Читать книгу Jugend unterm Zuckerhut - Fritz Sauer - Страница 4
Robertos Kindheit.
ОглавлениеRoberto ist der Sohn des in seiner Jugend berühmten Fußballspielers Ronaldo, der einmal die Hoffnung seines Vereins CR Flamengo gewesen war. Vater Ronaldo war damals der Torjäger der Mannschaft. Die Männer bewunderten ihn und die Frauen liebten ihn. Mit 26 Jahren aber rissen ihm die Kreuzbänder mitten im Spiel um die Meisterschaft. Beim Kampf um den Ball mit seinem Gegenspieler hatte er sein Knie verdreht und war gestürzt. Als Ronaldo zu Boden ging, rissen seine Kreuzbänder und er wand sich vor Schmerzen.
Er wurde operiert, aber es gab Komplikationen, er konnte keinen Hochleistungssport mehr treiben, seine sportliche Karriere war am Ende. Er konnte das Bein nicht mehr belasten und hinkte leicht.
Ronaldo stürzte von seiner sportlichen Höhe in eine tiefe Depression, er war verzweifelt und als sich seine Freundin einen anderen Torjäger angelte und ihn verließ, wollte er sich das Leben nehmen.
Seine Eltern wohnten am Rande der Favela Rocinha. Sie hatten nicht viel Geld, aber versuchten alles, um ihm zu helfen. Sie brachten ihn schließlich in die USA in eine Spezialklinik. Er wurde noch einmal operiert, und diesmal verlief die Operation erfolgreich. Nach 2 Jahren konnte er wieder normal gehen, aber seine Sportlerkarriere war dahin. Sein Verein half ihm, beruflich wieder Fuß zu fassen. Er wurde Jugend-Trainer des CR Flamengo, einem traditionsreichen Verein von Rio, der seine Anhänger in der schwarzen Unterschicht von Rio hat und dessen Nachwuchsspieler aus den Favelas der Stadt kommen. Der Verein gibt ihnen Hoffnung und Perspektive, jeder Junge aus den Elendsvierteln träumt davon, ein großer Fußballstar zu werden und dann berühmt und reich zu sein.
Lange lebte Ronaldo allein bei seinen Eltern in dem Haus am Hügel. Seine Mutter hätte gerne einen Enkel gehabt, aber Ronaldo wollte keine Frau mehr, die Enttäuschung mit seiner ersten Freundin hatte ihn tief getroffen. Er fürchtete sich vor einem neuerlichen Schmerz und ging den Frauen aus dem Weg.
Auf einem Vereinsfest lernte er Theresa kennen. Sie servierte dort Häppchen und Sekt auf einer Siegesfeier des Vereins, der gerade die Meisterschaft gewonnen hatte. Und da geschah das Wunder: Beide verliebten sich Hals über Kopf ineinander, und als er sie nach ein paar Monaten fragte, ob sie seine Frau werden wolle, sagte sie spontan: „Ja.“
Ein paar Jahre später kam Roberto auf die Welt und sein Vater beschloss sogleich, einen Fußball-Star aus ihm zu machen. Von Kindesbeinen an musste er trainieren, sein Vater wollte seinen eigenen Lebenstraum mit ihm verwirklichen. Roberto übte fleißig jahrelang, aber es zeigte sich, dass er nicht die gleiche Begabung für Fußball hatte, wie sein Vater. Er war nur guter Durchschnitt.
Bei der Fülle an Talenten, die es in jedem Stadtteil gab, reichte das nicht, um erfolgreich zu sein. Lange versuchte der Vater, ihn zu mehr Leistung zu zwingen, noch härter zu trainieren, aber die Altersgenossen im Verein waren besser, immer einen Tick schneller, trickreicher, schussstärker. Langsam sah der Vater ein, dass Roberto kein Super-Fußballer werden würde und wandte sich enttäuscht anderen Talenten zu, um sie zu fördern.
