Читать книгу Der Lauf der Zeit - Friedrich von Bonin - Страница 5
I. Spiel
Оглавление„Du hattest die Kreuz Dame!“, rief Heinrich Kanne aus, und zufrieden lachte Bruno von Halcan. „Natürlich ich, wer denn sonst?“ Sie spielten Doppelkopf und Bruno hatte die ganze Runde, alle drei Freunde, bis zur letzten Karte über sein Blatt im Unklaren gelassen. Er hatte erst zuletzt die zweite Kreuz Dame ausgespielt, dadurch die Gegenpartei irritiert, ein paar schöne Punkte gemacht und das Spiel gewonnen.
Behaglich saß er zusammen mit seinen Freunden am Tisch. Das war Heinrich Kanne, sein alter Kommilitone aus Studientagen, jetzt Vorsitzender Richter am Landgericht, und immer noch, mit seinen mehr als fünfundvierzig Jahren blond, fast ohne graues Haar, das Gesicht schief und bartlos, schief deshalb, weil seine Nase sich zur einen Seite bog, während sein Mundwinkel auf der anderen Seite etwas nach oben gezogen war, als lächele er ständig. Die blauen, intelligenten und neugierigen Augen waren nicht mehr von der dicken Brille verdeckt, seit Heinrich Kontaktlinsen trug. Sie blitzten jetzt fröhlich, natürlich, denn er war Brunos Partner in diesem Spiel gewesen und heimste jetzt mit ihm gemeinsam die Punkte ein.
Der Dritte in der Runde war Albert Praus. Auch ihn kannte Bruno seit den Studententagen. Albert hatte sich damals Bruno und Heinrich angeschlossen, klein, unscheinbar, mit einem blassen schmalen Gesicht und graubraun gesprenkelten Augen, die immer etwas furchtsam blickten und mit braunen Haaren. Albert war von Natur aus ängstlich und hatte gerne um die arroganten und selbstbewussten Kommilitonen geworben, bis sie ihn als Dritten akzeptierten. Inzwischen war er Direktor der örtlichen Sparkasse, war in diese Position gewissermaßen natürlich hineingewachsen, hatte doch schon sein Vater eine gleiche Stelle in einer Stadt in Süddeutschland bis zu seiner Pensionierung innegehabt. Schlank und schmal saß er da und sah seinen Partner, Guido Hamer, betroffen an. Sie hatten in diesem Spiel kräftig Punkte abgeben müssen.
Guido Hamer war der Einzige unter den Freunden, den sie nicht aus den Zeiten des Studiums kannten, Architekt von Beruf, lang und hochgewachsen, mit kurzen schwarzen Haaren und dröhnendem Lachen war er eines Tages in das Büro Bruno von Halcans gekommen und hatte verlangt, dass Bruno ihn in einem Haftpflichtprozess vertrete. Er kannte Margarete, Brunos Frau, von früher und hatte deshalb Bruno besucht. Bruno hatte von Baurecht keine Ahnung und empfahl Guido einen Spezialisten, der ihn vertreten könnte. Sie waren aber dennoch ins Gespräch gekommen, hatten aneinander Gefallen gefunden und sich danach ab und zu getroffen, vor allem, weil Guido und Margarete sich gut verstanden. Als ein Mitspieler die alte Doppelkopfrunde verließ, schlug Bruno Guido vor und so trafen sie sich einmal im Monat. Margarete hatte der Verabredung gerne zugestimmt, war auch einverstanden, dass sie ab und zu in ihrem Hause spielten, bevorzugte es aber, an diesen Abenden auszugehen, so dass auch heute die Vier unter sich waren.
Bruno war ebenfalls mehr als Mitte vierzig, mit viel Anteil an grauen Haaren. „Ich arbeite eben mehr und habe mehr Sorgen als ihr“, erklärte er den Freunden, die ihn damit aufzogen. Er hatte immer noch ein scharf geschnittenes Gesicht, das zwar leichte Ansätze zu einem Doppelkinn zeigte, ansonsten aber noch nicht von der Gewichtszunahme erfasst war, über die Bruno sich Sorgen machte. Erst kürzlich hatte er festgestellt, dass ihm seine Hosen nicht mehr passten. Im Gesicht gab es hiervon kaum Spuren, ein rechteckiges Gesicht war das, mit hoher, gefalteter Stirn, strahlenden grün braunen Augen, von geraden Brauen beschattet, schmalen Wangen, einem vollen Mund. An den äußeren Augenwinkeln zeugten inzwischen tiefe Lachfalten davon, dass er gut und gern lachte.
