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Die Geschichte vom krummen Lindenbäumchen

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Auf einem von Büschen und Hecken umstandenen Grasplatz nahe der Straße, die über den Fluss führte, stand eine junge Linde. Als sie frisch gepflanzt war, hatten spielende Kinder sie niedergedrückt und zerzaust. Da niemand es aufrichtete, wuchs das Bäumchen krumm.

In der Nähe in einem Hochhaus wohnte das kleine Mädchen Selma. Sie sorgte sich um ihren Großvater. Den hatte, wie er sagte, bei der Herbstarbeit im Garten die Hexe geschossen, und nun konnte er sich vor Schmerzen kaum bewegen. Und es würde ihm nicht besser, bevor er nicht den Frühling sähe.

Auf ihrem Weg zur Schule blieb die kleine Selma bei dem krummen Lindenbäumchen stehen, blickte es mit ihren klaren humorvollen Augen an, rückte ihre blonden Zöpfe zur Seite und stemmte mit aller Kraft ihre Schulter dagegen. Dabei schüttelte das Bäumchen die Zweige seiner Krone, als wollte es sagen: „Du mühst dich vergebens. Ich bin ein Krümmling und bleibe ein Krümmling.“

Selma trat einen Schritt zur Seite und sagte: „Du bist noch klein und darfst nicht so reden. - Sieh dich an, du stehst jeden Tag etwas gerader. Könntest du dich aufrichten, denke ich, ginge es Großvater auch wieder besser. Der ist vor Rückenschmerzen schon ganz mutlos und möchte nicht mehr aus dem Haus gehen.“

Auf dem Platz wuchsen auch eine Pappel und eine Eiche. Zwischen ihnen führte ein Weg entlang. Hin und wieder knickten achtlose Spaziergänger Zweige von dem Bäumchen oder spotteten darüber. „Seht, wie schief und struppig es gewachsen ist.“

Auch der Pappelbaum fand kein gutes Wort für das Lindenbäumchen. „Ist es wahr, dieser jämmerliche Knüppel nennt sich Baum?“, sprach er. „Seht mich an! I c h bin ein Baum.“

„Du solltest nicht so prahlen“, sagte die Eiche. „Du bist zu rasch gewachsen und hochmütig. Was habe ich nicht alles schon gesehen in meinen zweihundert Jahren.“

„Papperlapapp!“, antwortete die Pappel. „Du bist alt und verstehst die neue Zeit nicht.“

„Ich kenne die Vergangenheit“, antwortete die Eiche, „in der es hier keine Straße, keine Brücke, keine Pappel, sondern Wiesen und Gärten gab.“

„Na, prächtig!“, rief die Pappel. „Und ich sehe bis zum Fluss, sehe die Mädchen und Jungen dort baden und den Großvater angeln, sehe die fröhlichen Menschen auf den Ausflugsschiffen, sehe Paddelboote, Ruderboote, sehe Enten, Wasserhühnchen und die stolzen Schwäne, sehe auf das andere Ufer bis weit in die Stadt hinein. - He! Und du?“, fragte sie spöttisch das krumme Lindenbäumchen, „Was siehst du von der Ferne? - Zertretene Grashalme, wie? Ameisen, und bei klarer Sicht die struppigen Rosenbüsche“, und sie schüttelte sich vor Lachen, dass die Vögel in ihren Zweigen aufflogen.

Das krumme Lindenbäumchen schwieg. Es fühlte sich zu klein und schüchtern, um zu antworten. Dann sagte es mit dünnem Stimmchen: „Ein Mädchen sieht mich. Es kommt hier vorüber, wenn es zur Schule geht. Dann bleibt es stehen und lehnt sich an mich. Ich glaube, sie wünscht sich etwas.“.

„Ach, weißt du“, sagte die Eiche ruhig zur Pappel, „auch ich sehe über die Rosenbüsche hinweg auf die Straße, sehe Radfahrer, Busse und die vielen Autos, die über die Brücke fahren in die weite Ferne, wo dicht an dicht die Häuser stehen, doch ist das etwa mein Verdienst? ...“

Das krumme Lindenbäumchen dankte der Eiche im Stillen für ihre guten Worte. Es träumte ja selbst so sehnsüchtig von der Ferne. Fühlte es sich von den großen Bäumen unbeachtet, reckte und streckte es sich, um über die Büsche hinweg den Fluss, die Brücke und die Stadt sehen zu können. Es sah den schmalen Sandweg entlang, doch hob es seinen Blick nicht über die dornigen Ruten der Hundsrose. Es war zu klein und schief, man hatte es ja umgebogen, ehe es fest verwurzelt in die Höhe hatte wachsen können.