Roberto fühlte sich vom Vater abgelehnt und wurde verschlossen und bockig. Er hatte keine Lust mehr auf Fußballtraining. Fast immer gehörte er zu den Verlierern und oft gaben die Mitspieler ihm die Schuld. Weil er die meisten Zweikämpfe verloren hatte, weil er eine „todsichere Chance“ übers Tor gedonnert hatte, weil er nicht den Ball abgegeben hatte, usw. Er ging immer weniger zum Training und ließ sich immer neue Ausreden einfallen: Fuß verstaucht, Magenverstimmung, Schularbeiten und vieles mehr.
Die Vereinskameraden schossen plötzlich in die Höhe, kamen in den Stimmbruch, erster Bartflaum spross auf ihren Oberlippen, und Roberto war immer noch ein Junge mit krausen Haaren und zarter Haut. Manche Spieler waren jetzt einen Kopf größer als er, alle nannten ihn „den Kleinen“ und das machte ihn nicht glücklicher. Die anderen Jungen gaben an mit ihren wachsenden Muskeln und Barthaaren, nur Roberto konnte nichts dergleichen vorweisen.
Mittlerweile hasste er geradezu das gemeinsame Duschen nach dem Training und fühlte sich schwach und mickrig unter all den werdenden Machos mit ihrer sprießenden Körperbehaarung.
Nach der Schule ging er jetzt lieber zum Strand als zum Fußballtraining. Schwimmen und tauchen machten ihm Spaß, und eines Tages lernte er am Strand einen Mann kennen, der auf seinem Brett auf den größten Wellen ritt. Das sah sehr gefährlich aus, wenn der Mann unterhalb des Wellenkamms scheinbar mühelos dahinglitt und die Welle sich knapp hinter ihm überschlug.
Das sah toll aus und Roberto bewunderte ihn. Der Mann war braungebrannt, muskulös und lachte gerne, und er hatte es auch gerne, wenn man ihm bei seinem Wellenritt zuschaute und ihn bewunderte.
Wenn er wieder an Land kam, dann war er sogleich von anderen Surfern und jungen Frauen umringt, die ihn gut fanden. Zum Glück bildete er sich nichts darauf ein und wurde auch nicht eitel, wie viele seiner Sportkameraden. Er bemerkte sogar Roberto und lächelte ihm zu. Nach einer Woche stummer Bewunderung von Roberto fragte er ihn vor allen Leuten, ob er surfen lernen wolle. Roberto wußte gar nicht, wie ihm geschah und wurde rot, als sich alle Augen der Umstehenden auf ihn richteten.
War das ernst gemeint oder nur ein Scherz eines blöden Erwachsenen? Alle hatten wahrscheinlich erwartet, dass Roberto ein „Nein“ stammeln würde, aber statt dessen stieß er ein „Ja gerne“ hervor, und jetzt sah sich der Mann in der Pflicht und meinte schließlich: „Na gut, dann komm morgen um vier wieder hier zum Strand.“
Roberto konnte die ganze Nacht nicht schlafen vor Aufregung. Ob der Mann sein Versprechen wirklich wahr machen und ihm Unterricht geben würde?
In der Schule konnte er sich auch nicht konzentrieren, auch im Englischunterricht nicht, dabei war Englisch sein Lieblingsfach.
„The weather is nice today, isn´t it“ („Das Wetter ist schön heute, nicht wahr?“), fragte ihn sein Englisch-Lehrer und riss ihn aus seinen Tagträumen. „Yes“, antwortete Roberto und fügte noch schnell ein „indeed, very nice, let´s go to the beach and surf“ („Ja, in der Tat, sehr schön, lasst uns zum Strand gehen und surfen“) hinzu, und der Lehrer war zufrieden – ganzer Satz mit Inhalt und nicht nur ein simples „Yes“.
