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Der Tintenfleck
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Obwohl das Ereignis länger als fünfzig Jahre zurückliegt, muss ich noch immer daran denken, wie ich es fertig brachte, im Moment allgemeiner Bestürzung erleichtert und guter Dinge zu sein.
Ich ging damals in die fünfte Klasse der Pestalozzi-Grundschule in Birkenwerder. Die Schule existiert noch. Und zwar alle drei Schulgebäude von den Anfängen vor etwa hundertfünfzig Jahren bis heute. Das erste Schulgebäude einstöckig und das kleinste, diente nacheinander lange Jahre als Kinderbibliothek, als Altenheim und schließlich als Schulhort. Das zweite Gebäude, zweistöckig, „alte Schule“ genannt, aus gelben Birkenwerder Klinkern, beherbergt noch heute etliche Klassenräume. Die neue Schule, in den Zwanzigerjahren erbaut, ist seit meiner Schulzeit um zwei Anbauten erweitert worden. Sie steht am Hang zum Briesetal, und unser Klassenraum lag, von der Schulhofseite gesehen, in der ersten, von der Briese und dem Sportplatz gesehen in der dritten Etage. Wir waren eine mehr als lebhafte Klasse und mit nahezu vierzig Mädchen und Jungen überfüllt. Ein Viertel von ihnen war durch Krieg, Flucht und Vertreibung aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen, einem regelmäßigen Schulbesuch seit Jahren entwöhnt. Zu dem waren wir am Anfang des Schuljahres aus einer Mädchenklasse und einer Jungenklasse zu zwei gemischten Klassen umgebildet worden. Diese Umstände erklären vage den Hintergrund unserer Mobilität.
Unsere Klassenlehrerin, Frau Gläser, unterrichtete Deutsch und Zeichnen und stand kurz vor der Pensionierung. Sie erlebte mit uns eine anstrengende Zeit und wirkte der dauernden Zwischenfälle wegen häufig erschöpft und resigniert. Wir Jungen aber, da uns jetzt Mädchen zuschauten, fühlten uns in unseren Aktivitäten beflügelt.
Unter anderem belebten wir monatelang die Pausen durch kleine Explosionen. Ausgediente Haustürschlüssel füllten wir mit abgestreiften Streichholzkuppen, steckten einen Sechs-Zoll-Nagel hinein, beide durch eine kurze Schnur verbunden, schlugen ihn, den Nagelkopf voran, gegen die wuchtige Türfüllung. Aus ihr rieselte bereits aus zahlreichen Löchern der Putz.
In jenen Jahren verwickelte ich in den Pausen bestimmte Jungen gern in Ringkämpfe. Mein Lieblingsgegner war Gert Kanter, den wir Eupi nannten, ein gleichaltriger brünetter Junge mit athletischem Brustkorb. Er ließ sich nicht so leicht wie die meisten anderen Jungen zu Boden werfen und auf den Rücken legen. Wir rollten uns, mehr lachend als ernsthaft, ohne wirklich grob zu werden, zwischen den Bankreihen, und nicht selten mussten uns die Lehrerinnen oder Lehrer unter irgendeiner Schulbank hervorbitten.
Im Frühherbst, während einer kleinen Pause, kam ich von Toilette und klinkte, um in den Klassenraum zu gelangen. Die Klinke ließ sich nicht bewegen. Durchs Schlüsselloch erkannte ich Eupi, der sie von innen hochdrückte. Ich stützte mich nun mit aller Kraft von außen drauf. Das Türschloss hielt unserem Druck nicht stand. Es knackte, und die Klinke ließ sich mit einem Finger im Kreis leiern. Die Tür blieb verschlossen. Rasch verdrückte ich mich und kam, als sich Frau Gläser an der Tür zu schaffen machte, verwundert die Klinke drehte und nach innen rief: „Öffnet, bitte, sofort die Tür!“
Die Tür ließ sich nicht sofort öffnen. Hausmeister Püschel wurde gerufen, doch von außen gelangte er nicht ans Schloss. So rief er die Feuerwehr, die einen Leiterwagen aus ihrem Depot fuhr und die Leiter von der Brieseseite hinauf zu den Fenstern unseres Klassenraumes schob. Herr Püschel stieg mit Werkzeugkasten unter lautstarker Anteilnahme der Mädchen und Jungen die Feuerleiter hinauf, durchs Fenster und reparierte das Schloss. Alle Kinder im Raum mussten am Nachmittag zur Strafe den ausgefallenen Unterricht nachholen.
