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Theologische Grundlegung und Anlage des neuen Gotteslob

Um die theologische Bedeutung eines solchen Gebet- und Gesangbuches für die gottesdienstliche Feier tiefer ergründen zu können, lohnt es, die heutige liturgische Situation mit der vor ca. 100 Jahren zu vergleichen. Diese war nämlich sehr verschieden von der heutigen, und entsprechend hatte ein solches Buch eine andere Funktion.

Gilt die liturgische Feier heute als Vollzug der gesamten versammelten Gemeinde (die wiederum eingebunden ist in die Gemeinschaft der ganzen Kirche), so galt vor einem Jahrhundert allein das liturgische Handeln des Priesters als relevant, der es für die Gemeinde vollzog – ob diese nun direkt anwesend war oder nicht. Die Anwesenheit war erwünscht, und ein wie auch immer gearteter Mitvollzug der Gemeinde galt als fromm, im liturgischen Wertesystem aber war beides nicht entscheidend. Entsprechend boten Gebet- und Gesangbücher bis zur Liturgischen Bewegung Material für die fromme Übung des Einzelnen während der Messe oder aber auch für eine (Mess-)Andacht der Gemeinde, die neben der vom Priester gelesenen Messe gefeiert wurde, man könnte auch sagen: ablief. Schnittpunkt war in der Regel nur die Elevation mit der Anbetung und Verehrung der konsekrierten eucharistischen Gaben. Selbst wenn die Gemeinde Teile der Messe direkter mitvollzog, etwa in einem entsprechenden Lied, oder ein Chor in einer gesungenen Messe die Ordinariumsteile übernahm, hatte der Priester all diese Teile gleichzeitig für sich zu sprechen, damit die Feier überhaupt „gültig“ war.

Rollenbuch der Gemeinde

Indem die Liturgische Bewegung den inneren Mitvollzug der Feier durch alle als wesentliches Ziel herausgestellt hatte, konnte das Zweite Vatikanische Konzil dies auf die Kurzformel von der Actuosa participatio, der „Aktiven Teilnahme“ aller an der Liturgie zuspitzen. Die Mitfeier der Gemeinde war nun nicht mehr ein hinzukommendes Element zum Eigentlichen, sondern gehörte selbst wesentlich zum Vollzug. Damit mussten Gebet- und Gesangbücher all das bieten, was die versammelte Gemeinde für den Vollzug benötigte. Das Gotteslob von 1975 wurde daher bei Erscheinen auch als „Rollenbuch der Gemeinde“ bezeichnet, weil es all das bieten sollte, was die Gemeinde für die aktive Mitfeier des Gottesdienstes benötigte.

Dies bedeutet aber z. B. für die Eucharistiefeier nicht, dass das Gotteslob das komplette Messbuch enthalten müsste. Seit die Feier in der Muttersprache zur gängigen Feierform geworden ist, kann darauf vertraut werden, dass viele Gebete, die der Priester im Namen aller Versammelten spricht, oder die Lesungen, die eine Lektorin oder ein Lektor vorträgt, schon beim Hören verstanden werden. Dennoch gilt als unabdingbar, dass das Grundgerüst der Feier mit seinen gleichbleibenden Teilen (selbst wenn zwischen verschiedenen Formen gewählt werden kann) enthalten ist, damit die Gläubigen verschiedene Zugangsweisen haben und sich darin vertiefen können. So enthält das neue Gotteslob zumindest das zweite Hochgebet, das heute wegen seiner gut erfassbaren Struktur das Standard-Hochgebet in vielen Gemeinden darstellt (GL 588); das bisherige Gotteslob führte sogar alle vier bis zum Jahr 1975 approbierten Hochgebete auf (vgl. GL 1975 360, 367–369).