Endlich war die Schule aus und Roberto rannte nach Hause. Die Schule lag am Fuße des Hügels, auf der die Favela Rocinha gebaut war, bzw. sich den Hügel hochrankte wie eine Kletterpflanze, die sich überall festhakte, wo sie eine Möglichkeit dazu fand und sei sie auch noch so verwegen. Es gab nur eine einzige schmale Straße in die Favela und die endete bald auf einem Platz, wo das größte Haus der Favela stand. Hier residierte der Gangsterboss des „Comando Vermelho“, eine kriminelle Bande, die sich mit allem beschäftigte, was Geld brachte: Drogenverkauf, Prostitution, Raubüberfälle, Einbrüche, Kidnapping. Jüngster Geschäftszweig der Bande war die Manipulation von Fußballspielen, um damit am Wettschalter Geld zu verdienen. Sie hatten zu diesem Zweck sogar ein eigenes Wett-Büro im unteren Stockwerk ihrer Zentrale eingerichtet. Der Boss hatte die Macht im Viertel inne und herrschte dort wie ein König. Am Eingang seines Reiches hatte er Wachen postiert, die mehr oder weniger versteckt Pistolen trugen, das untere Ende des Hügels im Blick behielten und jeden genau musterten, der an ihnen vorbei wollte.
Je höher man in der Favela den Hügel hinauf ging, desto enger wurden die Gassen und schließlich wurden sie so eng, dass zwei Männer nur noch knapp aneinander vorbeikamen, ohne sich anzustoßen.
Roberto´s Vater hatte ihm eingeschärft, niemals allein zur Spitze des Hügels zu gehen, wo der tropische Regenwald wuchs, denn das sei zu gefährlich.
Die Polizisten, die gelegentlich eine Razzia im Viertel machten, würden sich auch nicht dorthin trauen, hatte sein Vater gesagt und Roberto hatte sich bis zum heutigen Tag daran gehalten.
Sein Vater war fast jeden Tag im Verein und trainierte die Jungen aus den Favelas der Stadt. Es gab viele Favelas in Rio, aber Rocinha war die größte und niemand wußte genau, wie viele Menschen hier lebten. Die Schätzungen reichten von 60.000 bis 120.000 Einwohnern.
Seine Mutter hatte oft einen Job als Bedienung oder als Küchenhilfe in Ipanema, dem berühmtesten Stadtteil von Rio, der in unmittelbarer Nachbarschaft zur Favela Rocinha liegt.
Ein Lied hatte in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Stadtteil Ipanema und seinen Strand berühmt gemacht: „The girl from Ipanema“, das Mädchen aus Ipanema, das sich in den Hüften wiegt und durch die Straßen spaziert. Das Lied war zwar schon ziemlich alt, Roberto´s Vater war noch ein Kind, als es zum ersten Mal im Radio gespielt worden war, aber da es um die Welt gegangen war, war es immer noch ein Wahrzeichen von Brasilien, von Rio, von Ipanema – je nachdem, wie weit man von Ipanema entfernt lebte.
Je weiter weg, desto klischeehafter wurde das Bild von Brasilien und seiner Kultur. Das Lied stand für das schöne Leben in Rio, für die Schokoladenseite der Stadt. Dabei war der Musikstil, in dem das Lied komponiert war, der Bossa Nova, nur eine von vielen Musikrichtungen, die es in Brasilien gibt, und der Samba ist eigentlich viel typischer und bedeutender für Rio. Samba ist die Musik der Nachfahren der ehemaligen Sklaven des Landes, die mit und für diese Musik leben und mit und in ihr ihre Träume, ihre Sehnsüchte und ihr Elend ausdrücken.
Die Sklaverei war 1888 in Brasilien abgeschafft worden. Roberto war ein Nachfahre der ehemaligen Sklaven von Brasilien. Sein Großvater war von Salvador de Bahia nach Rio gekommen, als er jung war und Arbeitskräfte in Rio gesucht wurden. Damals wurde viel gebaut in Rio: Häuser, Straßen, Tunnel und ein Fußball-Stadion, das Maracana heißen sollte. Sein Großvater hatte überall gearbeitet und mitgeholfen, die Bauwerke zu errichten.
Roberto ging von seinem Elternhaus den Hügel hinab nach Ipanema, vorbei an den vielen Cafés, wo die Touristen aus aller Welt saßen und genau das machten, was in dem Lied beschrieben wird, den wiegenden Hüften der Mädchen nachschauen, die durch die Straßen flanieren und zum Strand gehen oder von dort kommen.