Behaglich sah er sich um. Hinter ihm knisterte im Kamin ein leichtes Feuer, das er angezündet hatte, weil es zwar nach dem Kalender schon Frühling war, nicht aber der Temperatur nach. Brunos Blick wanderte von seinen Mitspielern vor ihm hinaus auf die Terrasse, die jetzt im Dunkeln lag, den leicht abfallenden Garten, die Stadt, deren Lichter warm aus der Senke leuchteten. Er kehrte zurück in die Runde, in der Heinrich zum nächsten Spiel die Karten mischte und austeilte. Auf den Tisch, an dem sie spielten, war Bruno besonders stolz; halbhoch, stand er auf vier elegant geschwungenen Beinen, die in löwenköpfigen Füßen endeten, mit einer Platte, die aus dunklem Rosenholz gefertigt war, mit helleren Intarsien aus Nussbaum und sehr glatt. Die Platte hatte einige Gebrauchsspuren, die Bruno aber nicht im Geringsten störten, im Gegenteil, sie drückten die Nützlichkeit dieses Möbels aus, wie er zu sagen pflegte. Um den Tisch standen bequeme Stühle mit geschwungenen Holzrahmen, Lederbezügen auf den Sitzflächen und am Rücken und breiten Armlehnen. Jeder Spieler hatte vor sich ein Glas mit Rotwein, alle tranken sehr mäßig, und Wassergläser, die Bruno aus einer geschliffenen Karaffe füllte, die mit Silber beschlagen war. Bruno freute sich in der Spielpause, in der Heinrich die Karten austeilte, des Eindruckes von solidem Komfort, den er um sich gesammelt hatte und heute Abend mit den Freunden teilte.
Bis spät in die Nacht ging das Spiel, wie immer, wenn sie sich trafen, und mit viel Gelächter. Sie hatten eine ganz eigene Art entwickelt, Doppelkopf zu spielen, sie redeten ununterbrochen, auch über die Blätter, die sie hatten. Ein beliebtes Spiel war es, zu stöhnen, wenn man schlechte Karten hatte, aber auch, wenn sie gut waren. Offen wurde darüber geredet, wenn einer die Kreuz Dame hatte: „Wie gut, dann spielen wir ja zusammen!“. Jeder ernsthafte Doppelkopfspieler hätte sich furchtbar aufgeregt, der den Regeln getreu niemals über seine Karten redete, bis er gemerkt hätte, dass sie nichts über ihr wirkliches Blatt preisgaben, sondern dass die Aussagen zum Vexierspiel und zur Täuschung dienten. Niemand konnte sich darauf verlassen, welche Aussagen wahr waren. Sie hätten den fröhlichen Austausch von Informationen auch sein lassen können, aber um schweigend zu spielen, waren sie zu lebhaft, dann hätten sie lieber nicht gespielt.
Ausgelassen verabschiedeten sie sich weit nach Mitternacht, laut hallten ihre Abschiedsworte durch die stille Nacht, und dann waren sie weg. Bruno nahm im Licht der Außenbeleuchtung beiläufig den ersten grünen Flaum auf der Birke vor dem Haus wahr. Noch lächelnd über die letzten Sprüche, die hin und her geflogen waren, räumte er die Flaschen und die Gläser weg und ging ins Schlafzimmer.
Das Zimmer war dunkel. Er hatte nicht gehört, dass Margarete nach Hause gekommen war. Sie ging immer, wenn sie spielten, ins Bett, ohne sie zu begrüßen. Sie liebte es nicht, wenn er Licht machte, während sie schon schlief, also kleidete Bruno sich im Dunkeln aus, als er auf einmal wahrnahm, dass Margarete nicht im Zimmer war, dass er ihren Atem nicht hörte. Behutsam ging er auf ihre Seite, fühlte nach ihr, das Bett war leer, bis auf ein Papier, das unter seinen Händen knisterte. Alarmiert schaltete er die Nachtischlampe ein: Margarete hatte ihm einen Brief geschrieben. Bruno war auf einen Schlag hellwach. Er und Margarete hatten sich am Anfang ihres Zusammenlebens kleine Notizen hinterlassen, sie in ihrer zierlichen Schrift, Notizen mit alltäglichen Mitteilungen, immer begleitet von einer kleinen Liebeserklärung. Seit Jahren hatte er keine solche Notiz von ihr mehr erhalten. Kaum mochte er den Blick auf das Papier richten, die Hände zitterten ihm. Was konnte sie ihm mitteilen wollen und warum war sie nicht da? Jetzt endlich senkte er den Blick:
