als dirigierte er das Orchester. Die Momentaufnahmen entwickelten eine erstaunliche Eigendynamik, Bilder aus der Vergangenheit tauchten auf, die er längst vergessen glaubte: Seine Mutter, die er selten fröhlich und nie glücklich erlebt hat, die immer wie ein Mantel eine traurige Grundstimmung umhüllt hat, aus deren Augen kaum je ein unbeschwertes Lachen geleuchtet hat. Sie hat sich nie von ihren Erlebnissen in jungen Jahren lösen können. Von ihr hat Carl die Anlage zu depressiver Verstimmung geerbt oder erlernt, auch Unsicherheit. Erst im Lauf des beruflichen Alltags ist es ihm gelungen, sich Selbstsicherheit und Gelassenheit anzueignen. Als Jugendlicher war er oft ohne äußeren Anlass in tiefe Schwermut verfallen, war auf Festen davongeschlichen. Es war die Ausnahme, dass ein konkretes Ereignis den Anstoß gegeben hatte wie damals, als ein Mädchen, von dem er angenommen hatte, sie mochte ihn, einen anderen erhört hat. Während einer Party hatte er versehentlich das falsche Zimmer erwischt, sie mit einem Freund halb bekleidet im Bett erblickt. Meist aber lag der düsteren Stimmung keine direkte Ursache zugrunde, sie kam über ihn wie ein Hagelschauer. Während des Studiums, als er endlich lernen konnte, was ihn interessierte, und er früh eine Familie hatte, waren die seelischen Tiefs seltener geworden. Berufliche Erfolge hatten dazu beigetragen, hatte er doch weit mehr erreicht als erträumt. Es war, sah er von den üblichen Rückschlägen ab, stetig bergauf gegangen. Und wenn er im Urlaub mit den Kindern vor einer Berghütte saß und auf die nahen Gipfel schaute, verspürte er ein ungeahntes Glücksgefühl. Nicht erwartet hatte er, dass ihm die Eltern noch abgehen würden, als er die Mitte des Lebens längst überschritten hatte. Vater hatte auf jeden Widerspruch mit Strenge reagiert, Diskussionen über von ihm getroffene Entscheidungen gab es nicht, dennoch war Carls Bindung an ihn eng gewesen, die Kinder spürten, dass er sie mochte. Dem korrekten und sachlichen Naturwissenschaftler wäre das in der Familie von Carls Frau übliche Küsschen hier und Küsschen dort peinlich gewesen. Er zeigte ungern Gefühle, gab auf Fragen Antworten, die Hand und Fuß hatten. Noch als Erwachsener hat sich Carl bei wichtigen Entscheidungen gefragt, wie Vater sie bewerten würde, hat die Gepflogenheit nach dessen Tod beibehalten.
Vaters Erscheinen am Fluss hatte sich ins Gedächtnis gebrannt. Vater hatte etwas mit ihm besprechen wollen und so wanderte er, wenn er sich im verwaisten Elternhaus aufhielt, fast verbissen gegen Abend zum Fluss, setzte sich auf einen Steinquader und wartete. Manchmal krächzte eine über den Fluss flatternde Krähe, ansonsten drang nur das geschäftige Murmeln des Wassers ans Ohr. Donnerte ein Zug vorbei – sehen konnte er ihn nicht, der Auwald lag zwischen Gleisen und Fluss –, tat die Stille hinterher fast weh. Leichter Nebel stieg vom dem Wasser hoch, der Mond linste durch die Wolken, es war wie damals, als Vater gekommen war. Carl schüttelte den Kopf, es war Narretei, zu erwarten, dass sich der Spuk wiederholte.
Wochen zogen ins Land, er arbeitete viel, die Erinnerung an das Erscheinen des Toten begann zu verblassen. Bis zu jenem Abend, als er nach einer Besprechung über ein Projekt heimfuhr und plötzlich neben sich die Stimme Vaters vernahm. Erschreckt hätte er beinahe den Randstreifen aus Beton gerammt.
„Ganz ruhig, mein Junge, ich bin es.“
„Wie kommst du ins Auto? Es war abgesperrt.“
„Beschäftige dich nicht mit Nebensächlichkeiten, guck lieber nach vorn. Mir kann nichts passieren, aber dir.“
Carl konzentrierte sich auf den Feierabendverkehr.
