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Ein Männlein steht im Walde ...

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(Friedos neue Erkenntnisse zur Kulturgeschichte des Fliegenpilzes)

Zur Einführung lasse ich Wolli zu Wort kommen, der diese Geschichte anfangs der 1980er Jahre in der Dübener Heide erlebt hat:

„Wenn du einmal hier bist, dann solltest du auch einen Blick hineinwerfen. Natürlich befolgte ich die Aufforderung dieses Moduls meiner Selbstgespräche, das sich aktiviert, sobald ich im Wald bin. Also, dreihundert Meter nördlich vom Bertagrab rechts ran an die Einmündung eines Waldweges auf die F2. Taschen nach Leinenbeutel und Messer abgeklopft, Auto abgeschlossen und rein in den Wald. Nach zwei Minuten war ich an der Stelle: Etwa achtzig Jahre alte Kiefern grenzten an ein Waldstück mit jüngeren Bäumen, schütteres kniehohes Gras, einige dünne Birken. Ein paar Meter von dort, wo unlängst mitten auf dem Weg ein verglaster Hochstand stand. Möglicherweise mit Hochstandheizung und Zielwasserbar.

Doch wo waren die Fliegenpilze? Fliegenpilze standen ein paar herum zwischen den Bäumen, nicht aber an dem bewussten Fleck. Maronen waren einige da, genauer lagen herum, frisch geschlüpfte, ohne Fehl und Tadel, bis auf die, die am Stiel oder Hut eingedrückt waren. Wer bloß hat sie so würdelos behandelt? Ich sammelte ein, was brauchbar war. Wildschweine können das nicht gewesen sein. Die hätten auch die Fliegenpilze umgeworfen. Also, warum sah ich keine? Ich bin auf die würzigen Maronenröhrlinge aus, habe mich hier aber all die Jahre von den benachbarten Fliegenpilzen heranwinken lassen. Ich umkreiste die Stelle, ging in die Knie, um einen anderen Blickhorizont zu gewinnen - und fand ein Russenkäppi. Darunter ein hühnereigroßer, in seinem gelben Rot leuchtender Fliegenpilz mit Hüllresten am Hutrand, die seinen Stielansatz wie ein weißer Schal umschlossen. Ein Pilzchen wie gemalt! Vom Regenwasser frisch gewaschen, geradewegs zum Reinbeißen.

Zum Reinbeißen? Da dämmert es bei mir. Waren das vor zwanzig Minuten nicht zwei voll besetzte Mannschaftswagen, die im Militärkonvoi die Straße Richtung Wittenberg dahinzuckelten? Dann müssten auch die frischen Reifenspuren am Straßengraben von den Fahrzeugen der Soldaten stammen. Ist doch klar! Wenn sich eine Kompanie ruhmreicher Sowjetsoldaten auf Fliegenpilze stürzt, bleibt kein Pilz stehen. Weil sie nämlich bei ihnen hoch im Kurs stehen, ganz besonders bei den Sibirjaken, um sie als Rauschmittel zu konsumieren. Seien sie ihnen gegönnt.

Ich hatte damals keine Ahnung, was das ist: Rauschmittel. Wir wussten vom Hörensagen nur, dass man in westlichen Gefilden Drogen als Pulver, Pillen oder Spritzen für teures Geld kauft oder klaut und schluckt, durch die Nase zieht oder spritzt. Und dass man die Welt dann rosarot sieht, allen Ärger vergisst, sich stark wie der gleichfarbige Panther fühlt und dergleichen Halbwissen mehr.

Und wie ich so nachdachte, was mir mein Vater vom Fliegenpilz alles erzählt hat, hörte ich, wie es von der Straße her quietscht und rumpelt. Ein Auffahrunfall?

Auf dem Rückweg zum Auto schossen mir seine Worte in den Sinn, dass der Fliegenpilz Fliegenpilz heißt, weil er, in Milch gebrockt und aufs Fensterbrett gestellt, das sicherste Mittel ist, lästige Fliegen loszuwerden. Das kannte er nicht nur aus dem elterlichen Hause, sondern hatte es auch bei Leuten in der Sowjetunion gesehen. Aber gieriger noch als die Fliegen, meinte er, waren 1949 die Wachsoldaten im sibirischen Gefangenenlager nach Fliegenpilzen gewesen. Ein paar Bissen davon geschluckt, und bald darauf hätten sie angefangen, mit den Gliedern zu zappeln, die Augen zu verdrehen und sich selber zu malträtieren.

