Читать книгу Die Welt auf Schienen - Fürst Artur - Страница 9
Aus der Vergangenheit
7. Ein Märtyrer
ОглавлениеNun war der Augenblick gekommen, da der deutsche Eisenbahnfrühling in die fruchtbringende Zeit übergehen konnte. Doch der freundlichere Sonnenglanz, der fortab auf die schienenreifen Gefilde unseres Landes herniederstrahlte, ward verdüstert durch den Schatten eines Menschenschicksals, dessen Träger zu leuchtenden Taten berufen war, aber im Dunkeln enden sollte.
Deutschland hatte das Glück, daß der erste Denker auf der Erde, welcher ein wahres und tiefes Verständnis für die umfassende Wirkung und weitestgreifende Bedeutung der Eisenbahn hatte, auf seinem Boden geboren wurde und wirkte. Während in allen anderen Ländern, selbst in England, immer noch planlos Linien von nur örtlicher Bedeutung ins Leben gerufen wurden, hat jener Mann als erster ein Eisenbahnnetz als Ganzes deutlich vor seinem geistigen Auge gesehen.
Die Alten, wenn sie zum Himmel blickten, dachten, daß jeder der Sterne ohne Zusammenwirken mit den andern und ohne von ihnen beeinflußt zu werden, seine Kreise am Himmel zöge. Aber es traten Männer wie Kopernikus auf, die lehrten, daß da droben jede der Sternenbahnen mit den anderen eng verwoben sei, daß die „Harmonie der Sphären“ nur deshalb bestehe, weil eins mit dem anderen wirke und lebe. Auch die Eisenbahn hat ihren Kopernikus gehabt, und er ist gleichfalls ein Deutscher gewesen.
Die tief eindringenden Gedanken dieses Manns machten nicht bei der Erkenntnis halt, daß es für das Wohl der Eisenbahn selbst notwendig sei, von vornherein nicht einzelne Strecken, sondern sogleich große, zusammenhängende Netze zu entwerfen. Denn seinem für das Vaterland glühenden Herzen war selbst das Riesengebilde der vielen eisernen Verkehrswege, die er vor Augen hatte, nichts anderes als ein Werkzeug zur Erhöhung Deutschlands. Er sah in ihnen das beste Mittel, die Entwicklung seines Vaterlands zu fördern, es durch immer engere Verkettung der einzelnen politischen Mittelpunkte aus seiner jammervollen Zerrissenheit emporzuheben zu größerer Einheit. Er glaubte fest an das geeinte große Deutsche Reich, das er selbst niemals sehen sollte, er opferte sein Dasein diesem größten Ziel, dem er am ehesten durch Förderung des Eisenbahngedankens im größten Maßstab sich nähern zu können glaubte.
Den Schöpfer der ersten deutschen Eisenbahnlinie von wirklicher verkehrspolitischer Bedeutung, den Gründer des Handelsvereins, aus dem dann der große deutsche Zollverein hervorging, Friedrich List, nennen wir heute einen Vorläufer Bismarcks. Die Zeitgenossen aber hatten für diesen großen Sohn deutscher Erde nichts übrig als Kränkungen und Verachtung. Man verfolgte ihn ob seines vorwärtsdrängenden Wirkens, man trieb ihn aus dem Vaterland und endlich in die Verzweiflung.
Lists Wirken für die Eisenbahn blieb nicht so ohne tatsächliche Erfolge wie das Streben Friedrich Harkorts. Er hat wirklich die rasch dahinrollende Lokomotive vor die Masse der schwer zu bewegenden Geister gespannt. Aber während der stämmige Westfale trotz der Ergebnislosigkeit seiner Kämpfe ein ruhiges Alter erreichte, mußte List an der Flamme seines Geistes, die draußen nicht genug Nahrung fand, endlich selbst verbrennen. Er sah die erste von ihm geschaffene Eisenbahnlinie, die Strecke Leipzig-Dresden, aufblühen und gedeihen, er erblickte die segensreichen Folgen, welche an dieses Werk sich schlossen, indem Deutschland sich mehr und mehr mit Schienenwegen überzog, aber man hatte ihn selbst von dem Arbeitsplatz fortgestoßen, auf dem er den ersten Hammerschlag für das große Werk getan, und so mußte sein heißes Herz im Alpenschnee verbluten.
