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Das letzte Zimmer

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Der Vater saß auf dem Bett und blickte erschrocken vor sich hin in eine unbestimmte Leere, als erlebte er gerade einen bösen Traum. Mit dem rechten Arm stützte er seinen kräftigen aufgeschwemmten Körper und atmete hörbar. Sein Unterhemd hing lappig feucht, und sein dünnes graues Haar klebte ihm wirr am Kopf.

Der Notarzt hatte einen Infarkt festgestellt und war hinausgegangen zum Wagen. Der Krankenfahrer stand unschlüssig im Zimmer, die Hände in den Taschen seines blaugrauen Kittels.

Der Vater erhob sich, stand gebeugt abwartend, hielt den seit Jahren gelähmten Arm an sich gedrückt wie ein unnützes Spielzeug, von dem er sich nicht trennen möchte. Die Mutter und der Sohn halfen ihm, die Arme ins Hemd und in die Jacke zu bekommen und Schuhe anzuziehen. Dann stand die Mutter am Kleiderschrank und drehte die Hände ineinander. Sie hatte diese Minuten seit Langem vorhergesehen, jetzt aber fiel es ihr schwer, zu verstehen, dass ihre Geschäftigkeit hier nicht mehr gefragt war.

Der Sohn hielt den Einweisungsschein für das Krankenhaus in den Händen. Seit Wochen kam er wieder einmal zu Besuch, zufällig. Aber wie viel von den Zufällen waren tatsächlich zufällig? Er besuchte die Eltern häufiger als früher, hatte sich für einen Tag in der Redaktion freistellen lassen. Nun stand der Vater da wie ein Kind, und er empfand das Bedürfnis, ihn zu umarmen, zu trösten. Doch sie hatten sich nie umarmt, und so blieb er, wo er war, steckte ihm verlegen einen Hemdzipfel in die Hose.

Das konnte ja nicht gut gehen, dachte der Sohn, das hält ja kein Herz aus, dieser schwere Körper und die kaputt gerauchten Bronchien. Und er musste daran denken, dass sie beide zu selten offen miteinander gesprochen hatten, als dass sie jetzt miteinander schweigen konnten. Deshalb wollte er reden. Er wollte dem Vater sagen, dass er an ihm seine Festigkeit und seine Klugheit gemocht hatte, dass er wohl sah, wie verändert er war, wie viel weicher und mitfühlender er geworden war ...

“Kommen Sie, Herr Beyerle”, sagte der Krankenfahrer laut und freundschaftlich, als kannte er den Vater seit Langem. Der Sohn betrachtete ihn verwundert. Der Fahrer sprach so wohltuend, dass er sich fragte, ob das die ständige Übung machte oder eine nie versiegende Güte. “Kommen Sie. Wir fahren ein Stück in die Umgebung.” Der Fahrer besaß einen vorspringenden Bauch und wirkte nur wenig jünger als der Vater.

Wären alle fort, dachte der Sohn, wäre ich mit Vater allein, könnte auch ich ihm solche freundlichen Worte sagen.

Sie fassten den alten Mann von beiden Seiten unter die Arme, und der Krankenfahrer sagte: “Das schaffen wir schon, Herr Beyerle. Jetzt spazieren wir erst mal nach draußen. Immer schön langsam. Immer mit der Ruhe.”

Bedächtig gingen sie zur Tür. Des Vaters schlurfender, gehorsamer Schritt hatte etwas Endgültiges, Unumkehrbares. Jede Minute dieses Abends hatte etwas Abschließendes: die Wortlosigkeit der Mutter, die Fürsorge des Sohnes, die Freundlichkeit des Pflegers.

Auf der Schwelle riss der Vater an den Armen, hielt inne und wandte sich um. “Nein! Ich gehe nicht! Lasst mich hier!” Er sah erschrocken zu seinem Bett, zum dunklen Fenster mit dem Kakteenregal, hinter dem der Hof lag mit den kleinen Gärten der Mieter.

“Im Krankenhaus, da haben sie die besseren Mittel, dir zu helfen”, sagte der Sohn mit unsicherer Stimme.

“Da werden Sie von morgens bis abends gut versorgt, Herr Beyerle”, sagte der Pfleger.