Roberto hatte keinen Blick für die Mädchen sondern dachte nur an das Eine: Surfen!
„Ob ich es schaffe, auf dem Brett stehen zu bleiben? Oder gar auf einer Welle zu reiten?
Hoffentlich blamiere ich mich nicht! Hoffentlich lachen mich die Leute nicht aus!“
Um viertel vor vier war er schon am Surfer-Strand. Viele junge Männer waren da und machten ein paar gymnastische Übungen, einige, um sich warm zu machen für den Ritt auf den Wellen, andere, um ihren muskulösen Körper zur Geltung zu bringen, immer mit einem Seitenblick auf die Mädchen, die in Grüppchen zusammenlagen und ihrerseits ihre schönen Körper zur Geltung bringen wollten. Sie rekelten sich in der Sonne und zupften an ihren Mini-Tangas herum. Da durfte nichts verrutschen, denn die Bikinis waren knapp geschnitten, manche sogar sehr knapp.
Aber auch dafür hatte Roberto keinen Blick, er suchte mit den Augen den Mann, der ihm das Surfen beibringen wollte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken – nicht am Strand und auch nicht im Wasser, wo gerade einige Surfer auf ihren Brettern hinaus paddelten, „ihrer Welle“ entgegen.
Es wurde vier Uhr, dann viertel nach vier, halb fünf, der Mann war nicht zu entdecken und blieb verschwunden. Roberto war tief enttäuscht, ging am Strand auf und ab und beobachtete die Surfer im Wasser. 200 bis 300 Meter vor dem Strand paddelten sie im Wasser und warteten auf eine geeignete Welle.
Ein Surfer – eine Welle, hieß die Regel, an die sich alle hielten, denn es wäre viel zu gefährlich, zu zweit auf einer Welle zu reiten, man konnte zu leicht zusammenstoßen oder sich gegenseitig behindern. Der Spaß war ja gerade, hin und her zu wedeln und das Gefühl zu genießen, der Herr der Welle zu sein.
Hier in Ipanema waren die Wellen nicht so hoch wie manchmal vor Hawai, wo manche Surfer auf Monster-Wellen reiten, die fast 7 Meter hoch sind und die den Wagemutigen geradezu erschlagen wollen mit ihren überstürzenden Wellenkämmen von Tausenden von Kilogramm Wasser.
Die besten Surfer schaffen es immer noch so gerade, unter den stürzenden Wassermassen hinwegzugleiten, und für manche ist gerade das der Nervenkitzel, den sie suchen. Aber manchmal gibt es auch schreckliche Unfälle - dann packen die Wasserpranken den Unglücklichen, wirbeln ihn herum und schlagen ihm sein Brett im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren.
Um 19:43 Uhr ging die Sonne unter und der Strand leerte sich, die Menschen gingen in die Bars, Restaurants und Apartments von Ipanema oder in ihre Behausungen in der Favela Rocinha.
Roberto schlenderte missmutig durch die Straßen. Der Mann hatte sich also doch nur einen Scherz mit ihm erlaubt: Blöder Kerl!
Er bog um eine Straßenecke und da kam der Mann ihm direkt entgegen und auf ihn zu: „Es tut mir leid wegen unserer Verabredung“, sagte er, „aber ich musste heute länger arbeiten, mein Kollege hatte einen Unfall und ich musste für ihn einspringen.“
Er streckte Roberto die Hand entgegen: „Ich heiße Paulo, und Du?“
Roberto sagte seinen Namen und war sofort wieder guter Laune.
„Ich arbeite hier in dem Sportgeschäft“, sagte Paulo und zeigte auf ein hell erleuchtetes Schaufenster, in dem alle möglichen Sportartikel zu sehen waren – Surfbretter, Taucheranzüge,
Harpunen, Sauerstoffflaschen und vieles mehr.
„Du kannst morgen direkt hierhin kommen. Ich hoffe, es klappt Morgen mit dem Unterricht.“
Roberto bedankte sich und dann trennten sich ihre Wege wieder. „Bis Morgen.“
Am nächsten Tag stand Roberto pünktlich um vier wieder vor dem Geschäft und breit grinsend kam ihm Paulo entgegen, zwei Surfbretter unter den Armen.