Treffend hat Treitschke das Auftreten und Wirken Lists mit folgenden Worten umrissen:
„Alle die wohlgemeinten Entwürfe früherer Eisenbahnlinien waren doch nur auf das Wohl einzelner Städte oder Ländereien berechnet, und fast schien es, als sollten die Deutschen durch den Fluch ihres Partikularismus verhindert werden, die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. Da trat Friedrich List hervor mit dem Plan eines zusammenhängenden, ganz Deutschland umfassenden Eisenbahnnetzes und zeigte durch die Tat, durch die glückliche Vollendung einer großen Bahnlinie, daß sein, dem Durchschnittsmenschen fast unfaßbares Ideal sich verwirklichen ließ.
„Als der Bahnbrecher des deutschen Eisenbahnwesens erwarb er sich sein größtes Verdienst um die Nation, seine Stellung in der vaterländischen Geschichte. Als er vor Jahren für die deutsche Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch nur mutig ausgesprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenossen schon ersehnte und in der Wahl der Mittel vielfach fehlgegriffen. Jetzt aber mit seinen Eisenbahnplänen eilte er allen Landsleuten weit vor und bewährte überall die geniale Sicherheit seines Seherblickes. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle damaligen volkswirtschaftlichen Publizisten.“
Friedrich List wurde im Jahre 1789 in Reutlingen als der Sohn eines Weißgerbers geboren. Von Beginn an ging er einen unregelmäßigen Weg.
„Seine Bildung wird ihm,“ so sagt der erste Schilderer seines Lebens, Ludwig Häußer, „nicht auf dem gewohnten Wege zugeführt; seine Erfahrung muß er sich im bittersten Kampfe mit äußeren Verhältnissen erringen, und seiner Lebenstätigkeit überall unter entmutigenden Hindernissen und Opfern neue Bahnen zu brechen suchen. Das Autodidaktische in der geistigen Erziehung des Mannes, das Energievolle und Selbständige in seinem Charakter, das Kampffertige und Rührige in seinem öffentlichen Tun wird von früher Zeit vorbereitet – denn es ist ein bitteres, vielbewegtes Leben, das ihn von Anfang an in die harte Zucht nimmt und seinen Geist und Charakter zu jenem seltenen Grade von Selbständigkeit und schöpferischer Rührigkeit heranbildet, die Lists hervorragendes Verdienst, aber auch die Quelle seiner Verkennungen war. Wie das Ziel seines Wirkens eigentümlich war und in der Geschichte literarischer Persönlichkeiten einen ganz neuen Abschnitt für Deutschland bezeichnete, wie der Ausgang seines Lebens ein ungemeines tragisches Interesse weckte, so waren auch die Wege nicht gewöhnlich, auf denen das Schicksal diese kostbare Fülle von Kräften prüfte und stählte.“
Nachdem er eine einfache Schule besucht hatte, ward List schon früh auf den Kampf hingewiesen, den er sein ganzes Leben hindurch geführt hat: das Ringen gegen willkürliche, dem Leben abgewandte Beamtenherrschaft, wie sie zum Schaden des Vaterlands damals blühte. Eine seltsame Verkettung von Umständen fügte es, daß der Tod seiner Mutter und seines Bruders mittelbar durch harte Eingriffe der Behörden in die Familienverhältnisse herbeigeführt wurde. Dennoch war List gezwungen, Schreiber im Dienst der württembergischen Regierung zu werden.