Dann schien der Vater sich zu erinnern, wie er vorhin, nach dem Erwachen aus der Ohnmacht, sich entsetzt geäußert hatte über seine Rückkehr ans Licht. “Ich bleibe nicht dort!”, sagte er mit leisem Trotz, und seine dicken bläulichen Lippen zogen sich schmollend zusammen.

“Vatichen, ich besuche dich jeden Tag”, versprach die Mutter.

Mit einem Ruck wandte sich der Vater plötzlich zur Tür, als fiele ihm ein, dass es nie seine Art gewesen war, weich zu werden oder Gefühle zu zeigen.

“Ich besuche dich schon morgen”, sagte die Mutter und setzte dem Vater eine karierte Schirmmütze auf den Kopf. Dem Sohn reichte sie des Vaters Krückstock, steckte ihm verstohlen eine Handvoll Münzen in die Jackentasche und deutete mit den Augen zum Pfleger. An der Wohnungstür verabschiedeten sie sich zerstreut. Der Sohn drehte sich noch einmal um und nickte ihr beruhigend zu. Acht Jahre lang hatte sie ihren Mann gepflegt, und nun stand sie da mit großen Kinderaugen. Jeder von uns hat heute Abend Kinderaugen, dachte der Sohn.

Als sie dem Vater in den Wagen halfen, fielen große Tropfen aus der Dunkelheit.

“Es regnet”, rief die Mutter.

“Ja”, bestätigte der Sohn, “ein schwerer warmer Sommerregen.”

Der Vater saß im Krankenstuhl hinter der Fahrerkabine. Er klammerte sich mit der gesunden Hand an die Armlehne, schwankte aber in jeder Kurve haltlos vor und zurück. Mit großen Augen blickte er wieder vor sich ins Leere.

Der Sohn saß unter dem niedrigen Wagendach halb liegend auf der Trage. Der Barkas federte hart, und er hielt sich am Rohrgestell fest.

Wir müssten dich zu Hause behalten, dachte er. Aber Mutter verkraftete deine Pflege nicht länger. Zwölf Jahre ist sie jünger als du. Sie wirkte eben traurig, aber erleichtert. Ein halbes Leben hat sie dir gedient, dich verwöhnt, seit eurer Heirat nach dem Krieg, als Papa nicht zurückgekehrt ist.

Der Wagen federte aufgeregt wippend, und dem Vater rutschte die Schirmmütze in die Stirn, das gab ihm einen verwegenen Ausdruck. Sein Gesicht blieb indes fragend, blickte wie horchend durch die nassen Scheiben ins Dunkel.

Den Sohn beunruhigte das ergebene Schweigen des Vaters, welches er an ihm nicht kannte. Er vermisste sein spöttisches Lächeln, seine mitunter sarkastische Ironie, die sie in den letzten Jahren zeitweise gemeinsam gegen Dritte verbunden hatte. Aus diesem duldsamen Schweigen, aus diesen kindlichen, großen Augen fühlte er die Sprachlosigkeit heraus, die als Druck auf ihm lastete.

Die Geschwindigkeit des Wagens verursachte dem Vater Atembeschwerden, wie während eines anstrengenden Laufes. Die Lichtfetzen, die von den Scheiben durch den Regen verzerrt vorüberhuschten, der quäkende Motor, das blecherne Trommeln des Regens auf das Dach, das leise Singen der Reifen auf dem nassen Asphalt, erzeugten in ihm die Vorstellung eines rasch ablaufenden Lebens, das irgendwann, bald, inmitten der Dunkelheit abrupt zum Stillstand käme. Warum lief plötzlich alles so schnell, ohne Verzögerung? Der Sohn fühlte sich gehetzt. Dieses Schweigen, das ihm die Summe ihrer gemeinsamen Jahre verdeutlichte, wollte er abschütteln, einfach bloß reden.

“Wir sind auf der Straße nach Potsdam”, sagte er darum bemüht belanglos. Wieder hörte er sich selbst sprechen, und eine unausweichliche Trauer breitete sich in ihm aus. Immer hatte er im Gespräch mit dem Vater sich selbst sprechen hören, so als wunderte er sich, was es mit dem Vater zu besprechen gäbe, als sei er überrascht, von ihm angehört zu werden. Selbst in Gesprächen mit anderen hatte ihn diese Unsicherheit nie ganz verlassen.