„Hier, mein altes Brett, das leihe ich dir.“
„Danke Paulo, das ist ja toll, vielen Dank!“
Gemeinsam gingen sie zum Strand, jeder sein Brett unter den Arm geklemmt.
Am Strand holte Paulo eine kleine Dose hervor: „Das ist Wachs, damit musst Du das Brett einreiben, damit Du einen guten Halt hast.“
Roberto tat, wie ihm geheißen und rieb das Board mit einem Lappen ein und tatsächlich, die Oberfläche wurde griffig.
„Dieses Band musst Du um deinen Knöchel legen und den Klettverschluss zumachen“, erklärte Paulo, „wenn Du vom Brett fällst, dann kannst Du es wieder zu dir ziehen und herauf krabbeln.“
Paulo zeigte ihm am Strand, wie man auf das Brett krabbelt und dann aufsteht, in den Knien einknickt und mit den Armen die Balance hält.
Sah ganz leicht aus am Strand, aber im Wasser war alles anders, viel, viel wackeliger.
Zwei Dutzend Mal fiel Roberto ins Wasser, bis er endlich stehen konnte und den Trick raushatte.
Paulo gab ihm dabei die richtigen Tipps: „ Beine breiter auseinander, mehr seitlich, tiefer im hinteren Bein, linker Arm nach vorne, den andern nach hinten und im Ellenbogen einknicken“, usw.
Langsam bekam Roberto ein Gefühl für das Brett unter seinen Füßen, und am Ende des Nachmittags schaffte er es, ein paar Meter auf einer schönen Welle zu reiten, bevor er wieder ins Wasser plumpste.
„Sehr schön, Roberto, so schnell wie Du habe ich das nicht gelernt. Du bist ein echtes Naturtalent“,
sagte Paulo, „aber das reicht für heute, sonst erkältest Du dich noch.“
Der Wind war zwar warm und das Wasser hatte etwa 27 Grad, aber auf die Dauer kühlt der Körper doch aus. Sonnenbrand konnte man auch kriegen, aber Roberto war Sonne gewöhnt, seine Haut tiefbraun und auch seine krausen Haare schützten seinen Kopf vor der Sonne, er brauchte keine Baseballkappe wie manche weißen Surfer, höchstens ein Stirnband mit Schirm, um von der Sonne nicht so geblendet zu werden.
Glücklich und stolz kam er wieder an Land: „Du bist ein Naturtalent“ hallte es in seinem Kopf wieder und in seinem Inneren jubelte es: „Ich bin ein Naturtalent, ich bin gut.“
Auf dem Rückweg machten sie noch an einem Imbiss Halt, und Paulo gab eine Riesenportion Pommes mit Ketchup und eine Kokosnuss aus. In die große, grüne Kokosnuss hackte der Verkäufer oben mit einer Machete ein Loch und steckte einen Strohhalm hinein, bevor er jedem eine überreichte.
Die Milch der Kokosnuss schmeckte herrlich nach der Anstrengung und die Pommes waren voll gut, selbst gemacht aus Kartoffeln. Als die Nuss leer war, gaben sie sie an den Verkäufer zurück und der köpfte sie mit einem präzisen Schlag.
Innen war sie schneeweiss und voller Kokosfleisch. Mit seiner Machete schlug der Verkäufer noch einen kleinen Spatel aus dem Deckel und reichte alles zurück. Mit dem Spatel schabten sie die zarte Innenhaut der Nuss ab und aßen sie mit Behagen.
„Das ist gut für den Magen und sehr nahrhaft“, sagte Paulo, „surfen macht hungrig!“
Nach einer Woche konnte Roberto Wellenreiten, nach zwei Wochen konnte er gut surfen, und am Ende des Sommers war er ein Crack auf dem Surfbrett. Er bekam viel Lob von seinem Trainer und viel Anerkennung von seinen Sportkameraden am Strand und wurde selbstbewusster.