Wieder einmal setzte sich die Krähe in seine Zweige. Von hier aus konnte sie gut beobachten, ob Schulkinder Abfälle oder Brot in den Papierkorb warfen. „Die Ferne muss sehr schön sein“, sagte das krumme Lindenbäumchen seufzend, „ach, könnte ich sie doch einmal sehen.“

“O, ja“, antwortete die Krähe, die kluge Worte liebte und gern ein Buch geschrieben hätte, „die Ferne ist die sehnsuchtsvolle Schwester der Nähe. Doch sei nicht betrübt. Alles auf der Welt bewegt sich. Drehst du dich nicht, dreht sich die Welt. Diesmal die Großen, ein andermal die Kleinen.“

Frühling und Sommer vergingen. Auf dem Gras lag frostiger Reif. Pappel, Eiche und das krumme Lindenbäumchen hatten ihre Blätter verloren, und der Herbst bereitete sich auf seinen Abschied vor.

Selma trug jetzt eine Wollmütze, sah das Bäumchen, wenn sie vorüberkam, lange an, berührte es mit ihren Fäustlingen und sagte: „Es ist kalt geworden. Aber ich wünsche mir sehr, du könntest dich aufrichten.“

Hunde liefen mit tippelnden Schritten auf dem gefrorenen Weg vorüber. Sturmwind fegte über den Platz, und die Eiche rief der Pappel zu: „Für dieses Jahr habe ich mich satt erlebt, nun wiege ich mich schlafen.“

„Bis dass der Lenz dich wecke“, sang die Pappel spöttisch, „ich will noch wenigstens die geschmückte Tanne auf dem Weihnachtsmarkt sehen“, reckte und streckte sich, schaukelte hin und her. Da brach der Wind ihren Stamm mit einem lauten Knacks mittendurch und warf ihn zu Boden. Ein Kranwagen fuhr heran, nahm das Holz auf und fuhr es zu einem Brennstoffhändler. Der sägte und hackte es zu Scheiten und fuhr es in die Wohnungen zum Verheizen.

„Alles hat seinen Anfang und sein Ende“, schnarrte die Krähe, die von den Zweigen des krummen Lindenbäumchens aus zugesehen hatte. „Alles hat seine Zeit.“

„Man soll den Mund nicht zu voll nehmen“, sprach die Eiche. Die Pappel schwieg geknickt.

Wenige Tage vor dem Heiligen Abend hörte man aus der Richtung der Brücke fremde Geräusche: Es klang wie ein Konzert aus rumpelnden Wagen, Pferdewiehern, laufenden Motoren und Trompetenstößen.

„Siehst du etwas?“, fragte die abgebrochene Pappel kleinlaut die Eiche.

„Nein. Es wird der Fluss sein, der allmählich zufriert ... oder Arbeiter aus der Fabrik schieben Kabelrollen aus der Werkhalle.“

„Kannst du mir sagen, was ich da höre?“, fragte das krumme Lindenbäumchen die Krähe.

„Ich bin selbst neugierig“, sagte diese und flog davon.

„Kommt das Bäumchen nicht in die Ferne, kommt die Ferne zum Bäumchen“, antwortete die Krähe rätselhaft, als sie zurückkehrte. „Sie naht mit dreizehn gelben und roten Wagen.“ Die Pappel neigte sich weit vor, um etwas von dem Gespräch zu verstehen, und brach sich dabei noch einige dicke Äste.

Die Krähe hatte den Zirkus „Berolino“ gesehen, der zur Weihnachtsvorstellung in die Stadt kam. Er fuhr seine gelben und roten Wagen in weitem Kreis um die drei Bäume auf den Grasplatz. In dem roten Wagen fuhren die Zirkusleute heran, in dem gelben Wagen die Tiere: Elefanten, Pferde, so groß wie Schäferhunde, gefleckte Indianerponys, Kaltblutrappen, Kamele und Lamas. Innerhalb der Wagenburg bauten sie zuerst das lange Zelt auf, in dem während der Spielzeit die Elefanten und Huftiere standen. Dann bauten sie hinter der Zirkuskasse das runde Zelt, für die Würstchen- und Getränkebude.