In Ulm begann er widerwillig diese Laufbahn. Seine bedeutenden Fähigkeiten führten ihn jedoch alsbald in höhere Stufen. Er legte die Prüfung für das obere Verwaltungsfach ab und kam als Rechnungsrat ins Ministerium. Hier wurde der freisinnige Minister von Wangenheim auf die außerordentliche Bildung aufmerksam, die der junge Mann sich selbst angeeignet hatte, und schon mit 28 Jahren saß Friedrich List auf dem Lehrstuhl für Staatskunde an der Universität zu Tübingen.
Doch nicht lange sollte er sich dieser ehrenvollen Stellung erfreuen. Die sehr tatkräftigen württembergischen „Altrechtler“ stürzten seinen Gönner Wangenheim, und damit verschwand die starke Stütze, die der junge, den Fortschritt lehrende Professor besaß. Nach einem Jahr bereits schied er aus Tübingen.
Unstet wandernd kam nun List 1819 auf einer Reise durch Süddeutschland nach Frankfurt a. M. Dort war eine Zahl tüchtiger Kaufleute und Fabrikanten im Begriff, sich zusammenzuschließen, um eine Aufhebung der unzähligen Zollgrenzen innerhalb des Deutschen Reichs zu erwirken. List erschien ihnen als der geborene Führer dieser Vereinigung. Rasch brachte er den Handelsverein zustande, die Urzelle des deutschen Zollvereins. „Von diesem“, so schrieb List später, „datiert sich die Wiedergeburt des deutschen Unternehmungsgeistes, der jahrhundertelang geschlafen hatte. Von ihm datiert sich die Teilnahme des deutschen Publikums an allen Nationalangelegenheiten, und erst der Zollverein hat die Deutschen die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der politischen Ausbildung und Einigung gelehrt.“
Die Stadt Reutlingen hatte indessen ihren bedeutenden Sohn nicht vergessen. Die Bürger wählten List zum Abgeordneten in die Ständeversammlung. Diese Stellung benutzte List, wie man es von ihm erwartet hatte, dazu, durch heftige Angriffe eine Erneuerung des alten, erstarrten Beamtenstaats anzustreben.
Es währte nicht lange, bis er sich eine Klage wegen „Verleumdung der bestehenden Staatsverwaltung und dringenden Verdachts eines begangenen Staatsverbrechens“ zuzog. Der Volksvertreter genoß damals noch nicht das gleiche Recht der Unverletzlichkeit wie heute, und so erreichte die Regierung, daß List aus der Kammer ausgeschlossen wurde. Dazu gesellte sich alsbald eine Verurteilung zu zehnmonatlicher Festungsstrafe „mit angemessener Beschäftigung innerhalb der Festung“.
Um diese Strafe nicht abbüßen zu müssen, begab sich List nach dem damals ja noch französischen Straßburg. Aber er hat niemals an einem Ort Ruhe gefunden, der außerhalb der deutschen Grenze lag. So versuchte er nach kurzer Zeit, bald in dem einen, bald in dem andern der vielen deutschen Vaterländer wieder Fuß zu fassen. Doch überall wußte die württembergische Regierung ihm den Boden heiß zu machen.
Als er es nach Ablauf von drei Jahren gar wagte, nach Württemberg zurückzukehren, wurde er wider Erwarten sogleich ergriffen und auf dem Asberg festgesetzt. Die im Urteil ausgesprochene „angemessene Beschäftigung“ bestand darin, daß der Gefangene dem Platzkommandanten Abschreiberdienste leisten mußte. Er ward zwar schon mehrere Monate vor Ablauf der Strafzeit entlassen, aber nur unter der Bedingung, daß er innerhalb vier Tagen Württemberg verlasse.