„Lieber Bruno, mein Ehemann und Geliebter“, schrieb Margarete, „ich verlasse Dich, heute Abend, jetzt. Ich verlasse Dich weinend, weil ich Dich immer noch liebe. Trotzdem verlasse ich Dich, weil mein Leben neben Dir nicht mehr mein Leben ist. Du weißt, wie ich immer Angst vor Deiner Skepsis hatte, wie ich aber gelernt habe, mit ihr zu leben. Du weißt aber auch, wie ich mich gewehrt habe, gegen die Wendung, die Du in Deinem Beruf gemacht hast, gegen den Reichtum. Du weißt, wie gerne ich in diesem Haus gelebt habe, aber auch das Haus ist Ausdruck des Lebens, das Du und auch ich zu führen begonnen haben. Alles in mir sträubt sich gegen eine Existenz als Ehefrau des prominenten und reichen Anwaltes. Mir ist klar geworden, dass ich dieses Leben nicht mit Dir teilen will, und deshalb gehe ich. Forsche nicht nach mir, Du wirst mich nicht finden. Lebe wohl.“
Bruno fühlte, wie sich ganz langsam sein Magen zusammenkrampfte, wie sein Mund sich verzog, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen und zum ersten Mal seit ungezählten Jahren weinte er, lange, tief schluchzend, bitter. Er warf sich auf das Bett, wühlte sich in die Bettwäsche, weinte, minuten-, stundenlang, bis er vor Erschöpfung einschlief. Am nächsten Morgen wusste er sofort, als er aufwachte, was ihm geschehen war, Und wenn er sie suchte? Wenn er ihr nachforschte, sie fand, und sie bat, zu ihm zurückzukehren? Aber er wusste, das würde er nicht tun. Bruno war kein Kämpfer, schon einmal hatte Margarete ihn verlassen, ihm zu verstehen gegeben, dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle. Und dann war sie zurückgekommen, auch damals hatte er nicht nach ihr gesucht.
Bilder hatte er von ihr in sich, Bilder, wie er sie das erste Mal sah, wie er sie das erste Mal küsste, wie sie in dieses Haus gezogen waren und sie sich gefreut hatten. Bilder aber auch von ihren Streitereien der letzten Tage, Wochen, Monate. Immer hatte sie ihm deutlich gesagt, dass er sich gewandelt habe und sie das Leben, das sie führten, nicht akzeptieren wolle.
Bruno sah sie deutlich vor sich, wie er sie das erste Mal gesehen hatte, ein junges Mädchen, das er vorher nicht beachtet hatte, über den Schulhof gehend, er erinnerte sich an das Gefühl, das ihn damals überfallen hatte. Er hatte sich verliebt in Margarete, ein Gefühl, das bis heute nicht erloschen war.
Still, bitter, jetzt tränenlos, saß Bruno auf dem Bett. Sie hatte ihn verlassen, heute Nacht, zum zweiten Mal, aber warum?
Bruno erinnerte sich an Splitter ihres gemeinsamen Lebens. „Nimmst Du denn gar nichts ernst?“ hatte sie ihn oft gefragt, wenn er sich lustig machte, über ihre Kollegen, seinen Beruf, über Mandanten, über politische Entwicklungen. Er hatte ihr zu erklären versucht, wie sehr Skepsis Teil seiner Existenz sei, wie er sie als Schutzschild gegen das Leben brauche und warum. Und sie war damals zu ihm zurückgekommen.
Über Geld hatten sie zuletzt gestritten, nicht, weil sie zu wenig hatten, sondern zu viel und weil, wie sie sagte, ihm Geld zu wichtig sei. Hatte er sich so sehr verändert, oder war er immer der Gleiche geblieben, hier in Göttingen, vorher in Göttingen als Student oder noch früher, in Neuburgheim, als Kind?
Bruno sah Bilder von sich als Kind, als Schüler, sich selbst mit seinen Eltern und Geschwistern in Neuburgheim, und begann, sich zu erinnern. Keinen Augenblick würde er Margarete vergessen, er trauerte um das Leben mit ihr, das jetzt vorbei war, und er wusste, noch lange würde er trauern.
Sie war es, die ihn in der Schule angesprochen hatte, er war noch nicht siebzehn Jahre alt, sie standen mit Klassenkameraden vor einem Bild mit einsamer Heidelandschaft im Klassenzimmer.
„Nun, Bruno“, hatte sie ihn angelächelt, „denkst Du da nicht an schöne Stunden?“
Bruno war vollkommen in ihren Anblick vertieft gewesen und schrak hoch. Sie hatte ihn angesprochen, ihn, Bruno. Unter Tränen lächelte Bruno, als er daran dachte, wie ungeschickt er gewesen war, aufgeschreckt und an seinen Platz geflüchtet war er, eine Arbeit vorschützend. Tagelang hatte er sich nicht getraut, sie auch nur anzusehen. Das war in Hermstadt gewesen, der Stadt, in der er in das Gymnasium ging.
Hermstadt, Neuburgheim, wie tröstlich war es, an die Orte zu denken, in denen er seine Jugend verbracht hatte, wo er seinen Anfang genommen hatte, beruhigend wie die Heidelandschaft in Neuburgheim.