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3. Der Narzissmus in der modernen Welt


Narzissmus begegnet uns im Zeitalter von Schönheitsidealen, Popkultur, Erfolgsstreben und einer stark ansteigenden virtuellen Präsenz im Internet, wo jeder im Grunde sich selbst neu erschaffen kann, fast überall. Es geht darum, in einer Gesellschaft etwas darzustellen, wobei gleichzeitig die Individualität angestrebt wird und die einheitliche Übereinstimmung mit der Masse. Zwei Welten und Bestrebungen interferieren hier. Besonders neue Trends und Moden werden sofort aufgegriffen und gelebt, wenn sie helfen, sich irgendwie zu definieren.

Dem gegenüber steht der Wunsch, sich von der Masse abheben zu wollen und etwas zu sein oder zu tun, das klare Unterschiede zum Rest setzt. Leider geschieht das zum Teil auch sehr radikal. Wer auffallen möchte, sucht nach Möglichkeiten auf allen Ebenen. Das kann auch sehr destruktiv oder sogar selbstzerstörerisch erfolgen.

Wenn kein Talent vorhanden oder das Aussehen eher langweilig und unauffällig ist, bietet die moderne Gesellschaft zahlreiche Wege, sich irgendwie abzuheben. Das kann z. B. durch markante Körperkunst, durch Extremsport, durch Erfolg oder Machtbesessenheit sein. Manch einer riskiert für den Kick des Auffallens sogar sein Leben.

Hinter all diesen Versuchen, dem Dasein irgendwie eine Bedeutung abzugewinnen, liegt natürlich eine Form von Eitelkeit. Zum Narzissmus ist es dann nicht weit, wobei dennoch klare Grenzen einer korrekten Zuordnung gesetzt werden müssen. Der Begriff ist teilweise sehr schnell herangezogen, wenn jemand eitel, selbstbezogen, beziehungsunfähig und unnachgiebig auftritt. Wirklicher Narzissmus hat mit der normalen Eitelkeit jedoch wenig zu tun.

Er ist erst dann ein Thema, wenn die Regulierung des Selbstwertgefühls nicht funktioniert und auffällige Schwankungen zwischen dem selbstbewussten Auftritt und der tatsächlichen Selbsteinschätzung sichtbar werden. Von einer leicht narzisstischen Tendenz bis hin zu einem ausgeprägten pathologischen Problem gibt es etliche Abstufungen.

Narzissmus ist Egozentrismus, übersteigerte Selbstliebe und geht dabei oft mit einem geringen Selbstwertgefühl einher. Das Paradoxe dieser Persönlichkeitsstörung ergibt sich dadurch, dass der Narzisst zwar von sich überzeugt ist und auch lautstark das eigene Selbst in den Mittelpunkt stellt, jedoch seine Selbstakzeptanz nicht eigenständig bewältigt, sondern diese von außen bezieht. Das bedeutet, er sucht ständig nach Bewunderung und Anerkennung, um sich überhaupt wahrnehmen und spüren zu können. Ist das nicht der Fall, stürzt er in eine tiefe Krise.

Er nutzt andere Menschen wie einen Spiegel, ohne sie selbst wahrzunehmen. Er toleriert dabei auch keinen Widerspruch oder gar Kritik. Dabei versucht er für die Selbstbestätigung immer wieder neue Grenzen zu überschreiten. Das kann im Beruf, im Alltag, beim Sex oder in anderen Bereichen sein, bis das grandiose und übersteigerte Ideal-Selbst dann wieder zusammenbricht und die verletzliche Seite hervortritt, die, so bloßgelegt, versucht, sich zu wehren und zu rächen.

„Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich!“ – diese Aussage bleibt der Grundton jeder Sehnsucht nach Bewunderung und Anerkennung und ist dabei auch ein Ausdruck des Narzissmus. Etwa seit dem 19. Jahrhundert wird der Begriff sofort mit dem Krankhaften und Negativen assoziiert. Das ist insofern gegeben, weil der Narzisst seine Anerkennung benötigt, dabei aber selbst nicht in der Lage ist, diese anderen zu gönnen. Empathie ist ihm ein Fremdwort, während die Empfindsamkeit stark übersteigert ist. Er kann sich nicht in andere einfühlen, ihre Sorgen und Probleme teilen, bemitleidet aber umso mehr sich selbst. Jeden empfindet er als Konkurrenz, der ebenfalls Zuspruch möchte, was wiederum bewirkt, dass er den anderen entwertet und verachtet.

