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Оглавление4. Gesunder und krankhafter Narzissmus
Der Narzissmus an sich ist noch keine grundsätzlich schlechte Eigenschaft. Narzisstische Züge haben fast alle Menschen, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind. Sind diese im ausgewogenen Verhältnis, fördern sie in gesunder Weise das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Der Narzissmus dient entsprechend der Stabilisierung des Selbst.
Wie bereits erwähnt ist die Selbstliebe als Grundbasis notwendig, um Nächstenliebe vermitteln zu können. Wer ein positives Selbstbild von sich hat, akzeptiert sich selbst, kann über sich selbst lachen und ist in der Lage, eine liebevolle Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen. Die Eigenliebe ist dann positiv, wenn sie sich nach innen und außen richtet. Während das eine Extrem der Narzissmus und die Egozentrik sind, besteht das andere aus Unterwürfigkeit und Selbstaufgabe. Mehr oder weniger tendieren Menschen daher immer in die eine oder andere Richtung, ohne ins Extreme zu verfallen. Eine stabile Psyche erlaubt das Übernehmen der Verantwortung für sich selbst und für andere. Die innere Liebe wird nach außen abgegeben, die Aufmerksamkeit für sich selbst reicht über das eigene Ich hinaus.
Gesunde narzisstische Wesensmerkmale zeichnen sich durch eine Stabilität und Kontinuität des Selbsterlebens aus. Die inneren Stärken werden in gesunder Selbstdarstellung genutzt, um sich zu präsentieren. Das fördert auch die Stressbewältigung, die Erfolgsaussicht im Beruf oder den Umgang mit anderen Menschen. Auch hier besteht die Gefahr, sich über andere Meinungen zu stark zu definieren oder von deren Anerkennung abhängig zu werden.
In der Regel wird der gesunde Narzissmus aber nicht zum eigentlichen Problem, sondern erlaubt auch die Empathie für andere und die Akzeptanz von Kritik. Geben und Nehmen bereiten keine Schwierigkeiten oder sind nur eine Zeitlang im Ungleichgewicht. Jeder hat das Recht, stolz auf seine Erfolge zu sein, ohne dass das Selbstwertgefühl ausschließlich davon abhängig ist. Bleiben die Erfolgserlebnisse aus, kommt es auch beim Durchschnittsmenschen zu kleineren Krisen und zu einem innerlichen Rückzug.
Da jedoch der Mensch selten lange alleine sein möchte, überwindet er die Phase und wird mit neuer Energie auch neue Erfolge verbuchen können. Das Echo ist immer wichtig, um zu erkennen, ob man auf dem richtigen Weg ist. Vielen Künstlern der Vergangenheit blieb diese Hilfe verwehrt und trotzdem machten sie weiter. Hätten sie gewusst, dass ihre Werke, ob in Kunst, Literatur, Musik oder anderen Bereichen, nach ihrem Tod bekannt werden würden, wären wohl auch die Krisen seltener gewesen oder hätte so mancher Suizid nicht stattgefunden. Hier hat der gesunde Narzissmus sein Werk getan. Er hat eine Selbstüberzeugung ermöglicht, weiterzumachen, ohne zu wissen, wohin das Ganze führt. Die fehlende Anerkennung blieb als hilfreiches Echo zwar aus, eine Ahnung drängte jedoch zum Schöpfungsakt. Und genau das hat der heutigen Welt große Werke beschert. Narzissmus hat viele Gesichter, und manche als Selbstspiegelung dienen auch als Trost und Förderung der Kreativität.
Im geeigneten Maß ist Narzissmus daher nicht schädlich oder krankhaft. Ein Mensch sollte in der Lage sein, sich selbst in positiver Weise zu betrachten und wertzuschätzen, sich zu achten und so die Voraussetzungen zu schaffen, eine stabile Persönlichkeit aufzubauen, die dann auch ein erfülltes Leben nach sich zieht. Das macht auch Rückschläge, Kritik oder Niederlagen verdaubar.