Plötzlich stürzten drei braune Uniformen auf mich zu, zwei mit Glatze, ihr Schiffchen in der Hand, und eine Schirmmütze. Also wieder ein Mannschaftstransport. Der Offizier zu mir: Woher ich das Käppi hätte, was in dem Säckchen drin wäre. Ein Soldat tastete mich ab. Das Pilzmesser! Ich müsste mitkommen, auf der Kommandantur würde alles geklärt werden.

Sie geleiteten mich zum Mannschaftswagen, setzten mich ins Führerhaus. Die beiden Soldaten blickten mürrisch ihren Kameraden hinterher, die in den Wald ausgeschwärmt waren. Die ersten kehrten zurück, zwei, drei Fliegenpilze im Schiffchen, ihrem Käppi.

In einem Raum mit vergitterten Fenstern, er gehörte zur sowjetischen Kommandantur in Leipzig, hatte ich dann bis zum Morgen Muße, über meine dumme Pilzneugier nachzudenken. Unterbrochen von zwei kurzen Verhören in der Nacht. Gegen neun Uhr durfte ich die Kommandantur verlassen.

Ich meldete mich telefonisch krank bei meinem Chef und suchte nach einer Fahrgelegenheit in die Dübener Heide. Gegen Mittag war ich bei meinem Trabi. Es fehlten die beiden Vorderräder, der Rückspiegel sowieso, der Hauptschalldämpfer und das Auspuffrohr mit dem Nachschalldämpfer. Das waren aber nicht die Russen.“

Die Geschichte sollte hier etwas vertieft werden, weil es zwei Umstände geradezu herausfordern: Einmal wird behauptet, dass der Name des Fliegenpilzes nichts mit der für Fliegen todbringenden Wirkung zu tun habe. Zum anderen glauben Manche, das Männlein, das einsam und purpur gewandet im Walde steht, könnte auch ein Fliegenpilz sein.

Zuvor aber noch der Hinweis darauf, dass man in den ländlichen Haushalten von der mit Fliegengift angereicherten Kuhmilch abgelassen hat, seit die Stubenkatzen eines Tages fast alle auszusterben drohten. So jedenfalls erzählte es Wollis Vater. Er kannte auch den Fliegenfänger noch, der vor rund hundert Jahren erfunden wurde: Ein mit klebriger Masse getränktes Band von 50 oder mehr Zentimetern Länge wurde aus seiner Hüllkapsel herausgezogen und an die Zimmerdecke gehängt. Im Herbst musste der Fliegenfänger nach drei Tagen erneuert werden. Oder er riss infolge beträchtlicher Gewichtszunahme. Bei der Oma landete einmal das mit toten und halbtoten Fliegen übersäte Klebeband auf dem angerichteten Kirmeskuchen. Die Fliegenklatsche, ein vielgestaltiges, doch einfaches Gerät zur Selbstverteidigung, gibt es hingegen schon so lange, wie es die Gemeine Stubenfliege gibt. Die Klatsche ist aber wenig effektiv und neigt zu schmerzhaften und verlustreichen Fehlschlägen. Den Katzen sollten diese instrumentalen Variationen zur Fliegenbekämpfung eher recht gewesen sein.

Was nun den Namen des Pilzes betrifft, herrscht im europäischen Sprachraum Einhelligkeit, natürlich mit den obligatorischen Ausnahmen: Überall kommt die „Fliege“ oder zumindest etwas Gefahrdrohendes für Fliege oder auch Mensch in der Bezeichnung vor! So im Niederländischen (vliegenzwam), Schwedischen (flugsvamp), Dänischen (fluesvamp) und Norwegischen (fluesopp); im Italienischen (ovolo malefier, frei übersetzt „Unheil bringender Kaiserling“) und im Französischen (amanite tue-mouches – so viel wie „Fliegentöterwulstling“); im Polnischen, Russischen und Tschechischen (,wo er muchomor u.ä. lautet, was soviel wie „Fliegenmassensterbling“ heißt), ja selbst in der nicht indoeuropäischen Sprache der Ungarn; hier heißt er légyölö galóca, „Fliegenknollenpilz“. Natürlich hat auch sein lateinischer – wissenschaftlicher – Name den Fliegenbezug: Amanita muscaria. Nur die Spanier und, wie könnte es anders sein, die Engländer tanzen aus der Reihe, halten sich nicht an die Lautung in ihren romanischen und germanischen Schwestersprachen. Hier heißt er neutral oronja falsa, „Falscher Kaiserling“ und dort skurril toadstool, „Krötenschemel“.