Als seine Mutter die Veränderungen bei ihrem Sohn mitbekam und seine Begeisterung spürte, fragte sie so lange nach, bis er ihr alles erzählte. Am nächsten Sonntag packte sie einen schönen Picknick-Korb, nahm seinen jüngeren Bruder Alberto an die Hand und ging mit ihren beiden Söhnen zum Strand. Albertos linkes Bein war seit seiner Geburt vier Zentimeter kürzer als sein rechtes Bein und er hinkte ein wenig. Er konnte nicht so schnell laufen wie die anderen Kinder und hatte deshalb das Fußballspielen aufgegeben. Sein Großvater hatte ihm das Schachspielen beigebracht und von Jahr zu Jahr war er besser geworden. Inzwischen war er ein gleichwertiger Gegenspieler für seinen Großvater und beide spielten oft miteinander.
Alberto und seine Mutter staunten nicht schlecht, als Roberto ihnen Paulo vorstellte und beide anschließend aufs Meer hinaus paddelten, um bald darauf stehend auf einer Welle wieder an den Strand zu kommen. Ein paar Mal wiederholten sie das Spiel, und Paulo zeigte sogar ein paar Kunststücke: Auf einem Bein surfen und Handstand auf dem Brett.
Dann packte Robertos Mutter das gute Essen aus und alle futterten, bis der letzte Krümel vertilgt war: Reis mit Bohnen, Hähnchenkeulen und frisches Weißbrot. Zum krönenden Abschluss gab es noch warmen Milchkaffee und selbst gebackenen Kuchen.
„Vielen Dank Herr Paulo, dass Sie meinem Sohn so viel beigebracht haben“, sagte seine Mutter dankbar zu Paulo und Paulo lachte: „Ich habe ihm nur gezeigt, wie es geht, gelernt hat er es selber. Er ist ein Naturtalent, sehr begabt.“
Roberto platzte fast vor Stolz, und auch seine Mutter war beeindruckt.
Zuhause erzählte sie es gleich ihrem Mann, als er vom Sonntags-Spiel kam. Vater Ronaldo konnte es erst nicht glauben, dass sein Sohn ein sportliches „Naturtalent“ sein sollte. Hatte er sich nicht jahrelang vergeblich mit ihm abgemüht, um aus ihm einen Torjäger zu machen, wie er selber einmal einer gewesen war? Aber neugierig war er doch und bei nächster Gelegenheit ging er mit Roberto zum Strand.
Roberto war ganz aufgeregt, als ihm der Vater zuschaute, wie er sein Brett startklar machte. An dem Tag gab es ziemlich große Wellen mit Schaumkronen oben drauf und die Anfänger und die Klugen blieben lieber an Land.
„Der Wind ist heute sehr böig“, sagte Paulo, „es wäre klüger, heute nicht rauszugehen.“
„Aber mein Vater ist heute mitgekommen, ich möchte ihm zeigen, was ich bei dir gelernt habe“, entgegnete Roberto und wurde noch aufgeregter.
Paulo verstand ihn, aber seine Erfahrung sagte ihm, dass es heute auf dem Meer gefährlich war.
„Er kann ein andermal kommen und gucken“, brummte Paulo.
„Er hat nicht soviel Zeit für mich“, murmelte Roberto und war den Tränen nahe.
„Na gut“, gab Paulo nach, „aber dann nimmst Du mein Brett, das hat einen gepolsterten Rand und eine Sicherheitsfinne, und ich nehme mein altes Brett mal wieder in Gebrauch.“
Roberto wischte sich über die Augen und strahlte wieder.
„Du bist mein bester Freund, Paulo, danke.“
Dann paddelten beide hinaus aufs Meer, wo nur ein paar hartgesottene Surfer unterwegs waren. Während sie hinaus paddelten, nahm der Wind noch zu.
„Du startest zuerst“, sagte Paulo, „dann kann ich dir notfalls noch zu Hilfe kommen.“
„Okidoki“, grinste Roberto und da sah er „seine Welle“ auch schon heranrollen und machte sich bereit zum Entern.