Leicht narzisstische Verhaltensweisen erzielen eine harmonische Ausstrahlung, die ausgeglichen und nicht übertrieben wirkt. Gefestigte Überzeugungen gehören genauso dazu wie die Toleranz und das Verständnis für andere. Der Stolz auf die eigenen Leistungen ist in dieser Selbstwertschätzung natürlich inbegriffen. Das Streben nach Anerkennung und Selbstverwirklichung ist nicht negativ behaftet. Das ändert sich erst, wenn die Bedürfnisse und Wünsche vorwiegend auf sich selbst ausgerichtet sind und auf andere keinerlei Rücksicht genommen wird.
Kennzeichen für den modernen Narzissmus
Bis zum krankhaften Narzissmus ist es von dieser Art Narzissmus jedoch immer noch ein weiter Weg. Wer ständig die Bestätigung durch andere benötigt, hat meistens ein schwaches Selbstwertgefühl. Drückt sich dieses jedoch durch den ständigen Zwang aus, im Mittelpunkt stehen zu müssen, um sich aufzuwerten, beginnt die erste Phase der pathologischen Ausrichtung.
Das narzisstische Verhalten ist immer durch das Gefühl einer unantastbaren Größe und Einzigartigkeit gekennzeichnet, die auch mit Überheblichkeit und Hochnäsigkeit einhergeht. Die kaltherzige Art ist mit einer anmaßenden Verurteilung anderer Menschen verbunden. Die eigenen Interessen sind die einzigen, die für den Narzissten zählen.
Der Psychiater Reinhard Haller hat in seinem Buch „Die Narzissmusfalle“ die vier E-Kennzeichen sehr genau definiert. Diese sind:
•E wie die Egozentrik
•E wie die übersteigerte Empfindlichkeit
•E wie die mangelnde bis fehlende Empathie
•und E wie die Entwertung (von anderen Menschen).
• Der egozentrische Mensch hat keinen Nerv für die Gefühle anderer Menschen. Alles, was er wahrnimmt, ist er selbst, wobei auch seine eigene Ansicht der Maßstab für alles ist. Dazu bezieht er alles, was geschieht, auf sich selbst, ob es nun tatsächlich objektiv im Zusammenhang mit ihm steht oder nicht.
Die Welt ist entweder für ihn oder gegen ihn. Diese Tendenz gerät zum Narzissmus, wenn die Egozentrik so weit führt, dass keinerlei Zweifel an der eigenen Meinung aufkommt. Die Urteile und Gedanken werden nie in Frage gestellt. Ein Irren ist unmöglich. Daher entschuldigen sich narzisstische Menschen auch nie und geben grundsätzlich anderen die Schuld. Eine andere Meinung wird nie toleriert und als Angriff auf die eigene verstanden.
• Die übersteigerte Empfindlichkeit und Sensibilität sind bei Narzissten schnell sichtbar, da sie diese wie eine Waffe nutzen und sich nicht scheuen, unsachlich und grob Kritik an anderen zu üben. Selbst können sie Kritik nicht einstecken und reagieren dann bösartig und beleidigt, auch wenn diese wohlwollend oder konstruktiv erfolgt. Sie wird als Angriff verstanden, als ungerechtfertigt und unsinnig. Das angekratzte Selbst wehrt sich dann durch Hass und Zorn.
Die Feindseligkeit hält dabei auch lange an. Ein Narzisst ist durch die Empfindlichkeit immer nachtragend und rächt sich entsprechend durch Abwertung und langlebige Feindschaft. Hervorgerufen wird das durch die ihm innewohnende Angst vor Geringschätzung und Missachtung. Die eigene bösartig geübte Kritik ist ein Schutzschild und eine Abwehrhaltung.
• Die mangelnde oder komplett fehlende Empathie drückt sich beim Narzissten dadurch aus, dass er absolut nicht in der Lage ist, sich in andere hineinzudenken, mit ihnen mitzufühlen oder überhaupt fremde Emotionen wahrzunehmen. Daher ist nicht nur das Verhältnis zur unmittelbaren Umgebung, zum Partner, zu Freunden oder Familienangehörigen gestört. Der Narzisst zeigt auch keinerlei Gefühlsregung bei tragischen Ereignissen, Schmerz, Trauer oder Tod.