Unser Klassenraum besaß noch die herkömmlichen Schulbänke mit eingelassenem Tintenfass und eingeritzten Zeichen, Sprüchen und Namen von Schülergenerationen und war gleichzeitig der Filmvorführraum unserer Schule. An der Vorderfront schmückte ihn eine weiße braun gerahmte Wand, und seine Fenster ließen sich mit schwarzen Rollos verdunkeln.
2
Eines Morgens, im Winter, ich erinnere mich der Kälte eines grauen wolkenverhangenen Himmels und einer dünnen Schneedecke auf dem Schulhof, sollte uns ein Film gezeigt werden zur sexuellen Aufklärung. Zuerst uns Jungen. Die Mädchen wurden in die 5a geschickt, und die Jungen der 5a kamen zu uns in den Filmraum. Das Unterrichtsthema schien für die Pädagogen ein heikles Unterfangen zu sein. Unter den Lehrerinnen und Lehrern herrschte ziemliche Aufregung. Sie kamen, gingen, tuschelten. Frau Böhme, die Biologielehrerin, wollte man nicht allein lassen mit der Aufgabe. Es hieß, zwei, drei Lehrer würden sich zusätzlich zu uns setzen.
Da unsere alte Jungenklasse wieder beisammen war, erhielten unsere Kämpfe um Rangordnungen neuen Auftrieb. Da es für Ringkämpfe an diesem Morgen wenig Gelegenheit gab, übten wir uns in Wurfdisziplinen. Eupi stand zwischen Tafel und Leinwand und bewarf mich mit Kreidestücken und Papierknäuels. Ich suchte Schutz hinter meiner Bank und nach ebenbürtigen Wurfgeschossen. Gleich musste Frau Böhme kommen. Der Klassendienst ließ bereits die Rollos herunter. Für Augenblicke wurde es Nacht im Raum. In einem raschen heldenmütigen Entschluss, von dem ich hoffte, seinen Urheber würde das Dunkel verbergen, ergriff ich das Tintenfass und warf es in die Richtung, in der ich Eupi vermutete. Es klatschte brüchig.
Das Licht ging an. Die Lehrerin und zwei, drei Lehrer, unter ihnen Rektor Hutz, traten ein und verharrten auf der Schwelle. Ihre, unser aller Blicke hingen am rechten unteren Eck der Leinwand, Auge in Auge mit einem dunkelblauen Ungeheuer, das einem zwanzigarmigen Kraken ähnelte.
"Wer hat das getan?", fragte Rektor Hutz ruhig. Ich kann mich nicht erinnern, ihn anders als ruhig und geduldig erlebt zu haben. Jahre später erfuhr ich, wie sehr belastet er während unserer Schulzeit gewesen war: Er leitete lange Zeit sieben Grundschulen des Kreises, zwei Stunden wöchentlich eine Lehrerin als Schreibkraft zur Seite.
Gern hätte ich die Augen verschlossen und wäre unsichtbar geworden. Ich meldete mich zögernd. Mir wurde heiß und kalt zugleich, weil ich einen schriftlichen Tadel erwartete, von denen mein Hausaufgabenheft nur so strotzte und ich die elterlichen Konsequenzen ahnte: Stubenarrest.
"Komm’ bitte nach vorn!", sagte Rektor Hutz, die Hände auf dem Rücken. Ich ging nach vorn, stand vor dem Rektor, und wir beide, die drei Lehrer, Frau Böhme, die hinter ihm standen und die Jungen blickten auf das Tintenungeheuer.
„Weißt du, was das hier ist?“, fragte Rektor Hutz und deutete zur Wand.
„Ja, ein Tintenfleck.“
„Der ist wohl nicht zu übersehen. Ich meine diese Wand.“
„Eine Filmwand.“
„Wie gut du dich auskennst. Wusstest du das nicht vor dem Wurf?“
„Als ich warf, war es dunkel.“
Rektor Hutz drehte sich zu seinen Kollegen um, sein gebeugter Rücken zuckte mehrmals, und die Kollegen blickten zur Seite, auch ihre Rücken zuckten, und ich hörte Frau Böhme leise schnaufen, als unterdrückte sie ein Lachen.