Die Welle rauschte heran und er erwischte sie im richtigen Moment, erhob sich auf dem Brett und begann den Tanz am Abgrund. Er hatte keine Angst vor der Welle, dafür war er viel zu jung und unerfahren. Die Welle versuchte, ihn zu packen und umzureißen, aber Roberto hielt dagegen, wedelte am Wellenhang hin und her und war schon fast wieder am Strand, als der Wind plötzlich zuschlug.
Eine Riesenkraft fegte Roberto vom Brett und dann schlug die Welle auf ihn ein wie ein Berserker, rasend vor Wut über seine Respektlosigkeit, ihr auf der Nase herum zu tanzen.
Er bekam einen Schlag gegen die Rippen, sein Brett hatte ihn mit der Seite getroffen und er verspürte einen stechenden Schmerz. Er bekam das Brett zu fassen und klammerte sich instinktiv daran fest. Die Wucht der Welle drückte beide in die Tiefe und im Kreis herum, Roberto wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war und hielt die Luft an. Dann spürte er wieder das Stechen im Brustkorbbereich: „Meine Rippen sind gebrochen“, schoss es ihm durch den Kopf, „Luft, um Himmels Willen Luft, Vater unser, hilf mir.“
Die Welle war an den Strand gedonnert und hatte sich dort schäumend ausgetobt, im Wellental tauchte Roberto mit seinem Brett auf und schnappte nach Luft, bevor die nächste Welle ihn packte und Richtung Strand schleuderte. Der Rücklauf der Welle wollte ihn schon wieder ins Meer ziehen, da packten ihn starke Arme und hielten ihn fest. Sein Vater und ein anderer Surfer standen im Wasser und hielten ihn fest, aber da kam schon die nächste Welle und warf alle durcheinander. Das Brett war jetzt zu einer gefährlichen Waffe des Meeres geworden, mit dem es erbarmungslos zuschlug. Der andere Surfer löste blitzschnell den Klettverschluss an Robertos Bein und warf das Brett so weit er konnte seitlich von sich in Windrichtung, sodass es erstmal außer Reichweite war und mit der nächsten Welle an Land geschleudert wurde, wo ein weiterer Surfer das Band erwischte, bevor das Brett wieder zurück in die Brandung gezogen werden konnte.
Mit den vereinten Kräften von allen herbeigeeilten Sportlern gelang es, Roberto an den Strand zu ziehen. Sein Vater kniete neben ihm, nahm seinen Kopf auf seine Oberschenkel, strich ihm die nassen Haare aus dem Gesicht und flüsterte: „Gott sei Dank, Roberto, Du lebst.“
Paulo erwischte es ebenfalls schlimm. Die alte Finne hielt dem Druck von schwerem Mann und starker Welle nicht mehr stand und knickte seitlich ab, jetzt konnte Paulo nicht mehr steuern, hatte plötzlich keinen Druck mehr auf dem Brett, dass unter seinen Füßen wegrutschte. Er versuchte wegzutauchen, aber kam nicht schnell genug in die Tiefe, das Brett erwischte ihn am Kopf und er sah Sterne, die in seinem Schädel explodierten. Ein, zwei Sekunden verlor er die Besinnung, dann machte ihn das Wasser und das plötzliche Bewusstsein der Gefahr hellwach. Er tauchte auf, zog blitzschnell das Brett zu sich und schwang sich lang darauf.
Die nächste Welle rollte heran, aber auf dem Meer waren die Wellen nicht so gefährlich wie in der Brandung am Strand. Paulo, der sich am Brett festklammerte, wurde hoch gehoben, geschüttelt und dann ging es kopfunter ins Wellental.
„Ich muss bis zur Brandung zurück paddeln, den Klettverschluss lösen und dann seitlich gegen Wind und Welle Abstand zum Brett gewinnen, damit es mich nicht nochmal erwischt“, fuhr es ihm durch den Kopf.
In seinem Kopf fingen ein Dutzend kleine Männer an mit Hämmern und Piken von innen an seinen Schädel zu klopfen, als wollten sie ein Loch nach draußen frei schlagen. Er fasste sich an die Stelle am Kopf. Aus einer Platzwunde floss Blut und lief ihm über das Gesicht.