Der Vater hob den Kopf. “Auf der Straße, die an Hohen Neuendorf vorbeiführt?” Er fragte dies zaghaft, als gäben ihm die Erinnerungen die Chance, sich auf einen Rückweg zu orientieren.

“Ja, auf dieser neuen Asphaltchaussee nach Hennigsdorf”, sagte der Sohn. Er sprach möglichst heiter, unbeschwert. Nur keine Schatten, nur jetzt nicht unterliegen. Du hattest mich selten ohne Heiterkeit erlebt. Vielleicht war ich dir deshalb ein Rätsel. Dabei hattest du meine Heiterkeit provoziert. Dieses Lachen eines Clowns. Oder nahmst du es mir übel? Wie sie es in der Redaktion mir noch heute ankreideten als Leichtfertigkeit, als sonniges Gemüt. Woher kam dieser Zwang, so lange zu reden, mich reinzusteigern ins Reden, bis die anderen lachten?

Einmal, als Jugendlicher, fuhren sie mit dem Rad an den Liepnitzsee, Mädchen und Jungen. Es war sonnig, aber noch zu kalt, um zu baden. Sie saßen im Wald unter Buchen und Kiefern auf trockenem Laub und Gras. Da spielte er den Clown. Damals wurde er sich dessen zum ersten Mal bewusst. Er konnte sich an das Thema nicht mehr erinnern, nur, dass sie saßen und lachten, lange, bis zur Erschöpfung. Noch nach drei Jahrzehnten spürte er, wie ihm Gesicht und Bauch geschmerzt hatten. Er entsann sich auch dieses leisen Misstrauens, dass sie vielleicht über ihn lachten und dass er trotz ihrer Heiterkeit für sich allein blieb.

Heiterkeit als Widerstand gegen deine Strenge, Vater. Vielleicht fandest du sie aufsässig. Die andere Möglichkeit aber hieß: Selbstaufgabe, mich gegen mich selbst auf deine Seite schlagen. Du hattest mir die Heiterkeit eingebläut. Aber ich hatte mich nie darum bemüht, mich von einer Strafe zu befreien. “Schmuse mit Vati, bitte ihn!”, riet Mutter. Doch ich hätte Schlimmeres ertragen, bloß um nicht bitten zu müssen. Vielleicht kamen wir uns beide darin sehr nahe. “Wir sprechen uns noch”, sagtest du manchmal. Beispielsweise hatte ich Zucker genascht, zu Zeiten, als dieser zu den Nachkriegsraritäten zählte. Und wie häufig folgten diese Gespräche, die der Rohrstock diktierte, und als er ihn hinter dem Kleiderschrank verschwinden ließ, die Haselrute. Vielleicht gedieh dieser hartnäckige Optimismus auch während der mehrwöchigen Stubenarreste, die du verordnet hattest, wenn die Lehrer mir auf dem Zeugnis “schwatzhafte” Mitteilsamkeit bescheinigten.

Tiefes Mitleid mit dem Vater, mit sich beiden empfand der Sohn, mit ihrer langen unausgesprochenen Zeit, die begann, seit der Vater als “Onkel Kurt” ins Haus gezogen war. Solange er denken konnte, hatte er Mitleid mit dem Vater empfunden, der ihn so wenig verstand. Mitleid sogar in der Angst, wenn Schläge drohten. Weil er spürte, dass der Vater sich an eine äußere einschüchternde Macht hielt, sie für unentbehrlich hielt und damit doch sehr allein war. Denn nie hatte er Gewalt oder gar Macht über seine Empfindungen erhalten.

Der Vater hatte dem Sohn nie viel zugetraut. Als er aus der Schlosserei fortwollte, um ein Journalistikstudium zu beginnen, sprach der Vater mürrisch darüber. “Wer soll arbeiten, wenn alle studieren?” Gleichzeitig erzählte er bewundernd von einem jungen Mann aus der Nachbarschaft, dessen Kritiken zu Fußballspielen man sogar in der Zeitung lesen konnte. Er lobte Schriftsteller, Schlagersänger, Musiker. Erst viele Jahre später, in Gesprächen mit Bekannten, äußerte er heimlichen Stolz auf ihn, den “Redakteur”.