„Richtig“, sagte Rektor Hutz wandte sich jetzt fest und bestimmt mir wieder zu. „Und da wir darauf Filme und keine Tintenflecke sehen wollen, wirst du heute nicht eher aus der Schule gehen, ehe der Fleck verschwunden ist.“
Ich blickte verlegen auf den Fleck, der aus der Nähe riesig wirkte.
„Schau mich bitte an!“
Ich sah in sein Gesicht, das mit seiner dicken Hornbrille müde wirkte.
„Hast du mich verstanden, Fritz Leverenz?“
„Ja.“
„Antworte bitte im ganzen Satz!“
„Ja, ich habe Sie verstanden, Herr Hutz.“
„Gut. Morgen früh schaue ich wieder herein und möchte keinen Schimmer Tinte mehr an der Filmwand sehen. Habe ich deutlich gesprochen?“
„Ja, Herr Hutz, Sie haben deutlich gesprochen.“
Frau Böhme führte uns den so interessanten wie geheimnisvollen Film vor, dessen aufklärende Bedeutung mir jedoch fremd blieb, da meine Gedanken sich um den Verlauf des Nachmittags bemühten.
Nach dem Unterricht arbeitete ich redlich daran, den Fleck verschwinden zu lassen. Außer einem zerlöcherten Tafellappen, standen mir keine Hilfsmittel zur Verfügung, und ich wagte auch nicht, den Hausmeister danach zu fragen. Auf dem Jungenklo feuchtete ich den Lappen an und wischte wie besessen. Mir schien, das Ungeheuer machte sich über mich lustig. Es verlor kaum an Farbe, sondern verharrte deutlich sichtbar. Schließlich kam mir eine glänzende Idee: Ich wälzte den Lappen auf dem Schulhof im sandigen Schnee und scheuerte wieder zuversichtlich. Tatsächlich verblasste das Ungeheuer jetzt um einen winzigen Schein, weigerte sich jedoch hartnäckig, weiter zurückzuweichen, so verzweifelt ich auch schrubbte und scheuerte.
4
In der Nacht schlief ich unruhig von Albträumen geplagt, frühstückte am Morgen zerstreut und ging bedrückt zur Schule.
Das ganze Schulhaus wirkte gedrückt und auf eine beklemmende Art leblos. Ich setzte mich still in meine Bank, uninteressiert an den üblichen Späßen und Raufereien und blickte verstohlen zur Filmwand. Selbst meine Mitschüler schien der Fleck zu beeindrucken. Sie saßen abwartend und unterhielten sich halblaut. Das Tintenungeheuer hingegen schien eine bessere Nacht als ich verbracht zu haben: es wirkte erholt und erfrischt in zartem Himmelblau.
Frau Gläser trat in den Raum. Ihr sonst recht strenger nachdenklicher Blick durch ihre achteckige randlose Brille wirkte nach einem Seitenblick auf die befleckte Filmwand, beinahe traurig. Sie hatte uns nach dem Vorfall noch nicht gesprochen. Das Tintenungeheuer schien auch sie zu erschüttern. Ich wagte mich in meiner Bank nicht aufzurichten, saß wie eingeschraubt, erwartete mit dem Donnerwetter ihrer dunklen vollen Stimme einen Tadel und eine Sonderarbeit von etwa fünf Sätzen Satzanalyse. Entgegen meiner Erwartung aber begann sie mit leiser zitternder Stimme:
„Ich muss euch etwas Trauriges mitteilen“. Ich rutschte auf meinem Platz noch tiefer bis der Rücken von Eckhard Knauer ihr Gesicht verdeckte.
„Rektor Hutz ist heute Nacht gestorben.“
Alle schwiegen erschrocken. Nur ich hörte die Nachricht erleichtert und atmete auf. Doch zugleich war ich erschrocken über den Tod, der an einem so schönen Morgen, da wir uns auf den Tag freuten, unsere Lehrerin mit dieser Nachricht schickte, und darüber, dass ich doch nicht anders, als erleichtert sein konnte.
Fortan sprach niemand mehr von dem Tintenfleck. Man schien ihn als ein letztes Andenken an Rektor Hutz bewahren zu wollen. Lange Zeit wurde die Filmwand nicht angerührt. Dann wurde der Raum renoviert und der Tintenfleck vergessen.
Mir aber bleiben der Raum und die Filmwand und meine widerstreitenden Empfindungen immer in Erinnerung und Rektor Hutz unvergessen.
(Veröffentlicht in „East Side Stories“, Holzheimer Verlag, Hamburg, 2006)