Buch für den Einzelnen, das Haus und die Gemeinde

Dennoch ist das Gotteslob nicht nur ein Buch für die Gemeindegottesdienste. Da es bei vielen Gläubigen vielleicht das einzige religiöse Buch ist, das sie neben der Bibel besitzen, muss es grundlegende Informationen zum christlichen Leben bieten (vgl. GL 29), aber auch zum Gebet. Das Gotteslob ist immer auch ein Gebetbuch des Einzelnen. Es muss Grundgebete bieten, aber auch Gebetstexte oder Formen, die in Krisenzeiten erst entdeckt werden können und dann auch tragen. Es muss ein grundlegendes Rüstzeug für das christliche Gebetsleben enthalten (vgl. GL 1–22). Dazu gehören sicher wichtige Psalmen (vgl. GL 30–80), die die kirchliche Tradition durchweg als verbindende Leitschnur des Gebets mit dem Judentum verstand.

Aber auch für Feiern in kleinen Gemeinschaften muss es Hilfen bieten. Als ursprüngliche kommt hier die häusliche Lebensgemeinschaft, speziell die Familie, in den Blick. Dieser Akzent ist in der Neuausgabe deutlicher herausgestellt, indem GL 23–28 bewusst häusliche Feiern zusammenfassen und dafür Modelle liefern.

Diözesane Eigenheiten

Und noch eine theologische Grundlage wird am neuen Gotteslob deutlich. Zwar ist es im gesamten Stammteil das gemeinsame Buch der beteiligten Diözesen. Dennoch haben die einzelnen Regionen ihre Eigenheiten in Frömmigkeit, Kirchenlied und Gottesdienstformen. Entsprechend besaß schon das Gotteslob von 1975 Diözesananhänge, mit denen das Eigengut weitergeführt werden konnte. Zugleich bildeten diese ein Scharnier zwischen den vorhergehenden diözesanen und dem erstmals erstellten gemeinsamen Gesangbuch. Es sollte vielen die Gewöhnung an das gemeinsame Gebetbuch und an neue oder fremde Lieder erleichtern.

Inwieweit sich auch die bei der Neuausgabe von 2013 wieder regelmäßig angefügten Diözesanteile als wirklich notwendig erweisen, wird erst die Praxis zeigen können. Dass im bisherigen Gotteslob die Anhänge nicht selten die im Stammteil verschmähten Lieder des 19. Jahrhunderts weitertradiert hatten, hat manchem dieser Lieder nun zur Übernahme in den Stammteil verholfen. Nicht weil jedes dieser Lieder theologisch oder musikalisch ach so wertvoll wäre, sondern weil die Gemeinden auch in diesem Liedgut „zu Hause“ sind. Und vielleicht haben die Diözesanteile auch die Funktion, in einer zunehmend globalisierten Glaubenswelt das wichtige Gefühl der Beheimatung zu geben.

In der anderen Richtung sind einige Lieder, die nicht mehr im Stammteil enthalten sind, nun in die Anhänge einzelner Diözesen aufgenommen worden, weil man dort nicht auf sie verzichten wollte: Von Ich steh an deiner Krippe hier (GL 1975 141) findet sich nun neben der Fassung im Stammteil (GL 256) die bekannte Wittenberger Melodie im Österreichanhang unter GL 806.

Gemeinsame Anhänge als eigene Form

Während die deutschen Diözesen zumeist ihre jeweiligen eigenen Anhänge herausgeben, geht man in der Österreichausgabe einen anderen Weg, weil es zu dem so genannten „Österreichanhang“ aller Diözesen des Landes keine weiteren Anhänge mehr geben wird. Dennoch kommen die diözesanen Eigenheiten insofern zum Zuge, als etwa zum Osterlied Der Heiland ist erstanden in Nr. 828–832 fünf verschiedene, in einzelnen Diözesen beheimatete Melodiefassungen aufgenommen sind. Im Kleinen sind auch einige deutsche Bistümer diesen Weg gegangen: Die Bistümer der Hamburger Kirchenprovinz (Hamburg, Hildesheim, Osnabrück) geben eine gemeinsame Gotteslob-Ausgabe heraus, ebenso die ostdeutschen Bistümer (Berlin, Dresden-Meißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg). Schließlich sind auch die Anhänge der Diözesen Freiburg und Rottenburg-Stuttgart gemeinsam gestaltet.

Beide Wege aber zeigen: Das Gemeinsame des Liturgischen und seine regionalen Ausformungen und Stile gehören konstitutiv zum Glaubensleben der Kirche.

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