Aus dem Vorkriegsleben des Vaters kannte er nur Bruchstücke, die Mutter erzählt hatte. Der Vater ließ nur hin und wieder zusammenhanglose Details ans Licht. Er festigte den Eindruck, er könnte davon nicht reden, er würde damit eine alte Wunde aufreißen. So blieb dem Sohn die erste Hälfte seines Lebens geheimnisvoll kurz: Ein glücklicher Schuljunge vor dem Ersten Weltkrieg, seelisch und körperlich schwer krank, als dessen Vater an Tuberkulose im Feldlazarett starb. Auf Fotos aus der Zeit danach sah er ihn selten lächeln. Er lernte Dreher und in der Freizeit Geige spielen. Für ein Musikstudium reichten weder seine Ersparnisse noch die der Eltern. Als arbeitsloser Dreher schlug er sich mit Geigespielen durch in Berliner Cafés. In den Dreißigerjahren erhielt er Arbeit in einem Werkzeugmaschinenbetrieb. Dort leitete er die Werkkapelle, wurde wegen spezieller Rüstungsaufträge des Betriebes nicht eingezogen, schloss sich nach dem Krieg einem Tanzorchester an. Bei dessen ersten Auftritten lernte er Mutter kennen und sie heirateten.

Es rankten sich auch Träume um den anderen Vater, um “Papa”, von dem der Krieg nichts weiter zurückließ als zwei, drei nebulöse Erinnerungen, einen Karton voller Fotos und gelegentliche Gespräche mit Mutter über ihn. “Papa” wurde zum Traumhelden, dem er in Körpergröße und Muskelkraft nacheifern wollte, er unterstützte den Sohn in allem. Der Vater indes konnte sich nicht dagegen wehren.

Dabei hatte er ihn bewundert, gern von ihm gesprochen, wenn er bei Maiumzügen in Birkenwerder oder zur 600-Jahr-Feier neben der Blaskapelle herlief und seinen Freunden zeigte: “Der da mit der Trompete, das ist mein Vater.” Es gab Tage mit dem Vater, an die er sich gern erinnerte. Seltener an Gespräche. Dieser Satz: “Wir sprechen uns noch”, hatte ihm vielleicht grundsätzlich und ein für allemal das Misstrauen zu Gesprächen geschärft, denen er dennoch fortgesetzt auf den Leim ging. Möglich, dass die Wortarmut zwischen ihnen hier ihren Anfang hatte.

Zum Beispiel erinnerte er sich gern an den alljährlichen Spaziergang am Ostermorgen durch die stillen Straßen, entlang den Wiesen, über die Briese und nach Hause zurück zum Mittagessen. Der Vater, groß und breit, in seiner grauen Lodenjoppe, die Füße beim Gehen nach außen gesetzt. Und er, der Sohn, gehorsam nebenher, schweigend, wartete, dass der Vater sprach. Der Vater wollte doch etwas sagen, oder jedenfalls hoffte er darauf. Das frische Grün an den Sträuchern, die stillen Straßen, die sumpfigen Wiesen entlang am verlandeten Sandsee, über den Bach, womöglich noch das Läuten der Glocken, das auch von den Nachbarorten herüberwehte. Dieser Morgen war eigentlich wenig zum Reden geeignet, aber er hatte das Empfinden, der Vater war mit ihm vor allem deswegen unterwegs. Und dann sagte der Vater: “Setze die Füße mit den Zehen nach außen! Du stolperst noch über den großen Onkel.” Wie er sich dann mühte, zu begreifen, was der Vater meinte, was das mit der Fußstellung auf sich hatte, und er mit verkrampftem stelzigem Gang den Vater zufriedenzustellen suchte.

Ein Leben lang erinnerten ihn nun Leute mit dieser pedantischen selbstzufrieden wirkenden Seitfußstellung an diese Osterspaziergänge. Wenn er sie traf, war Ostern, dann läuteten die Glocken, er spazierte durch die Wiesen, zitierte den alten Geheimrat Goethe, und immer blieb die Erwartung, der Vater möchte doch unbefangen mit ihm reden ...

“Die Kreuzung”, sagte er und schob den Kopf dem Fenster zu, als wäre die Starre aufzulösen mit einer Bewegung. “Das Rathaus, da drüben.”

“Ja”, sagte der Vater und brummelte: “Der Schwarze Adler”. Das war ein Restaurant, das er zwei Jahre führte, als er die Kraft nicht mehr aufbrachte, Trompete zu spielen. Mit dieser Gaststätte begann sein Start im Handel. Später übernahmen er und Mutter einen Hauswirtschaftsladen.