Als sie schließlich das große Zirkuszelt mit der weithin sichtbaren spitzen Kuppel, das von zwei Masten gehalten wurde, aufbauten, kam auch Selma auf den Platz. Sie fürchtete, dem krummen Lindenbäumchen könnte in dem ruhelosen Durcheinander etwas geschehen, lehnte sich daran und sah interessiert zu, wie die Arbeiter sich laut anfeuernd an Stahlseilen zogen und mit einer Motorwinde die eine Mastseite des Zeltes aufrichteten. Ein großer Arbeiter, eine Zigarette im Mundwinkel, kam, sich den Schweiß von der Stirn wischend, mit einer Axt auf das Mädchen zu. „Tritt bitte zur Seite!“, sagte er brummend und hob die Axt, um sein dreistes Werk zu tun.

„Weshalb?“, fragte das Mädchen.

„Weshalb!? Hört euch diese Göre an. - Weshalb? - Das krumme Holz stört uns. Es steht im Weg.“

„Es ist kein krummes Holz, sondern ein Lindenbäumchen. Und es steht nicht im, sondern am Weg“, sagte das Mädchen, „die ganzen Jahre schon. Solange ich zur Schule gehe. Und solltest du es umschlagen, werde ich traurig und traurig sein. Und - und ich werde nie, nie wieder in den Zirkus gehen. Und ich rufe die Zeitung und die Umweltpolizei ... Und allen Kindern in der Schule und in unserem Haus werde ich es sagen ... Tagelang werde ich Zettel ankleben, an alle Bäume und Häuser: Geht nicht in den Zirkus Berolino, der hackt junge Bäumchen um!“

Der Arbeiter richtete sich auf und sah das Mädchen mit einem zugekniffenen Auge an. Der Qualm der Zigarette biss ihn. „Du hältst mich von der Arbeit ab.“ Er fasste das Bäumchen am Stamm und rüttelte es. „Eine Linde“, sagte er halb verächtlich, ließ die Axt wie einen leblosen Arm neben sich baumeln und ging nachdenklich zurück zu seinen Kollegen.

In der Mitte des großen Zeltes, zwischen beiden Masten, bestreuten Arbeiter einen runden Platz dick mit Sägespäne. Es war die Manege. Um die Manege herum stellten sie Bänke für die Besucher auf. Daneben aber stand der gelbe Wagen mit den großen bunten Buchstaben:

B E R O L I N O

und dem aufgemalten lachenden Clownsgesicht. Er war vom Dach bis zu den Rädern mit leuchtenden farbigen Glühlampen geschmückt und besaß eine breite offene Tür mit rotem Vorhang. Neben dem Wagen führte ein gelber Vorhang in das Zirkuszelt hinein und wieder hinaus. In der oberen Bankreihe stand der Beleuchter mit einem Scheinwerfer, um Tiere und Artisten mit hellem Licht zu begleiten, sobald sie die Manege betraten. Um alle Zelte und Wagen herum aber stellten die Zirkusleute einen niedrigen roten Holzzaun.

Der kleinste rote Zirkuswagen stand am Zauneingang. Aus seinem Schiebefenster heraus verkaufte die Frau des Zirkusdirektors Eintrittskarten.

„Du“, rief die Pappel, die wieder obenauf war, zur Eiche hinüber. „Ist das nicht ungeheuer interessant auf unserem Platz?! Um meinen Stamm herum spazieren drei Lamas. Was sagt der schiefe Lindenknüppel dazu? - Aber ich sehe ihn nicht. Vielleicht ist er ausgewandert, seiner Sehnsucht nach - in die Ferne, ha, ha, ha, oder die Zirkusleute haben ihn verheizt.“

„Davon solltest du besser nicht zu laut reden“, sagte die Eiche.

Das krumme Lindenbäumchen indessen war weder ausgewandert noch im Öfchen eines Zirkuswagens verheizt worden. Die Zirkusleute hatten das Zelt über ein Stück des Sandweges gespannt, an dem das krumme Lindenbäumchen stand. Als Arbeit und Aufregung zur Ruhe gekommen waren, stand es zwischen rotem Wagen und gelbem Vorhang. „Träume ich von der Ferne“, dachte es, „oder ist sie zu mir gekommen?“

Vom Vormittag bis zum Abend probten die Artisten für die Weihnachtsvorstellung. Es gab derart viel zu sehen, dass dem krummen Lindenbäumchen ganz warm wurde und ihm sieben grüne Blättchen wuchsen.