Jede Empathie benötigt die Selbstreflexion und Wahrnehmung eigener Gefühle. Je mehr diese gedeutet und zugelassen werden, desto mehr kann ein Mensch auch auf andere Emotionen reagieren oder diese nachempfinden. Für den Narzissten ist Mitgefühl jedoch nur ein Mittel zum Zweck, wenn es Vorteile bringt oder ermöglicht, Bewunderung zu erhalten. Schön sichtbar wird das immer bei Spendengalas, wenn reiche Narzissten nicht geben, um zu helfen, sondern, um sich selbst in Szene zu setzen. Die noble Geste wird nicht innerlich empfunden. Wenn überhaupt Mitleid das Thema ist, dann hat es der Narzisst verdient und empfindet es auch nur für sich selbst. Das hat jedoch nichts mit Selbstliebe zu tun. Letztendlich kann der Narzisst sich nur oberflächlich lieben, da ihm das Gefühl der Liebe und Empathie an sich fremd ist.
• Seinen Ausgleich findet der Narzisst in der Entwertung anderer. Es reicht ihm nicht, sich selbst aufzuwerten, er muss andere immer auch gleichzeitig abwerten. Das tut er, indem er verletzend und bösartig auftritt, andere erniedrigt, Schuld zuweist und uneinsichtig ist. Wenn er erkennt, dass er erfolgreich ist, fühlt er sich durch die Entwertung des anderen besser und erhöht.
Auch Zynismus und Sadismus sind Ausdrucksformen der Entwertung. Daher ist es selten verwunderlich, dass Zyniker zwar gut austeilen können, Kritik jedoch nur schlecht wegstecken oder sogar tief beleidigt reagieren. Sie nehmen sich von dem, was sie in Frage stellen, immer aus. Ist die Menschheit schlecht, bilden sie die einzige Ausnahme. Die Steigerung von der Ironie zum Sarkasmus und Zynismus ist fließend und reicht von einem witzig gemeinten Scherz bis in die Verbitterung. Der Narzisst neigt zum Zynismus und macht sich über andere lustig. Der verschmitzte Blick auf sich selbst gelingt ihm nicht.
Der robuste Narzissmus
Eine der wichtigsten Zwischenformen ist der robuste Narzissmus. Dieser zeigt bereits eine Spaltung zwischen dem verletzlichen und grandiosen Selbst. Die schwache Seite wird übertüncht und die starke Seite expansiv gefördert. Dabei bleibt das Selbstwertgefühl immer noch realitätsangepasst und stabil.
Das ermöglicht, dass Narzissten gut in das soziale Umfeld integriert sind und über einen gesunden Ehrgeiz verfügen, ihre Leistung zu verbessern. Das grandiose Selbst dient jedoch auch hier schon als Schutz vor Selbstzweifeln und Unsicherheit. Das zieht nach sich, dass der Mensch versucht, selbstbewusster aufzutreten, als er im Grunde ist. Teilweise kann das bereits als egozentrisches Verhalten durch andere Menschen wahrgenommen werden.
Meistens haben robuste Narzissten viel Erfolg im Leben und nutzen die eigenen Stärken für den Auftritt in der Öffentlichkeit. Kritik ist zwar auch hier schon schwierig zu verdauen, der Narzissmus bleibt jedoch noch flexibel und gestattet die Selbstreflexion. Die Ebenen vom verletzlichen zum stabilen bis zum grandiosen Selbst sind fließend miteinander verbunden. Ein Hang zur Selbstdarstellung ist zwar vorhanden, jedoch noch nicht krank- und zwanghaft.
Das kann auch Schwierigkeiten in Beziehungen zu anderen verursachen, z. B. in einer Partnerschaft. Solche Bindungsängste oder die eigene Selbstbezogenheit und fehlende Rücksichtnahme sind Ausdruck dafür, dass narzisstische Tendenzen vorliegen, die bewältigt werden müssen. Das alleine ist noch nicht krankhaft, sondern eine Zwischenform.
