Читать книгу Jugend unterm Zuckerhut - Fritz Sauer - Страница 10
Nachts in der Favela.
ОглавлениеPlötzlich sprach ihn jemand von hinten an: „Willst Du Crack?“
Roberto fuhr herum, ein junger Bursche stand im Schatten eines Hauseingangs, nur seine Zigarette glühte ab und zu auf und erhellte sein dunkles Gesicht.
„Nein, will ich nicht“, sagte Roberto und wollte weitergehen.
„He, nicht so schnell, Kleiner, ich schenk Dir eine Tüte, hier, das erste Mal ist umsonst“, sagte er und hielt ihm eine kleine Papiertüte hin.
„Behalt dein Crack, ich will es nicht“, rief Roberto und machte, dass er davonkam.
„Dich krieg ich auch noch“, knurrte der Mann und sah ihm mit einem finsteren Blick hinterher.
Mittlerweile war es fast zwei Uhr geworden und die Betrunkenen kamen aus den Kneipen und lallten vor sich hin. Manchmal stützte eine Frau einen Mann, manchmal war es umgekehrt, manchmal schwankten beide zusammen durch die Gasse, oft mit Gezeter und Gekeife.
Auf einem kleinen Platz lagen etwa 10 Gestalten auf der Erde, jede auf einem Pappkarton oder einer schmutzigen Iso-Matte. Es war immer noch 30 Grad warm und keiner hatte eine Decke, nur ein dünnes Tuch über dem Körper und dem Kopf gegen die Mücken und das Licht der einzigen Laterne weit und breit.
Den besten Platz zum Schlafen hatten die Menschen auf den Dachterrassen, die dort eine Matratze hingelegt und ein Moskitonetz aufgebaut hatten. Die hatten frische Luft und über sich den Sternenhimmel mit dem „Kreuz des Südens“.
In den Zimmern war es über 30 Grad heiß und eine Klimaanlage hatten hier oben auf dem Hügel niemand, denn dafür brauchte man Strom und der war kostbar in der Favela. Es gab hier oben keine Stromversorgung. Wer es sich leisten konnte, legte sein Stromkabel selber über die Gasse und zapfte den Strom irgendwo ab.
Obwohl über den Gassen dicke Bündel von Kabeln hangen, hatten nur wenige Strom. Viele hatten nur eine Gaslampe und einen Gaskocher, Wasser gab es nur an den Brunnenplätzen. Von dort mussten es sich die Bewohner in Eimern und Kanistern holen.
Auf halber Höhe des Hügels kam Roberto an einem Haus mit Dachterrasse vorbei, und auf dem Dach saß ein Mann in einem Schaukelstuhl und schaukelte vor sich hin. Vor ihm auf der Terrassenmauer lag eine kleine Maschinenpistole, eine israelische Uzi. Sie wurde gerne von den Wächtern der Drogenmafia verwendet, da sie klein und leicht zu verstecken war, aber sie schoss nicht sehr genau und bei einem Feuerstoß entwickelte sie einen Rechtsdrall, was eine Streuwirkung zur Folge hatte.
Vor 10 Jahren war Robertos Oma bei einem Feuergefecht zwischen Polizei und Drogenmafia ums Leben gekommen, denn ab und zu führte die Polizei Razzien in der Favela durch, um die Mafia zu bekämpfen und Drogen zu beschlagnahmen. Ein Polizist hatte hinter ihrer Terrassenmauer Deckung gesucht und sich ein Feuergefecht mit einem Mafiosi geliefert. Seine Oma wollte sehen, was da draußen vor sich ging und hatte einen Moment im Fenster gestanden, als der Gangster eine Salve abfeuerte und ein Querschläger sie in die Brust traf. Der Polizist hatte ein Präzisionsgewehr und eine Scharfschützen-Ausbildung. Er traf den 19jährigen Mafiosi genau zwischen die Augen und die Uzi verstummte.
Roberto war damals 5 Jahre alt und dieses Erlebnis war das Trauma seines Lebens. Die geliebte Oma starb vor seinen Augen in einem Meer von Blut.
Als der Großvater nach Hause kam und seine tote Frau und seinen wimmernden Enkel sah, sackte er zusammen und war wie versteinert. Er saß neben seiner toten Frau und starrte ihr ins Gesicht.
Sein Sohn Ronaldo fand ihn mit Roberto im Arm. Der Schock war auch für Ronaldo groß, er hatte seine Mutter verloren. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Jeden Tag bemerkten die Trauernden eine Veränderung an dem Leichnam. Am Anfang war sie noch Frau, Mutter und Oma gewesen, dann aber wurde ihr Gesicht immer maskenhafter, ihr Körper eiskalt und hart. Ihre Seele hatte sich vollständig vom Körper getrennt, der nur noch eine unnütze Hülle war, wie ein Kokon, aus dem der Schmetterling davon geflogen war.
Am 3. Tag rafften sie sich auf, und die ganze Familie und viele Nachbarn brachten die Verstorbene auf den Friedhof nach Botafogo. Als sie zurück in ihr Haus kamen, war ein dicker Briefumschlag mit Geld unter ihrer Haustür durchgeschoben worden, zusammen mit einer Karte, auf der in großen Buchstaben zu lesen war: „Herzliches Beileid“.
„Das ist schmutziges Geld“, sagte der Großvater, „das will ich nicht!“
„Wir nehmen das Geld“, sagte sein Sohn, „aber wir vergeben nicht.“
Roberto war froh, als er wieder am Fuße des Favela-Hügels angekommen war und das Haus seiner Eltern sah. Seine Mutter wartete auf ihn und atmete auf, als er hereinkam.
„Schließ gut ab“, sagte sie, „ und dann kannst Du duschen.“
Sie hatten vor drei Jahren einen eigenen Wasseranschluss gelegt und ein Badezimmer in ihr Haus eingebaut. Roberto stellte sich unter die Dusche und genoss den Luxus des fließenden Wassers über seine Haut. Er fühlte sich wie neu geboren.
Von dem Tage an begann er zu wachsen. Erst wurden seine Füße groß und er musste sich neue Flip-Flops kaufen, dann sein ganzer Körper. Es war, wie wenn ein Pfeil von der Sehne schnellte, der die ganze Zeit festgehalten worden war. Jetzt aber flog er los!