“Der Bahndamm”, sagte der Sohn. “Bis zur Veltener haben sie den Wald abgeholzt - für eine Erdgasleitung und für ein neues Stück Autobahn.” In der Nähe des Bahndammes befand sich ihr Garten, den der Vater vor drei Jahren verkaufen wollte, als sich sein körperlicher Zustand verschlechterte. Er konnte sich dann aber doch nicht von diesem Stückchen Land trennen.

Der Vater zeigte zaghaftes Interesse. Er hob den Blick, sah zweifelnd auf die dunklen Scheiben und fragte leise nach den Einzelheiten, so als glaubte er nicht daran, dass es diese Vergangenheit je gegeben hatte.

“Ja, die Straße führt direkt bis zum Krankenhaus”, sagte der Sohn. “Es fährt auch ein Bus vom Bahnhof aus. Wir werden dich oft besuchen. Es ist sehr bequem mit dem Bus.”

Der Vater sah kurz zu ihm hin, und seine Augen waren voller Angst.

Weshalb begann nicht i c h zu reden? Und jetzt sind wir beide hier allein, zu zweit. Das letzte Mal womöglich. Zum letzten Mal allein miteinander. Und der Regen trommelt, die Reifen singen ... Wir könnten uns ansehen, könnten uns trösten, uns Mut zu sprechen. Weshalb hocke ich mit diesem stillen, einsamen Monolog neben dir auf der Pritsche wie mit einem Krampf im Sprachzentrum? Weshalb weinen wir nicht einfach? Weshalb nehmen wir uns nicht an die Hand und weinen. Er fühlte sich unsagbar hilflos, mehr, als der Vater es war. Weshalb nicht? Wir könnten doch ...

In weitem Bogen fuhr der Wagen vor einen beleuchteten Eingang und hielt. Fahrer und Arzt stiegen aus und öffneten die Tür.

“Wir haben's geschafft, Herr Beyerle. Schönes Wetter”, sagte der Fahrer. Mit eingezogenem Kopf stand er unter hochgeklappten Wagentür. “Und meine Tochter und mein Schwiegersohn wollen ab morgen am Krossinsee zelten. Na, prost Mahlzeit.”

Dann halfen sie dem Vater aus dem Wagen. Für den Vater existierte der Regen nicht. Er blickte mit schlaffer Unterlippe zur Tür des Krankenhauses, als suchte er sich an etwas zu erinnern.

Im Haus verabschiedeten sie sich. “Alles Gute, Herr Beyerle”, sagte der Krankenfahrer. Und zum Sohn: “Ich fahre Sie zurück. Darf ich zwar nicht, aber bei diesem Wetter kommen Sie nachts hier nicht mehr weg.”

Das Foyer war dunkel getäfelt und matt beleuchtet. Vom Personal war niemand zu sehen.

“Ich werde uns anmelden”, sagte der Sohn. Seine Stimme kam ihm zu laut vor, so direkt, als hätte sie mit dem Krankenfahrer ein Dolmetscher, ein Vermittler, verlassen. Er fühlte sich so unsicher.

“Du wirst erst spät zu Hause sein”, sagte der Vater wie zu sich selbst.

“Bin ich gewohnt”, erwiderte der Sohn. “Und morgen muss ich erst am Nachmittag in die Redaktion.” Und er dachte betroffen: Jetzt bist du besorgt um mich.

Gern hätte ich dir von meiner Tätigkeit erzählt, dass ich die Sportnachrichten zusammenstelle. Du hattest doch täglich Sportnachrichten erwähnt.

Der Vater strauchelte leicht, und der Sohn fasste ihn unter den Arm, hielt ihn an der Jacke. Schweigend gingen sie einige Schritte hinein in den Vorraum. Sie spürten den Atem des anderen. Nie hatten sie einander so gehalten. Es war halbdunkel. Von der niedrigen Decke strahlte rötliches Licht, und ihre Schritte klangen sehr vorsichtig.

Aus einer Tür hinter dem Tresen kam eine Schwester im rosa Kittel. Klein, derb, flink. Sie rollte einen hölzernen Räderstuhl heran, half dem Vater, sich zu setzen. Der Sohn überreichte ihr den Einweisungsschein, blieb hinter dem Stuhl, hielt den Krückstock.