„Verdammt, ich muss an Land, bevor ich soviel Blut verliere, das ich ohnmächtig werde und ersaufe“, schoss es ihm durch den Kopf. „Höchste Lebensgefahr“, meldete sein Gehirn an seine Organe und schüttete einen mächtigen Stoß Adrenalin ins Blut.
So schnell er konnte, paddelte er zurück bis zur Brandung, dann löste er das Band und schwamm seitlich weg. Die nächste Welle packte das Brett und schleuderte es Richtung Strand. Beim Rücklaufen zog sie es wieder mit sich ins Wasser und die nächste Welle spielte mit ihm Katz und Maus.
Inzwischen hatten die Leute am Strand ein Seil mit einem gelben Auftriebskörper herbeigeschafft und warteten, bis Paulo in Wurfweite war. Dann schleuderte ein geübter Werfer das Seil mit dem Ball um den Kopf wie ein Hammerwerfer und ließ im richtigen Moment los. Der Ball flog fast 25 Meter weit und klatschte neben Paulo ins Wasser. Der ergriff das Seil, schlang es um seinen Brustkorb und mit der nächsten Welle zogen ihn alle mit vereinten Kräften an Land.
Inzwischen war auch ein Rettungswagen eingetroffen und Paulo und Roberto wurden ins Krankenhaus gebracht. Vater Ronaldo fuhr auch mit und hielt die Hand seines Sohnes. Im Krankenhaus wurden die beiden Surfer ärztlich versorgt, Paulo erhielt einen Kopfverband nachdem die Wunde genäht war. Roberto wurde in den Röntgenraum gebracht.
„Sie haben viel für meinen Sohn getan“, sagte Vater Ronaldo zu Paulo während sie auf das Ergebnis der Untersuchung warteten, „ich danke Ihnen. Surfen ist wohl noch gefährlicher als Fußball.“
Ihm saß der Schreck noch in den Knochen, aber Paulo grinste schon wieder: „Was uns nicht umbringt, macht uns klüger. Wir hätten bei dem Wetter nicht rausgehen dürfen, es ist meine Schuld, tut mir leid.“
„Und warum seid ihr trotzdem aufs Meer hinaus?“, fragte Robertos Vater.
„Roberto wollte unbedingt seinem Vater zeigen, was er kann. Er hatte Angst, dass die Gelegenheit so schnell nicht wieder kommt, denn sein Vater hat nicht viel Zeit für ihn.“
Vater Ronaldo war betroffen: Die Beiden hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, nur um ihn zu beeindrucken.
„Ich habe wohl viel falsch gemacht“, sagte er mit belegter Stimme, „es tut mit leid, ich werde versuchen, es wieder gut zu machen.“ Und er nahm sich fest vor, in Zukunft besser mit seinen beiden Söhnen umzugehen und ihnen mehr Zeit zu widmen.
Roberto kam mit einer dicken Bandage um die Brust aus dem Behandlungsraum, sein Vater nahm ihn in die Arme und drückte ihn vorsichtig an sich.
„Mein Sohn, ich bin ja so glücklich, dass Du lebst.“
„Roberto hat Glück gehabt“, sagte der behandelnde Arzt, der Roberto gefolgt war, „nur eine Rippe ist angebrochen, das wird bald wieder verheilen. Zahlen Sie bar oder mit Karte?“
Vater Ronaldo zückte sein Portemonnaie, holte seine Karte heraus und bezahlte beide Rechnungen.
„Nur aus Schaden wird man klug“, dachte er und sah das verlorene Geld als seine Buße an.
Am nächsten Morgen stand ein Bericht in der Zeitung über den Sturm mit Windböen bis zu 100 Stundenkilometern und dass zwei Surfer mit Verletzungen ins Krankenhaus gekommen seien. Ein Surfer wurde noch vermisst. Es besteht aber wenig Hoffnung, dass er den Sturm überlebt hat, stand da zu lesen.