Nun sah List ein, daß er in Deutschland kein Wirkungsgebiet mehr habe, und er siedelte mit seiner Familie nach Amerika über. Erleichtert wurde ihm dieser Entschluß durch eine Einladung Lafayettes, des alten Freiheitskämpfers und Freunds Washingtons, den er schon früher einmal in Paris kennen gelernt hatte. Durch Lafayettes Empfehlung fand List jenseits des Weltmeers einen sehr freundlichen Empfang. Er siedelte sich zu Reading, in dem Kohlen- und Eisenbezirk von Pennsylvanien, an. Dort in dem kühn aufstrebenden Land konnte er nun alle seine volkswirtschaftlichen Anschauungen zur Reife bringen. Die 1827 erschienenen „Briefe über die kosmopolitische Theorie der Ökonomie“ machten ihn drüben zu einem weithin bekannten und hochangesehenen Mann.
Auch Lists Vermögensverhältnisse sollten sich rasch bessern. Bei einem Ausflug ins Gebirge entdeckte er zufällig neue, reiche Kohlenlager. Sein scharfer Blick ließ ihn die Möglichkeiten einer guten Nutzung erkennen, und rasch gelang es ihm, Geldmänner für den Plan der Anlegung eines Bergwerks zu gewinnen. Er erweckte das Vertrauen in sein Unternehmen in der Hauptsache dadurch, daß er sofort daran ging, die Verkehrsverhältnisse der abgelegenen Gegend auf das gründlichste zu verbessern.
Er erbaute eine Eisenbahnlinie von Tamaqua nach Port Clinton in der Nähe von Philadelphia, auf der die Kohle bequem zum Schuylkillkanal gelangen konnte. Die Strecke war 34 Kilometer lang und wurde von einem Lokomotivzug in 21⁄2 Stunden durchfahren.
Die neue Verkehrsanlage hatte einen ausgezeichneten Erfolg. Das Bergwerk warf reiche Erträgnisse ab, und auch der Landstrich zu beiden Seiten der Bahn entwickelte sich zusehends in außerordentlicher Weise. Dort, wo bisher kein Mensch gewohnt hatte, waren bald vier kleine Städte entstanden und reich besiedelt. Dieser Vorgang erinnert lebhaft an die Entstehung von Middlesborough unter dem Einfluß der Bahn Manchester-Liverpool.
Der überraschende Erfolg seiner kleinen Bahn sollte richtunggebend für Lists ganzes Leben werden. Es war ihm plötzlich durch ein lebendiges Beispiel klar geworden, welch ungeheuren Nutzen die Eisenbahn einem darniederliegenden Land zu bringen vermag. Nicht der persönliche Vorteil war es, der sein Herz aufs tiefste bewegte, sondern der Gedanke, daß hier das richtige Mittel zur Weiterentwicklung Deutschlands gefunden sei.
„Mitten in den Wildnissen der Blauen Berge“, so hat er später geschrieben, „träumte mir von einem deutschen Eisenbahnsystem; es war mir klar, daß nur durch ein solches die Handelsvereinigung in volle Wirksamkeit treten könne. Diese Ideen machten mich mitten im Glück unglücklich. Notwendig mußte die finanzielle und nationalökonomische Wirksamkeit in Deutschland um so größer sein, je unvollkommener vorher die Transportmittel im Verhältnis zu der Kultur, Größe und Industrie der Nation waren.“
Nachdem List dies erst einmal deutlich erkannt hatte, hielt es ihn, obgleich er zum erstenmal in seinem Leben in gutem Wohlstand und höchst angenehm lebte, nicht mehr in Amerika. „Mir gehts“, so sagte er, „mit meinem Vaterland wie den Müttern mit ihren krüppelhaften Kindern: sie lieben sie um so stärker, je krüppelhafter sie sind. Im Hintergrund all meiner Pläne liegt Deutschland, die Rückkehr nach Deutschland; es ist wahr, ich werde mich dort ärgern über die Kleinstädterei und Kleinstaaterei.“
So erwuchs in der Ferne für Deutschland der große Förderer seiner Volkswirtschaft in diesem Mann, der im Ausland die Heimat nicht zu vergessen vermochte. Wer müßte in diesem Zusammenhang nicht an das Wort eines anderen großen Verbannten denken, an Heines „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht!“