Alle Zirkusdarsteller kamen und gingen an ihm vorüber: die Artisten links, die Tiere rechts. Und jeder erzählte ihm aus seinem Leben in fremden Ländern und Städten.

Das krumme Lindenbäumchen konnte gar nicht rasch genug nach beiden Seiten sehen, um jedem aufmerksam zuzuhören. „Ich freue mich, dass ihr zu mir gekommen seid“, rief es leise. Ein kleiner Elefant, der mit seiner Mutter in die Manege musste, blieb einige Augenblicke bei ihm stehen und schnupperte an seinen Blättchen.

„Bist du die Ferne?“, fragte das krumme Lindenbäumchen. „Dafür bin ich noch zu klein. Ich glaube, die Ferne ist immer weit fort“, antwortete der kleine Elefant. „Meine Mutter sagt, sie heißt Indien.“

„Schade, dass Pappel und Eiche mich hier nicht sehen“, dachte das krumme Lindenbäumchen. „Ich werde ihnen meinen Traum erzählen.“

Endlich war der Heilige Abend da. Am frühen Nachmittag begann die Vorstellung. Die Leute kauften sich an der Zirkuskasse Eintrittskarten, gingen zuerst in das kleine runde Zelt, aßen Würstchen, Kekse oder Zuckerwatte und tranken Limonade. Auch Selma kam. Sie hatte ihren Großvater mitgebracht. Der Arzt hatte ihm zum Genesen einen „fröhlichen Abend“ auf Rezept verschrieben.

„Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr im Zirkus“, sagte er. Er ging noch etwas steifbeinig und drehte sich, wenn er jemanden grüßte, vorsichtig um, als wagte er sich nicht hinzusehen. Er schaute aber neugierig in alle Winkel, sodass Selma ihm kaum folgen konnte. Sie holte für sie beide die Karten. Dann aßen auch sie Würstchen, Kekse, Zuckerwatte und tranken Limonade. Zwei Clowns rissen die Eintrittskarten ein, blinzelten mit ihren langen angeklebten Wimpern und flüsterten: „Wir zeigen euch heute eine Weihnachtsüberraschung.“

„Wo ist sie?“, fragte Selma.

„Drinnen, im großen Zelt.“

„Süßigkeiten oder Spielzeug?“.

„Warte ab!“

Die Bankreihen füllten sich mit Zuschauern. Die Kinder waren besonders aufgeregt und unruhig, da sie nach der Vorstellung zu Hause mit dem Weihnachtsmann eine weitere Überraschung erwartete.

Selma und ihr Großvater saßen in der siebenten Reihe auf einer schmalen Holzbank. Selma konnte durch die Bretter vor ihren Füßen Gras und Sandboden des Platzes sehen.

Das Blasorchester spielte einen Marsch. Dann begrüßte der Zirkusdirektor die Zuschauer und sagte: „Freuen Sie sich auf eine Weltneuheit, auf eine Weltsensation. Heute tritt ein Gast in unserer Vorstellung auf, den sie alle kennen, aber hier nicht erwarten.“ Er verbeugte sich, und das Programm begann:

Ein Mädchen turnte an einer Schleuderschaukel. Der Scheinwerfer, begleitet von lauter Blasmusik, hob sie aus dem Halbdunkel. „Donnerwetter! Wirklich. Das ist die Weltneuheit“, riefen die Leute.

„Nein, jetzt kommt sie“, riefen andere, als ein Clown, ein armdickes Tau hinter sich herziehend, das irgendwo hinter dem gelben Vorhang endete, einen Riesensaurier ankündigte. Schließlich zog er mit dem Tau ein weißes Hündchen in die Manege.

“Oooh“, riefen die Zuschauer und „ach, wie man sich doch täuschen lässt.“

Danach lief ein dünner Artist auf einem Schlappseil hin und her und machte darauf unter lautem Trommelwirbel einen einarmigen Handstand.

„Aha!“, riefen die Leute und jubelten. „Das also ist sie, die Sensation.“

Dann kamen reitende Cowboys, die mit Lassos, und Indianer, die mit brennenden Messern warfen.