Die Namensübereinstimmung spricht nicht nur sprachlich dafür, dass in einem großen gemeinsamen Kulturraum etwas einhellig bezeichnet wurde, was den gleichen Haupteffekt liefert. Hier sollten sich mal vergleichende Mythologie, Geschichte religiöser Riten und Volksetymologie zusammentun und ein glaubhaftes Resümee abliefern für die nächste Generation der bunten Pilzbücher, damit endlich die Widersprüche in den betreffenden Aussagen der Vergangenheit angehören. Und die Chemiker sollten erst mal alle Gifte im Fliegenpilz isolieren und bestimmen, das ist nämlich noch nicht vollständig geschehen. Dann werden sicher die Stimmen zum Schweigen gebracht, die mit ihren Antifliegentot-Thesen laut geworden sind: Die Fliegen seien nach ihrer Pilzmahlzeit nicht verendet, sondern bloß in Ohnmacht gefallen. Um danach wieder quicklebendig zur nächsten Pilzmilchschale zu fliegen? Und der Name rühre daher, dass im Mittelalter, als er geprägt wurde, Fliegen mancherorts als Symbole des Wahnsinns galten. Oder auch: Fliegen und Mücken würde die Macht innewohnen, Menschen zum Fliegen zu bringen. So was Irres! Können sich ganze Völker und Nationen so geirrt haben, als sie den Namen für den Pilz prägten und allgemein akzeptierten? Oder aber wir haben uns gründlich geirrt, und zwar dann, wenn in grauer Vorzeit andere Dinge Realität gewesen sind. Beispielsweise hätte vor tausend Jahren der Fliegenpilz gut und gerne einen blauen Hut haben können und nach Coca-Cola geschmeckt haben. Wie auch immer.

Die namentliche Übereinstimmung beim Fliegenpilz gewinnt, sehen wir einmal von den wenigen Ausnahmen ab, an Gewicht, wenn wir die Namen anderer Pilzarten hernehmen. Nicht eine weist diese Übereinstimmung auf! Nehmen wir als Beispiele von den bekannteren Pilzen den Steinpilz und den Pfifferling, um ihre offiziellen Namen in den gewählten Sprachen zu sondieren.

Wir stoßen auf ganz unerwartete Bezeichnungen: Im Englischen heißt er „Gelbling“, im Niederländischen „Eichhörnchenbrot“, im Schwedischen „Karljohanspilz“; im Französischen nennt er sich cèpe, was nicht zu übersetzen ist, im Italienischen „Schweinepilz“ und im Spanischen „Speiseticketling“. Polnisch und Russisch ist es der „Waldling“, Tschechisch der „Pilz“ schlechthin, Ungarisch der „Herrschaftliche Röhrling“. Es ist Boletus edulis, unser geliebter Steinpilz. Keine Spur mehr von einheitlicher Namensgebung.

Das ist auch beim Pfifferling der Fall, der in seinen verschiedenen, allein offiziellen Namen in Europa etwas zu tun hat mit Eiern, Gesängen, Hähnen, Hennen und Füchsen, einen unübersetzbaren Namen trägt oder, da unbekannt, im einheimischen Allgemeinwortschatz nicht aufzufinden ist.

Hinter gleichen Namen stehen gleiche Erfahrungen und Erkenntnisse, oft auch gegenseitiger Austausch. Unter den Pilzen ist es eben der Fliegenpilz, der in unseren Breiten zu den bekanntesten zählt. Und weiter östlich auch zu den beliebtesten.

Der Feldweg steigt sanft an. Rechts und links Maisfelder, Weiden, Kartoffeläcker. Am Wegrain wetteifert roter Klatschmohn mit blauen Kornblumen um die Gunst des Wanderers. Die Natur ist ein Malkasten, der Strahl der Sonne zaubert die Farben hinein. Daran wollen auch die Schmetterlinge teilhaben, die in der Spätsommerluft hin und her schwanken. Hell und eingefärbt von Lebenslust sind Gesang und Geschwätz der Vögel, die zenithoch stehen oder auf den knorrigen Ästen der wenigen Apfelbäume hocken.