Bald begann List nun einen Briefwechsel mit Joseph von Baader, den wir bereits als einen alten Anhänger des Eisenbahngedankens kennen. Häußer gibt aus einem Brief Lists an Baader unter anderem folgende Stellen wieder, die erkennen lassen, in welch bewundernswerter Weise Lists Geist den Eisenbahngedanken von dem bescheidenen Anfang in eine großartige Zukunft weiterspann. Zunächst weist der Briefschreiber auf die Segnungen hin, welche die in jener Zeit einzig vorhandene große Verkehrseinrichtung, die Schiffahrt, der Menschheit gebracht hat:
„New-York brennt die Steinkohlen von New-Castle; die ältesten Häuser von Albany sind mit holländischen Backsteinen erbaut; der Philadelphier läßt sich zuweilen die im niedersächsischen Sande gewachsene Kartoffel wohlschmecken; in Savannah erheben sich Gebäude und Denkmäler von Steinen, die an der nördlichen Grenze von Neu-England gebrochen worden sind; der Müller in Pennsylvanien mahlt mit Steinen, die über 3000 Meilen weit herkommen; in England ißt man Äpfel aus der Jersey, und während ich dieses schreibe, lösche ich den Durst mit italienischen Limonen, die mich wahrscheinlich nicht so hoch kommen als Sie die Ihrigen, obschon Sie dem Platz wo sie gewachsen, ungefähr 3000 Meilen näher sind als ich. Auch trinke ich wohlfeileren Bordeaux als Sie.
„Nun bedenke man, wie unermeßlich die Produktionskräfte von ganz Deutschland gesteigert würden, wenn eine der Seefracht an Wohlfeilheit und Schnelligkeit gleichkommende Landfracht stattfände.
„Alle mittel- und norddeutschen Länder würden sich an einen regelmäßigen Genuß der ordinären Rhein- und Frankenweine gewöhnen; es würde mehr Wein in der Traube dahin geführt als jetzt im Faß oder in der Bouteille. Essen wir doch hier Trauben aus Spanien und Portugal zu billigen Preisen. Regensburger Bier käme in Hamburg nicht teurer zu stehen als gegenwärtig in Nürnberg.. Hamburg und Bremen würden bayerisches Brot essen; die Feinschmecker in München frische Austern und Seekrebse. Wie würden nur allein die Fischereien jener Seeplätze sich heben, wenn aller Tran, alle gesalzenen und getrockneten Fische, die jetzt von Holland den Rhein heraufkommen, von dort bezogen würden.
„Vermittels Eisenbahnen könnte die lothringische und rheinpreußische Steinkohle und das Holz aus den Gebirgen so wohlfeil ins Rheintal geschafft werden, daß man nicht mehr nötig hätte, einen bedeutenden Teil des besten Bodens zur Holzpflanzung zu verwenden. Der Harz, das Fichtelgebirge, das Erz- und Riesengebirge, würden ihre Erzeugnisse nach allen Gegenden aufs Wohlfeilste versenden und die Getränke und Getreidefrüchte der fruchtbaren Gegenden entgegennehmen.“
Bald sollte sich für List eine ausgezeichnete Gelegenheit ergeben, nach Europa zurückzukehren. Der Präsident der Vereinigten Staaten, Jackson, war längst auf seine bedeutenden Fähigkeiten aufmerksam geworden und wollte sie dazu benutzen, eine engere handelspolitische Verbindung zwischen Amerika und Europa herbeizuführen. Er sandte List deshalb zunächst nach Frankreich, damit er dort für einen lebhafteren Güteraustausch mit den Staaten wirke, insbesondere aber für die Einführung amerikanischer Steinkohle tätig sei. Man versprach ihm, daß er, sobald diese Aufgabe günstig gelöst wäre, zum amerikanischen Konsul in Hamburg ernannt werden würde, wodurch dem Verbannten die Rückkehr ins Vaterland möglich werden konnte. „Mich reizte aber“, so schrieb List später, „weniger dies Versprechen, als die Hoffnung, dadurch Gelegenheit zu erhalten, die Eisenbahn auf dem europäischen Kontinent einzuführen, den Antrag anzunehmen.“
So ging er denn nach Frankreich, kehrte nach zufriedenstellendem Wirken noch einmal nach Amerika zurück und landete endlich im Jahre 1832 mit seiner Familie in Hamburg, um nun für immer in dem alten Erdteil zu bleiben.