„Nein, so etwas haben wir noch nicht gesehen“, riefen die Zuschauer, „das wird die Weltneuheit sein.“

Dann jagten Pferde neben- und hintereinander durch die Manege; Kamele und Dromedare trabten mit hochmütigem Gesichtsausdruck und bildeten eine kleine Karawane; vier große indische Elefanten setzten sich auf Hocker, machten darauf einen Kopfstand und standen auf einem Bein, und eine Lamaherde sprang über Hürden im Kreis um sie herum.

„Wunderbar! Großartig! Hurra!“, riefen die Zuschauer und fragten sich verwirrt von so vielen Neuheiten: „War dies nun die Sensation?“

Als die Zuschauer zufrieden und etwas nachdenklich das Finale erwarteten, traten die beiden Clowns mit feierlichem Gesicht in die Manege. Sie trugen jetzt schwarz-weiß-karierte Schirmmützen, weite karierte Jacken, rote und gelbe Knickerbockerhosen, lange breite Schuhe und grüne Fliegen, die sich wie langsame Propeller drehten. Der eine hielt einen Vorschlaghammer in der Hand und schleppte einen Pappkarton auf seinen Schultern, der andere einen Holzpfahl und einen Spaten. Er hob den Pfahl, und plötzlich lag die Manege im Dunkel. Der rote Wagen jedoch und der gelbe Vorhang standen in hellem Licht. Und zwischen beiden duckte sich von der Helligkeit geblendet das krumme Lindenbäumchen.

„Ehe wir nach Hause gehen, wollen wir ein Weihnachtsbäumchen schmücken“, sagte der Clown mit der Schachtel. Das Orchester blies Weihnachtslieder, und beide Clowns schritten theatralisch zum krummen Lindenbäumchen.

„Großvater, sieh, das krumme Lindenbäumchen“, rief Selma.

„Das ist kein Weihnachtsbaum“, rief ein Kind.

„Wir begrüßen das Lindenbäumchen“, sagte der eine Clown. „Es hat jetzt seinen ersten Auftritt. Seht, es grünt. Es grüßt euch vom Frühling und ist sehr aufgeregt.“ Nun lockerte er mit dem Spaten das Erdreich um das krumme Lindenbäumchen, schlug neben ihm den Pfahl in den Boden, bog es behutsam, bis es aufrecht stand, schlang ein Seil herum und band es an den Pfahl. Dann öffneten sie die Pappschachtel und schmückten das Bäumchen mit silbernen Weihnachtskugeln und Lametta. „Schööön“, sagten beide Clowns und bestaunten ihr Werk. „Nun haben wir ein Zirkusweihnachtsbäumchen.“ Sie klatschten leise, als wollten sie den feierlichen Anblick nicht stören, in die Hände, und alle Zuschauer applaudierten.

„Wenn ich das Bäumchen so ansehe“, sagte der Großvater, „fühle ich den Schuss der Hexe nicht mehr.“ Er rekelte sich, streckte seine Arme zur Seite, in die Höhe, erhob sich, versuchte einige Kniebeugen.

Nachdem der Zirkus mit seinen dreizehn gelben und roten Wagen fortgezogen war, begann es zu schneien. Das einst krumme Lindenbäumchen stand aufrecht und fest am Weg. Lamettafäden hingen in seinen Zweigen, eine zerbrochene Glaskugel, und seine Blätter bedeckten sich mit Schnee. Der Pfahl aber stützte es wie ein starker kleiner Bruder. Und da es aufrecht stand, konnte es ein wenig über das kahle Rosengebüsch auf den gefrorenen Fluss sehen.

Auf dem verlassenen Platz roch es wie auf einem Bauernhof. Spatzen scharrten in Elefanten- und Pferdemist.

„Wo ist es gewesen, als der Zirkus auf unserem Platz gastierte?“, fragte die Pappel die Eiche, als sie das Lindenbäumchen entdeckte. „Täusche ich mich oder ist es gewachsen? In dieser Jahreszeit? Wie leichtsinnig. Und wie es sich herausgeputzt hat.“

„Frag’ es doch selbst“, sagte die Eiche. Dann schwieg sie bis zum Frühjahr.

Die Krähe flog herbei, hängte sich einen Lamettafaden um. „Die Ferne hat viele Gesichter“, sagte sie, „aber man sieht sie nie aus der Nähe. Wie schön du geworden bist.“

(Veröffentlicht in „Amsel Amadeus und der Graue Kater“, Holzheimer Verlag, Hamburg, 2005)

Aus den Notizen eines Angepassten

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