„Bin lange nicht im Auto gefahren …“ Carl warf der Gestalt neben ihm einen Blick zu. „Willst du mir nicht sagen, was dich herführt?“
„Es mag merkwürdig klingen“, erwiderte Vater zaudernd, als überlegte er, wie er ihm das Folgende beibringen sollte, „wenn dich ein Toter um etwas bittet, auch wenn es dein Vater ist. Nein“, berichtigte er sich, „er war es.“
Carl zwinkerte, um festzustellen, ob er träumte und fuhr auf den Platz vor dem Stadtpark. „Nach dem letzten Zusammentreffen hab ich überlegt, ob alles ein Ergebnis meiner Einbildungskraft war, es ist viel auf mich eingestürmt in letzter Zeit ...“ Er zögerte. „Meine Nerven sind, als wären sie rissig geworden.“
„Ich weiß, mein Sohn, ich weiß.“ Nach kurzem Schweigen brummte Vater leise, Carl verstand ihn kaum: „Ruhe wirst du noch genug haben, mehr als dir lieb sein wird. Sei froh, dass sich was rührt, auch wenn es nicht angenehm ist – es bedeutet Leben.“ Wieder eine Pause. „Du hast doch diesen Roman geschrieben, Land im Nebel oder so ähnlich …“
„Grenze im Nebel“, stellte Carl richtig. „Ja und?“
„Dort hast du jenes geheimnisvolle Moorland beschrieben und den Oheim, der dir die Zukunft vorausgesagt hat.“
„Nicht mich, sondern Hannes, die Hauptfigur, hat er in die Zukunft schauen lassen. Aber du bist sicher nicht gekommen, um mit mir über den Roman zu sprechen. Einmal davon abgesehen, dass du mehrmals versichert hast, jeder neue Roman sei überflüssig, es gebe bereits Kilometer davon.“
„Dieser Ansicht bin ich noch immer, dennoch hat mein Kommen mit deinem Roman zu tun.“ Der fremd und doch auch vertraut wirkende Beifahrer berührte das Lenkrad. „Wäre schön, wieder einmal zu fahren.“
„Vati“, drängte der Sohn, „willst du nicht endlich sagen, was dich herzieht?“ Er stockte. „Entschuldige, aber ich …“
Vater machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Schon gut. Immer noch die gleiche Ungeduld, hast du wohl von mir“, lächelte er. „Also gut: Ich möchte das Moorland besuchen, das du beschrieben hast. Und den Oheim kennen lernen.“
Carl lachte hellauf. „Sonst nichts?“ Lachend ergänzte er: „Du weißt so gut wie ich, dass das eine Illusion ist, Teil eines Romans eben, keine Wirklichkeit!“
„Schon“, stimmte Vater zu, „aber jemand muss dir Hinweise gegeben haben, das kannst du dir nicht alles aus den Fingern gesaugt haben!“
Carl lachte ein wenig verlegen. „In diesem Fall schon: Alles ist auf meinem Mist gewachsen.“ Hinterher ärgerte er sich, hinzu gesetzt zu haben: „Nun ja, das eine oder andere mag mir zugeflogen sein …“
„Steckte er dahinter?“, wollte Vater wissen.
Erstaunt fragte Carl: „Wer soll dahinter gesteckt haben?“
„Na der Oheim, wer sonst!“, gab Vater zurück, als wäre es ganz selbstverständlich.
„Vati, ich erklärte gerade, alles ist Fiktion! Auch ihn, den Oheim, gibt es nicht wirklich. Niemand aus dem Roman existierte je!“
Vater tat, als hätte er es nicht gehört. „Kannst du mich ins Moorland führen?“
Gereizt erwiderte Carl: „Es gibt kein Moorland, wie oft soll ich das noch sagen! Es ist erdichtet, reine Fantasie.“
Das starre ausgezehrte Gesicht wandte sich dem Sohn zu. Langsam, als fiele ihm das Geständnis schwer, sagte er: „Ich habe dich nie um etwas gebeten, das dir große Mühe bereitet hätte. Nun bitte ich dich um etwas, du könntest wenigstens zusagen, es zu versuchen.“ Flüsternd fügte er hinzu: „Ich habe nur diese eine Chance, eine zweite bekomme ich nicht.“
Carl startete den Wagen, knipste die Scheinwerfer an. „Gut, wenn es dich denn beruhigt, ich werde mich bemühen.“ Er fuhr auf die Gerade, erhöhte die Geschwindigkeit, verspürte einen Luftzug, blickte zur Seite, der Platz neben ihm war leer. Abrupt bremste er, hielt am Seitenstreifen, kramte zitternd einen Apfel aus der Tasche, biss ab. „Gott, was war das denn! Ein Sekundenschlaf? Muss zur Therapeutin“, murmelte er, „so geht das nicht …“ Gleichwohl wollte ihm der Satz Vaters, den er Wort für Wort im Gedächtnis behalten hatte, nicht aus dem Kopf gehen. ‚Ich will mit dir ins Moorland, möchte den Platz mit dem Häuschen sehen und den Alten treffen, der dir die Zukunft vorausgesagt hat. Vielleicht können wir auch den ominösen Berg besteigen.‘
Er war sich der Gefahr bewusst, sich ständig mit Trugbildern auseinanderzusetzen, zumal er sich mit der Unterscheidung, wo die Realität aufhörte und die Welt der Träume anfing, schwer tat, der Übergang war fließend. Den Vorsatz, seiner Fantasie Fesseln anzulegen, hatte er oft gefasst, aber immer hatte sie eine Lücke gefunden, um durchzuschlüpfen. Obwohl er genug zu tun hatte, sich zusätzlich des von außen einwirkenden Drucks erwehren musste, beabsichtigte er, die Bitte Vaters zu erfüllen, wusste allerdings nicht wie.