Der Rückkehrende war ein anderer Mann als jener, der einst ausgezogen. Der Gelehrte hatte sich in einen schaffenden Handelspolitiker verwandelt. Nur die Liebe zum Vaterland war die gleiche geblieben.
Ein Jahr lang lebte List nun in Hamburg und begann schon dort seine Werbetätigkeit für die Errichtung von Eisenbahnlinien in Deutschland. Aber man belächelte seinen Eifer und gab ihm kein Gehör. Darum schaute er sich nach jener Stelle innerhalb der deutschen Grenze um, die wohl am ehesten und besten zu einer Ausnutzung des neuen Verkehrsmittels geeignet wäre.
Er erkannte Leipzig als den geeignetsten Ausgangspunkt für ein großes Eisenbahnnetz. „Dort lag,“ wie er sich ausdrückte, „die Herzkammer des deutschen Binnenverkehrs, des Buchhandels und der deutschen Fabrikindustrie.“ Die zahlreichen Fremden, die alljährlich zweimal durch die Messe herangezogen wurden, trugen sehr viel zur Belebung des Menschenaustauschs bei. Auch eine Besserung des Güterverkehrs an dieser Stelle schien ihm notwendig. „Was leichter Transport vermag und was schwerer und teurer nicht vermag, darüber können wir,“ so schrieb er bald darauf, „die Sandsteine von Pirna zu Zeugen aufrufen, die zu Wasser bis Berlin, Hamburg und Altona, ja, in noch größerer Menge nach Kopenhagen gegangen sind und noch gehen, während es ihnen nie möglich war, landwärts nur bis Leipzig vorzudringen. Und doch bedürfte man ihrer hier sehr, wäre es auch nur, um dieser sonst so schönen Stadt Trottoirs zu verschaffen.“
Kühn entschlossen zog List nach Leipzig und begann eine ausgedehnte Werbetätigkeit für eine Eisenbahnstrecke von dort nach Dresden. Er suchte die Verkehrsverhältnisse zwischen den beiden Städten genau kennenzulernen, bereiste vielfach die Strecke und machte sich mit den Bodenverhältnissen bekannt.
Zuerst begegnete List auch bei den Leipzigern kalte Zurückhaltung. Da aber veröffentlichte er ein hochbedeutsames Werk, das in der Geschichte der Eisenbahn niemals vergessen werden wird. Es hieß „Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems“.
Er widerlegte darin zunächst die weitverbreitete Meinung, daß Eisenbahnen wohl in England und Amerika möglich und nützlich seien, aber nicht in Deutschland. Daß hier bisher noch keine irgendwie bedeutende Strecke gebaut worden sei, habe seinen Grund nicht darin, daß die Verhältnisse dazu nicht geeignet und das nötige Geld nicht vorhanden sei, es wäre vielmehr allein der mangelnde Unternehmungsgeist, der im Gegensatz zu drüben von dem großen Werk abhielte. In Sachsen könne man sogar unter weit günstigeren Umständen Eisenbahnen bauen, da hier die Löhne niedriger seien und die weiten Ebenen von der Notwendigkeit entbänden, große Bodenschwierigkeiten zu überwinden.