Vorn dann fesselt den Blick ein dunkleres, weites Grün, das bald den nahen Horizont ausfüllt. Nach unten zu setzt es sich erdfarben auf den strauchbestandenen Saum ab, der Feld und Wald miteinander verflicht. Am Waldesrand gräbt sich der Weg in den Boden, als wolle er ein Hohlweg werden. Und mutig stößt er nach einem leichten Bogen in das Dunkel des Waldes hinein, aus der hellen Heiterkeit der Felder in das vornehm gedämpfte Licht zwischen den Bäumen. Einzelne Föhren verstecken sich zwischen den Fichtenstämmen. Einige Birken, sie haben auf das glatte Weiß ihrer Haut gern verzichtet, stehen am Wegrand. Die Luft unter den Nadelbäumen ist angenehm kühl. Es herrscht eine andere wunderbare Ruhe. Sie umschmeichelt den Wanderer, der noch die Ruhe der Weite in sich trägt. Sie ist auch hier mit Vogelstimmen angefüllt, weniger bunt in den Tönen jedoch, gedeckt in den Farben.

Ein kaum merkliches Rauschen erfüllt die Luft. Das Schattenspiel der Wipfel auf dem Weg macht fröhlich.

So weicht der Wanderer vom Weg ab, setzt seinen Fuß in den federnden Nadelboden. Und läuft, der Weg hat es ihn zuvor gelehrt, geradewegs hinein in den schütteren Schatten der weit stehenden Bäume. Dort sind es keine hohen Fichten mehr; es wurden gedrungene, knorrige Bäume, weit auslandend, dicht an dicht.

Da ward er mit einemmal eines kleinen Männleins gewahr, das zwischen den Fichten erschien und mutterseelenallein dastand. Es hatte von lauter Purpur ein Mäntlein um ...

Und das soll ein Fliegenpilz sein? Noch dazu purpurfarben, was überhaupt nicht geht? Oder gar eine Hagebutte, wie es Kinderliederexperten behaupten? Nie und nimmer! Den Fliegenpilz jedenfalls hätte unser Wanderer schon am Waldrand antreffen müssen, spätestens zwischen den Birken und Randfichten. Und zwar in Gesellschaft weiterer Artgenossen, so gut wie niemals allein. Gleiches gilt auch für die Hagenbutte, die noch weniger einsam vorkommt und noch mehr Sonnenwärme braucht. Da gibt es ohnehin seit hundertfünfzig Jahre die Ungereimtheit, dass das Liedchen vom allein stehenden Männlein in den meisten Liederbüchern zwei Strophen, in wenigen anderen drei Strophen hat. In der zweiten trägt es ein „schwarz Käpplein“, und in der dritten, falls vorhanden, heißt es „Das Männlein dort auf einem Bein ... kann nur die Hagebutte sein“. Was hat sich der Herr Heinrich Hoffmann von Fallersleben da bloß ausgedacht? Ihm zur Ehrenrettung sei angemerkt, dass die dritte Strophe überhaupt nicht eines Meisters Werk sein dürfte. Weil sie weder in Versfuß, Versmaß, Silben- und Zeilenzahl noch im Reimmuster mit den ersten beiden Strophen übereinstimmt – und so mit der vorgegebenen Melodie nicht sangbar ist. Denkbar ist aber auch, dass Hoffmann von Fallersleben mit diesem „Rätsel“ seine Zeitgenossen verkohlen wollte.

So möge unser Pilzfreund weiter wandern und sich weiter wundern, was er denn da gesehen hat. Vielleicht wird ihm ein prominenter Ammenmärchenforscher Auskunft geben. Auf die Idee, es könnte sich in Wirklichkeit um einen entführten und laufen gelassenen Gartenzwerg handeln, der sich verirrt hat, ist leider noch niemand gekommen.

Wir aber wollen unser Landschaftsbild von der Heide nicht weiter mit mysteriösen Pinselstrichen überschmieren lassen und die Welt der Pilze mal aus einem anderen Blickwinkel einsehen.

Die Pilzner

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