Er ist so ergeben, dachte er. Wie soll ich jetzt den Anfang finden, mit ihm zu reden?

“Ihr Name”, fragte die Schwester.

“Beyerle”, sagte der Vater beinahe hastig, als wäre er erstaunt, dass sein Name noch gefragt war. “Mit Ypsilon.”

Der Sohn hielt sich an der Rückenlehne.

“In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Herrn?”, fragte die Schwester, an den Sohn, gewandt, ohne vom Blatt aufzusehen.

Sie spricht, als traute sie dem Vater nicht zu, für sich selbst zu reden, dachte der Sohn. Er stockte, zögerte mit der Antwort. Stiefvater? Oder wie sagt man? Das Gesicht begann ihm zu glühen. Wir hatten nie darüber gesprochen. Ich trage nicht seinen Namen, und dies hier ist eine öffentliche Einrichtung. Hier müssen die Angaben exakt sein.

“Das ist mein Sohn”, sagte der Vater mit ruhiger Stimme, als spräche er zu sich selbst.

“Er ist mein Vater”, bestätigte der Sohn rasch, als wäre ihm der Vater bloß zuvorgekommen mit der Antwort. Mein Sohn, hat er gesagt, mein Sohn. Eine tiefe Zuneigung zu dem alten Mann erfasste ihn, dessen Gesicht er jetzt nicht sah. Ein halbes Leben hatte es ihn angeblickt, als schmollte es, von ihm keinen Gehorsam empfangen zu haben. Er blickte auf die Schirmmütze und wiederholte, leise bestätigend: “Mein Vater.”

Die Schwester nickte, sah beide nachdenklich an und händigte dem Sohn den Schein aus. “Wir fahren zum EKG”, sagte sie und ging voraus. Der Vater nahm seine Mütze vom Kopf und hielt sie auf seinem Schoß. Der Sohn schob ihn in den Aufzug, dann einen langen Flur entlang. Nur das Surren der weichen Gummiräder und die trippelnden Schritte der Schwester waren zu hören. Dann die lebhaften Stimmen zweier Schwestern, die mit einem Tablett in einem Zimmer verschwanden. Und den Vater schien es nur noch zu geben als Rädersurren und Gewicht, das mit der Rückenlehne gegen seine Arme drückte.

Vor einem offenen Raum hielten sie. Er half dem Vater hoch und geleitete ihn die wenigen Schritte zu einer mit weißem Laken bedeckten Trage. Der Vater setzte sich.

Eine junge Schwester kam. “Guten Abend”, sagte sie unbewegt. “Machen Sie bitte den Oberkörper frei!” Bei jedem ihrer Worte zitterten ihre dicklichen sommersprossigen Wangen. Sie trug eine kurzärmlige weiße Bluse, aus der blasse fleischige Arme herausragten.

Der Sohn half dem Vater Jacke und Hemd auszuziehen und sah den Körper des Vaters nahe und nackt vor sich. Dieser Körper des Vaters schien ebenso ein Geheimnis wie die erste Hälfte seines Lebens. Diese bleiche geschwitzte Haut, dieser noch feste, aber aufgeschwemmte Leib schienen nicht zu ihm zu gehören. Nur die großen Hände kannte er, die waren nie zu verbergen gewesen und hatten sich ihm eingeprägt wie ein Gesicht.

Der Sohn saß auf einem Stuhl neben dem Vater. Er hatte das Empfinden, sie wären beide hier endgültig der Wahrheit ausgeliefert, einem Zusammentreffen, dem sie bisher ausgewichen waren. Und er glaubte jetzt den Vater zu sehen, wie er wirklich war, als hätte er sich ein Leben lang hinter sich selbst versteckt. Er meinte das Kind in ihm zu erblicken, dieses Kind auf dem Foto, mit ernsten Gesicht und im Matrosenanzug, auf einen Tennisschläger gestützt.

Haben wir die Rollen miteinander getauscht, um so zu versuchen, Worte zu finden? Wir sind uns näher gekommen heute, auf der Fahrt hierher, vorhin bei der Anmeldung. Aber weißt du es, so wie ich es weiß? Oder hofft es nur jeder für sich? Das müssten wir doch über die Lippen bringen, ein Wort nur: Verzeih. Oder einen Satz, vielleicht auch zwei Sätze: Wir hatten immer einander gebraucht, auch, wenn wir es leugneten. Doch wir hatten einander unsere Zuneigung beschnitten, sie uns vorenthalten, starrköpfig, starrsinnig.