Fühlt der Narzisst seine Großartigkeit nicht bestätigt, kommen Minderwertigkeitsgefühle auf. Das bewirkt sehr starke Schwankungen zwischen dem grandiosen und dem verletzlichem Ich, das unter der Maske der narzisstischen Selbstdarstellung verborgen liegt. Minderwertigkeitsgefühle drücken sich in Angst, Scham, Selbstzerstörung, Leere und Wut aus. Narzisstische Krisen sind sehr schwierig zu bewältigen und können auch mit Selbstmordgedanken enden. Daher ist der Narzisst keinesfalls einfach nur ein aggressiver und selbstverliebter Mensch, der Bewunderung will. Hinter der Fassade liegt eine ganze Welt an Verletzlichkeit, in der das kleine Selbst mit dem grandiosen Selbst ringt.

Heutzutage gibt es für verschiedene Persönlichkeitsstörungen gute Therapieansätze. Der Narzissmus ist dabei seit den ersten Definitionen durch Sigmund Freud über C. G. Jung, Erich Neumann, Sandor Ferenczi bis zu Heinz Kohut psychoanalytisch zergliedert worden, wobei die Konzepte systematisch das Wesen des Narzissten erschließen. Besonders heute spielt die Ich-Perspektive und damit verbundene Ich-Psychologie eine wichtige Rolle, in der die Selbstrepräsentanz viele Ausdrucksformen hat. Oft scheint es, dass mit zunehmendem Fortschritt neue und veränderte Krankheitsbilder auftreten, die vorher nicht existiert haben. Auch wenn viele psychische Erkrankungen früher einfach als Wahnsinn abgetan wurden und erst nach und nach eine Einteilung der Krankheitsbilder erfolgte, zeigen sich mit der veränderten Außenwelt auch neue Variationen. Die psychiatrische Couch ist zum Sinnbild geworden, da mit der Schnelligkeit und Hektik des modernen Lebens die wenigsten mithalten können. Von der Couch treten sie auf die Straße und werden überrannt.

Das führt immer zu Krisen und Neuorientierungsversuchen. Hinzu kommt, dass vieles bereits in der Kindheit geprägt wird. Deshalb ist nicht nur der Narzisst ein typisches Erscheinungsbild der heutigen Gesellschaft, sondern auch der Neurotiker, der Borderliner und sogar der Echoist, der wiederum eine Art Gegenteil des Narzissten ist. Während der Narzisst als empathieloser, arroganter und selbstbezogener Manipulator gilt, der die Bewunderung durch andere benötigt, ist der Echoist dann zu bescheiden und unterwürfig. Auch diese Bezeichnung geht auf die griechische Mythologie und die Geschichte von Narziss zurück und bezieht sich auf die Nymphe Echo, die sich in ihrem Kummer auflöste. Der Echoist lebt die an sich guten menschlichen Eigenschaften der Selbstlosigkeit ins Extreme. Ihm fehlen entsprechend die narzisstisch gesunden Eigenschaften, und das Selbstwertdefizit nimmt Überhand.

Moderne psychische Erkrankungen stehen in enger Verbindung mit dem starken Leistungsdruck und Stress gegenwärtiger Lebensweisen. Auch die moderne Arbeitswelt kann zur psychischen Belastung werden. Hinzu kommen neue Bedien- und Aktivitätsfelder, die wiederum psychische Grenzen überschreiten. Wer hätte früher gewusst, was Cyber-Mobbing oder Reflexivterroristen sind? Eine Wohlstandsgesellschaft erschafft einige neue Krankheitsbilder und diese äußern sich wiederum als direkte und aberwitzige Reflexion auf die Hektik- und Wellness-Ära und die damit verbundene Betroffenheitskultur. Und einen wichtigen Part davon nimmt dann auch der Narzissmus ein.

Welche Art des Narzissmus’ ein Mensch entwickelt, hängt davon ab, ob er eine introvertierte oder extrovertierte Person ist. Daher gibt es auch die Trennung zwischen dem offenen und verdeckten Narzissmus oder die davon abgeleitete Extremform der Selbstaufgabe durch den Echoismus. Während narzisstische Tendenzen auch angeboren sein können, bleibt die Störung, ob übersteigert oder unterwürfig, eine Erziehungssache.