Es sei auch keinesfalls zu befürchten, daß durch das neue Verkehrsmittel einzelne Gewerbe und Personen bleibenden Schaden erleiden würden. „Zur Zeit der Erfindung der Buchdruckerkunst mögen in Leipzig wohl für den Augenblick über ein Dutzend Abschreiber arbeitslos geworden sein; heute beschäftigt hier die Presse 5000 Menschen. So gut es Torheit gewesen wäre, den Fortschritten des Erfindungsgeistes Einhalt zu tun, um jene Abschreiber in Tätigkeit zu erhalten, so töricht wäre es heute, um etlicher Gastgeber und Fuhrleute willen auf die unermeßlichen Wohltaten der Eisenbahn Verzicht zu leisten.“
Es mutet uns heute seltsam an, war aber damals eine dringende Notwendigkeit, daß List in seiner Schrift darauf hinwies, die Eisenbahnen würden nicht nur den Verkehr erleichtern, sondern ihn auch heben. Zugleich müßten sie den Wert des Eigentums steigern und das Wohlbefinden aller Klassen verbessern. Es wurde von ihm schon darauf hingedeutet, daß der Staat wohl am ehesten dazu berufen wäre, Eisenbahnen zu bauen. Große, ertragreiche Strecken könnten zwar von nichtöffentlichen Gesellschaften ausgeführt werden, aber solche, die an sich keinen Verdienst abzuwerfen vermöchten, volkswirtschaftlich aber dennoch von großer Wichtigkeit wären, sollten auf Staatskosten angelegt werden.
Die spätere Entwicklung ist tatsächlich diesen Weg gegangen.
Ein Entwurf für die Errichtung einer Aktiengesellschaft zur Erbauung der Eisenbahn Leipzig-Dresden war in der Schrift enthalten. Ganz neu für Deutschland war auch ein darin ausgesprochener Gedanke, für den List bereits in Frankreich eingetreten war: daß nämlich den Bahngesellschaften das Enteignungsrecht verliehen werden müsse, ohne dessen Besitz sie zur Überwindung größter Schwierigkeiten und oft zu schädlichen Umwegen gezwungen würden.
Wenn auch List vorsichtigerweise vorläufig nur für die Erbauung der Linie Leipzig-Dresden eintrat, so hatte er doch ein großes deutsches Eisenbahnnetz stets vor Augen. Der Schrift war eine Karte beigefügt, welche die beste Führung der großen Eisenbahnlinien über ganz Deutschland andeutete. Nichts spricht deutlicher für die Fähigkeit dieses großen Geistes, künftige Entwicklungen vorauszusehen, als die Tatsache, daß schon nach fünfzehn Jahren die sämtlichen von List vorgezeichneten Eisenbahnlinien ohne seine unmittelbare Einwirkung, nur hervorgerufen aus dem tatsächlichen Bedürfnis, wirklich vorhanden waren.
Das „National-Transportsystem“ steht immer im Vordergrund von Lists Handeln. Zollverein und Eisenbahnnetz nennt er die „siamesischen Zwillinge“.
Stets spricht er mit begeisterten Worten von der großen und allgemeinen Wirkung der Eisenbahnen, die er wie keiner seiner Zeitgenossen begriffen und vorausgesehen hat. „Was die Dampfschiffahrt für den See- und Flußverkehr,“ so schreibt er, „das ist der Eisenbahnwagentransport für den Landverkehr – ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des Schlendrians; der ihre Felder befruchten, ihre Werkstätten und Schächte beleben und auch den Niedrigsten unter ihnen Kraft verleihen wird, sich durch Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit, an fernen Heilquellen und Seegestaden Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen. Ja, durch die neuen Transportmittel wird der Mensch ein unendlich glücklicheres, vermögenderes und vollkommeneres Wesen, seine Kraft und Tätigkeit erweitert.“
Er steht nicht an, die Eisenbahn ein Gottesgeschenk zu nennen. Wie er auf ihre Wirkungen für das Große und Allgemeine hinweist, so gedenkt er auch ihrer freundlichen Wirkungen auf die Familien- und die Lebensverhältnisse des einzelnen:
„Wie vieler Kummer wird nicht erspart, wie viele Freuden werden nicht gewonnen, wenn entfernte Verwandte und Freunde sich mit Blitzesschnelle von ihren Zuständen und Begebnissen Nachricht geben können und ihnen das Wiedersehen um so viel leichter erreichbar ist.