Narzissmus kann sich dabei auch offen oder verdeckt zeigen. Bei einem offenen Narzissmus tritt die Person extravertiert, charmant, großspurig und selbstbewusst auf. Der verdeckte Narzissmus ist gefährlicher und selbstquälender. Die Person versucht, ihre Anerkennung auf indirekte Weise einzufordern, und hat gelernt, die großspurigen Impulse zu unterdrücken. Sie möchte im besten Licht erscheinen und ärgert sich gleichzeitig im Stillen, wenn ihre Fähigkeiten nicht genügend gewürdigt werden. Ausdruck findet die Selbstunterdrückung der Gefühle dann in Lügen, Manipulation, Täuschung und Missgunst. Das wiederum fördert den krankhaften Narzissmus.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung
Pathologisch wird Narzissmus, wenn er eine extreme Form annimmt und unüberwindbare Konflikte verursacht. Dann wird von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gesprochen und das verletzliche Selbst wird zum hochverletzlichen und sensiblen Selbst, während wiederum das grandiose Selbst stark überzogen ist und das andere Selbst komplett ersetzen soll. Die Selbstliebe wird zur Selbstsucht.
Das bringt nicht nur die fehlende Toleranz für andere Mitmenschen mit sich, sondern gerade auch eine strikte Ablehnung der eigenen Schwächen. Vermieden werden soll auf jedwede Weise, dass das verletzliche Selbst irgendwie durchschimmert. Umso stärker werden dann die eigenen Interessen durchgesetzt.
Die Selbstbezogenheit nimmt krankhafte Züge an und kann auch kaum noch vor anderen verborgen werden. Häufig werden die eigenen Fähigkeiten stark überschätzt und vor anderen größer dargestellt, als sie eigentlich sind. Das kann so weit führen, dass der krankhafte Narzisst auch eine fremde Leistung als die eigene ausgibt oder eine flüchtige Bekanntschaft intimer und enger darstellt, als sie ist. Ein entscheidendes Merkmal des krankhaften Narzissmus ist jedoch das ständig schwankende Selbstkonstrukt aus verletzlichem und grandiosem Selbst.
Bewunderung und Anerkennung sind zwingend erforderlich für den Selbsterhalt und werden, gleich einer Sucht, immer wieder als Bestätigung gesucht. Zurückweisungen und Kritik werden als demütigend empfunden, so dass auch die Reaktion darauf sehr impulsiv und zornig erfolgt.
Das eher geringe Selbstwertgefühl, das durch eine glaubhafte Maske verborgen wird, bricht dann in Aggression hervor. Dazu ist der krankhafte Narzisst von einem extremen Perfektionismus besessen und duldet Schwächen weder bei sich noch bei anderen.
Er übertreibt dabei sein Können nicht nur, sondern fühlt sich tatsächlich anderen grenzenlos überlegen, was gleichzeitig auch bewirkt, dass er diese rücksichtslos behandelt oder manipuliert. Die positive Meinung über sich selbst wird nicht erschüttert, da das verletzliche Selbst komplett verdrängt ist. Das kann wiederum nach sich ziehen, dass die fehlende Empathie nicht grundsätzlich ein Merkmal der Unfähigkeit ist, sondern dass der Narzisst bewusst keine Lust hat, einfühlsam zu sein. Seine Stärke sind seine empfundene Überlegenheit und Rücksichtslosigkeit. Für ihn ist dann Empathie eine Schwäche.
Beim krankhaften Narzissten sind die Bereiche der Identität, der Selbststeuerung, der Empathie und Nähe stark verzerrt. Er sucht zur Selbstidentifizierung den Vergleich zu anderen und fordert Anerkennung. Die persönliche Selbststeuerung ist nur durch Anerkennung möglich. Der Narzisst benötigt ständig die Unterscheidung von den restlichen Menschen und möchte sich als außergewöhnlich erleben. Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen interessieren ihn nicht. Auch ist er nicht in der Lage, sich überhaupt mit diesen zu identifizieren.
Empathie ist nur ein Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das der eigenen Person dient. Alle eigentlichen zwischenmenschlichen Beziehungen sind oberflächlich. Ein echtes Interesse kommt nicht auf. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist in der Kindheit und im frühen Entwicklungsstadium entstanden, z. B. durch fehlende Liebe, Unterdrückung, starke Bevormundung, Verhätschelung oder Desinteresse. Auch eine Veranlagung kann gegeben sein, die dann durch die Erziehung gefördert oder gedämmt wird. Das Defizit wird durch den grandiosen Auftritt ausgeglichen, während das wirkliche und sehr verletzliche Selbst nicht erkannt wird.