Dazu tragen nicht nur fehlende Liebe bei, sondern auch narzisstische Eltern, die dem Kind suggerieren, nur dann glücklich zu sein, wenn es sie tröstet oder ihnen Liebe gibt. Jede Art der Eltern-Kind-Beziehung hat Einfluss auf das spätere Selbst. Der Narzisst heischt nach Aufmerksamkeit, der Echoist verbirgt sich im Schatten. Beide geben dem eigenen Selbst keine Chance der Entfaltung, verzerren oder verdrängen es. Das zeigt, dass immer wieder neue Verhaltensstörungen auftreten, die durch Kindheit, Gesellschaft und Fortschritt ihren Ausdruck finden.

Spiegel der Vernunft

Wenig an der Realität orientiert ist daher die Vorstellung, dass die Sucht nach Bestätigung einfach überwunden werden kann. Dieses Bedürfnis ist als Basis in jedem Menschen tief verankert, lediglich der Umgang mit Lob und Anerkennung unterscheidet sich. Niemand kann leben, ohne dass sein Selbst, Handeln oder Talent unbeachtet bleiben. Die Wertschätzung ist wichtig, um weiterzumachen und auch sich selbst besser kennenzulernen. Eine Bestätigung durch andere Menschen fühlt sich gut an. Erst, wenn diese wie ein Zwang benötigt wird, wenn die Reaktion anderer das Selbst erst formt, wird das Ganze problematisch.

So weit hergeholt ist die narzisstische Ader daher gar nicht, die in jedem Menschen vorhanden ist. Wir blicken in andere Gesichter und sehen uns in ihrer Reaktion gespiegelt. Das bestimmt unser Selbstgefühl, da die subjektive Sicht nicht zuverlässig ist. Ein fremdes Gesicht zeigt uns, wie wir wirken und agieren. Und auch der normal veranlagte Mensch reagiert auf Missbilligung, Strenge, Wut oder Unzufriedenheit irritiert und versucht, sein Handeln und Auftreten neu zu bewerten und auszurichten. Die menschliche Entwicklung baut auf die kommunikative Spiegelung mit anderen auf. Sie dient als eine Art Orientierungsrahmen und erzielt durch positive und negative Wirkungen die Selbstreflexion.

Normalerweise gelangt der Mensch so zu einem relativ stabilen Selbstwert und einer realen Einschätzung seiner selbst. Stärken und Schwächen werden günstig ausgeglichen, das Selbstbild verändert sich auch mit zunehmender Reife. Abhängig ist der Prozess natürlich immer von dem, was wir erleben, wo und wie wir aufwachsen, welche Erfahrungen wir sammeln können und wie offen und ehrlich wir uns selbst gegenüberstehen. Der Einfluss anderer spielt dabei eine Rolle, bestimmt jedoch nicht komplett unser Verhalten. Wir lernen, Kritik zu akzeptieren, Kränkungen wegzustecken und die Begegnung mit anderen Menschen schätzen zu lernen. All das ist dem Narzissten nicht gegeben.

Und wo die Eigenliebe früher verpönt war, ist sie heute Ausdruck moderner Sichtweisen. In der modernen Gesellschaft wird etwas Neues gefördert, das am Schluss dieses Buches noch genauer definiert werden soll. Narzissmus ist gesellschaftsfähig geworden. Ganze Generationen werden darauf getrimmt, das Ego wichtiger zu nehmen, als es ist.

So wird der moderne Mensch z. B. mit Werbung konfrontiert, die auf Überheblichkeit und Egoismus setzt und diese Charakterschwächen fördert. „Eure Armut kotzt mich an!“ oder „Geiz ist geil!“ sind nur einige der Slogans, die bedenklich tiefer greifen und neue Generationen prägen. Sich selbst am nächsten zu sein, wird der Mensch aufgefordert, während auch die moralische Bestrafung für schlechte Taten durch Religionslosigkeit und Atheismus wegfällt. Für den Erfolg über Leichen zu gehen, schockiert heute keinen mehr. Und wie soll unter den akzeptierten Richtlinien der Ichbezogenheit und Selbstliebe dann noch der krankhafte Narzisst auffallen?

Der Narzissmus

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