Ein Schreiben mit amtlichem Aussehen – weil dergleichen mit Scherereien verbunden ist, zögerte er mit dem Öffnen –forderte ihn auf, sich im folgenden Monat, das genaue Datum werde ihm rechtzeitig mitgeteilt, zur Anhörung vor dem oben bezeichneten Gericht einzufinden. Das Amtsdeutsch klang vertraut, von einem Gericht für exterritoriale Prozesse hatte Carl allerdings noch nie gehört. Unter dem Siegel mit einem exotischen Wappen standen weder Adresse noch Telefon- oder E-Mail-Nummer, auch das fehlende Datum fiel aus dem Rahmen. Sekundenlang starrte er auf das Schreiben, das ihn beunruhigte, ohne einen Grund angeben zu können. Von einem Witzbold? Er warf es in den Papierkorb, hätte darauf vergessen, wären nicht am nächsten und übernächsten Tag ähnlich lautende Briefe in der Post gelegen. Die Aufforderung klang entschiedener, am dritten Tag war ein Satz angefügt, der nicht mehr witzig klang: Sollte er nicht erscheinen, hätte er mit unerquicklichen Konsequenzen zu rechnen. Am unteren Rand stand: ‚Solange die Vorbereitungen für das Gerichtsverfahren laufen, werden Sie von Misslichkeiten verschont.’ Das war kein Beweis für einen Zusammenhang zwischen Belästigungen und dem im Telefonbuch nicht verzeichneten Gericht. Wie aber konnte das Gericht über Sachverhalte Bescheid wissen, die er nie jemandem anvertraut hatte? Ein Anwalt würde ihm raten, den Wisch wegzuwerfen, ein Gericht dieses Namens existiere nicht. Im Schreiben sei nicht mal eine Andeutung zu finden, was man ihm vorwerfe – ohne Anklagegrund kein Gerichtsverfahren. Und doch dachte er öfter als ihm lieb war an die Aufforderung, vor Gericht zu erscheinen. Vater hätte ihm vermutlich geraten, abzuwarten und anderes blieb ohnehin nicht zu tun. Ohne Adresse konnte er nicht einmal die Ladung als nichtig zurückweisen. Nach einer Weile traf abermals ein Schreiben des Gerichts ein, der Termin werde wegen der Komplexität des Falls und seines geplanten Besuchs im Schattenreich verschoben, ihm obliege es, inzwischen die erforderlichen Dokumente vorzubereiten. Was sollte er von der Vorladung eines Gerichts halten, das offensichtlich nicht existierte und es nicht für notwendig erachtete, ihm mitzuteilen, wessen er beschuldigt werde. Was war mit den erforderlichen Dokumenten gemeint: Geburtsschein, Pass und dergleichen? Und was sollte die Andeutung, sein Besuch im Schattenreich sei geplant? Das klang äußerst befremdlich, fast abwegig, es lohnte nicht, darüber nachzudenken.
Er hatte Vater versprochen, sich zu bemühen, ihn an einen Ort zu führen, der seiner Einbildungskraft entsprungen ist, nur im Roman eine Rolle spielte. Er hatte von einem Land fantasiert, das er nie gesehen hat und das es nicht gab. Auf der anderen Seite unterschied er selbst oft nicht zwischen Fiktion und Realität, lebte zwei Leben: Den Alltag mit Familie und Arbeit im Mittelpunkt und das andere mit den seinem Kopf entsprungenen Figuren, die zum Leben erwacht waren und gewissermaßen ein Eigenleben führten. Beim Schreiben des Romans war der Text in die Tasten geflossen, als würde jemand diktieren. Hat Vater das gemeint als er sagte, jemand müsse ihm das zugeflüstert haben?
Bekannte, die sich über seine auffallende Zerstreutheit wunderten, konnten nicht ahnen, dass er sich so intensiv in die Romangestalten einfühlte, dass alles andere eine Nebenrolle spielte. Hätten sie es, hätten sie ihm vermutlich empfohlen, einen Nervenarzt aufzusuchen. Es gab keinen stichhaltigen Grund, auf Vaters Wunsch einzugehen, das Moorland zu suchen, dennoch wollte er es versuchen, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wo anfangen.