“Legen Sie sich bitte hin, und drehen Sie sich zur Wand”, sagte die Schwester und hantierte mit Drähten.

Der Vater, jahrelange Pflege durch die Mutter gewohnt, spürte, dass dies alles hier nicht mehr galt.

“Schwester”, sagte er, “Sie müssen wissen, ich bin links ein wenig gelähmt.” Er sprach leise, beinahe weinerlich, als bezweifelte er, dass seine Worte etwas nützten.

Die Schwester reagierte nicht, sie hantierte wortlos, schien nicht zu hören. Sie schob dem Vater die Hosenbeine von den Knöcheln und heftete die Drähte klatschend mit Gummimanschetten an seine Waden.

Was wollen die Schwestern hier?, dachte der Sohn. Weshalb mischen Sie sich ein? Sehen sie nicht, dass es Wichtigeres gibt als diese Zahlen, als diese Maschine?

Der Apparat, der unbestechliche, tickte zwei Bögen voller Linien in die Stille. Knallende forsche Schritte drangen vom Flur her. Eine Frau mit offenem weißem Kittel und Absatzschuhen kam herein wie in größter Eile. Ernsten Gesichts grüßte sie kurz und leise, las das Kardiogramm. “Er bleibt hier”, sagte sie zur Schwester. “Auf die Zwölf.”

“Ich bleibe hier?”, fragte der Vater vorsichtig. “Ja, eine Durchblutungsstörung.” Sie blickte nicht auf. Ihr breites Gesicht wirkte konzentriert.

“Wie lange, Frau Doktor?”

“Einige Wochen.”

“Einige Wochen.” Er nickte resigniert. Aber Ferne ist Zukunft, bedeutet Hoffnung. Er atmete tief auf. Eine hübsche Schwester mit tänzelndem Gang brachte ihm ein Nachthemd, hängte es über seine Schulter. Der Vater setzte sich in den Räderstuhl, und sie fuhr ihn hinaus, den Flur entlang.

Der Sohn stand neben der Ärztin, wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.

Wenn du entlassen wirst, dachte er vage, wenn du nach Hause kommst, wenn es diese Möglichkeit gibt, werden wir uns besser verstehen. Viele Gespräche werden wir beginnen. Ich werde häufiger zu dir kommen, dich abholen zu einem Spaziergang. Oder wir fahren mit dem Wagen nach Rheinsberg oder nach Buckow. Dahin wolltest du früher immer, weil dein Vater mit dir dort gewesen war. Wir müssten mehr gemeinsam erleben.

“Keine Hoffnung”, sagte die Ärztin, “erstaunlich überhaupt, dass er den heutigen Tag überstanden hat.”

Der Sohn wollte noch fragen, die Plötzlichkeit überbrücken, diese unaufschiebbare, endgültige Situation begreifen. Aber sie antwortete präzise und sicher, ohne Feilschen, hielt die eindeutigen Argumente in den Händen.

Der Sohn nahm Kleidung, Tasche, Stock und Mütze des Vaters, ging auf den Flur, sah sich um.

Die Schwester kam ihm entgegen. “Ihr Vater liegt hinten, im letzten Zimmer. Ein Einzelzimmer.” Sie stand vor ihm, blickte ihm geduldig in die Augen. “Soll ich ihm noch etwas bestellen?”, fragte sie und wollte ihm die Sachen abnehmen.

“Danke”, sagte der Sohn, “ich bringe es ihm selbst.” Er ging aber nicht. Stand in dem weißen Flurlicht, in der stillen Krankenhausnacht. “Wissen Sie”, sagte er, “er hat ein schweres Leben hinter sich. Er ist vierundsiebzig. Musiker ist er gewesen. Beyerle.”

Die Schwester sah ihm lange in die Augen und nickte.

“In einem Tanzorchester. Hier im Kreis. Vielleicht kennen Sie den Namen - Beyerle. Damals, als es noch keine Bands gab und keine Diskotheken. Trompete hat er gespielt und Geige. Einige Male waren sie im Berliner Rundfunk zu hören. Und Abgeordneter im Gemeinderat war er. Wir haben uns nie darüber unterhalten. Ein kluger Mann. Konnte einfach alles: Obstbäume beschneiden, Gartenhäuschen bauen, Schuhe besohlen, Taschen sattlern. Und das Schachspielen hat er mir beigebracht. Aber miteinander gespielt haben wir eigentlich nie.” Am Blick der Schwester, gleichmütig still, spürte er, dass diese Informationen hier wenig bedeuteten. “Wenn Sie mit ihm reden”, bat er, “sagen Sie ihm, dass es mir nicht etwa unwichtig ..., ich meine, ich hätte immer geglaubt, es interessierte ihn nicht ...”

“Sie können Ihren Vater täglich besuchen, zu jeder Zeit”, sagte sie tröstend, als bedauerte sie, wie gleichgültig sie es nehmen musste, dass Lebensläufe hier endeten.

“Ach, das ist es nicht”, sagte er. Jemand rief. Die Schwester drehte sich um, antwortete leise in den Flur, wandte sich ihm wieder zu, und nickte. Sicher hat sie zu tun, dachte er, will in den Aufenthaltsraum. Er lächelte, sprach möglichst unbeschwert. Bloß nicht sentimental werden, nicht ernsthaft traurig, sie könnte weghören, sich abwenden! “Entschuldigen Sie”, sagte er dann und gab ihr die Hand. Sie verabschiedete ihn mit einem sanften Lächeln, als bedauerte sie, ihm nicht unter anderen Umständen begegnet zu sein. Er blickte ihr nach, fand ihren weißen Kittel wunderbar kurz und knapp - und war erstaunt, das jetzt wahrzunehmen.

Der Vater lag halb sitzend im Bett. Über seinem Kopf brannte eine kurze Neonlampe. Die Bettdecke war zu Boden gerutscht und seine Beine aufgedeckt bis zu den Knien. Ein Fuß war entblößt, der Socken lag neben dem Bett. Der Vater zupfte mit der gesunden Hand an der Decke, besaß aber nicht die Kraft, sie zu bewegen. Dieses Zupfen, dachte der Sohn, hat etwas von der demonstrativen Kläglichkeit der letzten Jahre.

“Ein modischer Aufzug”, sagte der Vater mit schwacher Stimme. “Sie haben mich aufs Abstellgleis geschoben.”

Er hat seine Ironie wieder, dachte der Sohn erleichtert. Er wird nicht ganz hilflos sein. Er stellte die Tasche neben das Bett, legte die Kleidung des Vaters sorgfältig über die Stuhllehne und hängte die Schirmmütze darüber. Den Stock lehnte er an das Nachtschränkchen, doch es glitt mehrere Male weg und schlug auf den Boden. Er zog dem Vater den Socken über den Fuß und deckte ihn zu. Am dunklen Fenster lief das Wasser herab.

“Hier hast du Ruhe”, sagte der Sohn. “Lass dich erst mal richtig auskurieren. Im August sitzt du wieder im Garten. Nur die Erdbeeren, die werden wir bis dahin abgeerntet haben.”

War das alles, was er sagen konnte? Er wollte ihn umarmen, brachte es aber nicht über sich. Sie hatten es nie miteinander geübt, und er schwieg, glaubte, mit Zärtlichkeit den Vater zu beschämen.

“Ich komme wieder. Alle werden dich besuchen, Mutter, die Nachbarn, Neumanns ...”

Er beugte sich über das Bett und küsste dem Vater auf die kalte feuchte Wange, räusperte sich verlegen, zupfte noch einmal an der Kleidung, am Bettdeck. Dann winkte er mit einem Lächeln von der Tür her. Es schnürte ihm den Brustkorb und drückte bis in den Hals.

Draußen stand er einige Zeit im Regen und ließ das Wasser über sein Gesicht strömen. Es hupte. Der Fahrer im Krankenwagen wischte mit der Hand an der Frontscheibe. Aber der Sohn stand im Regen, als wartete er darauf, dass etwas von vorn begann.

(Veröffentlicht in Fritz Leverenz „Lied der Grasmücke“,

Verlag Neues Leben, Berlin 1987, sowie in „East Side Stories“, Holzheimer Verlag, Hamburg, 2006)

Aus den Notizen eines Angepassten

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