„Wie viele Schmerzen werden nicht gestillt, wenn auch der minder Bemittelte durch Zerstreuung und Luftveränderung, durch die regelmäßige und sanfte Bewegung der Dampfwagen, durch die Reisen nach einer Heilquelle oder ins Seebad, durch Versetzung in ein milderes Klima oder in die frische Bergluft die verlorene Gesundheit, ohne die er seiner Familie den Lebensunterhalt nicht zu erwerben imstande ist, für eine Reihe von Jahren wieder restaurieren kann, während er bei den jetzigen Transportverhältnissen aus Mangel an Mitteln, oder weil er die Beschwerlichkeiten der Reise, zumal das Nachtfahren, nicht ertragen kann, mit seiner Familie elendiglich verkümmern muß.
„Wie vieler Sorgen werden nicht die Eltern überhoben, wenn ihnen nun ein so weiter Kreis eröffnet ist, um den Kindern die ihren Vermögensumständen und Wünschen und den Anlagen und Neigungen der Kinder entsprechenden Bestimmungen zu geben.
„Um wieviel leichter werden diejenigen, die in ihrer Heimat kein zureichendes Auskommen finden und die hier dem gemeinen Wesen zur Last fallen, sich und ihre Familien in andere Gegenden, Länder und Weltteile versetzen, um dort eine neue und glücklichere Existenz zu gründen.“
Mit einer Sicherheit, die gerade heute für uns verblüffend ist, macht List auf die militärische Bedeutung der Eisenbahnen aufmerksam: „Ein vollständiges Eisenbahnsystem wird das ganze Territorium einer Nation in eine große Festung verwandeln, die von der ganzen streitbaren Mannschaft der angegriffenen Nation mit der größten Leichtigkeit, mit dem geringsten Kostenaufwand und den geringsten Nachteilen für das Land verteidigt werden kann.“
Von der Schrift über das sächsische Eisenbahnsystem, in der er vorsichtigerweise von der Voraussetzung ausgeht, daß täglich nur 120 Personen zwischen Leipzig und Dresden hin und her reisen würden, ließ List 500 Drucke an alle wichtigen sächsischen Behördestellen, an die Kammern und maßgebenden Persönlichkeiten Sachsens verteilen.
Die Wirkung war außerordentlich. Mit der Veröffentlichung dieser Listschen Schrift beginnt das Verständnis für den Eisenbahngedanken sich in Deutschland zu verbreiten. Die sächsische Regierung, die beiden Kammern und die Leipziger Stadtverordneten sandten List Danksagungsschreiben.
Es wurde alsbald die Gründung eines Ausschusses beschlossen, der die Vorbedingungen für den Bau der Strecke Leipzig-Dresden ausarbeiten sollte. Die tätigsten Mitglieder in diesem Ausschuß waren, außer List, die Herren Dufour-Féronce, Lange, Seiffert und Gustav Harkort, ein Bruder Friedrichs, der in Leipzig ein großes Ausfuhrgeschäft betrieb.
Wiederum entfaltete List eine außerordentliche Tätigkeit, bis alle Punkte geklärt waren. Als dann aber mit Genehmigung der sächsischen Regierung ein endgültiger Arbeitsausschuß von zwölf Männern gewählt wurde, zu denen auch List gehören sollte, da wurde die Gültigkeit seiner Wahl nicht anerkannt, weil er nicht Leipziger Bürger war. Es ist dies der Beginn des Unheils, das fortab List wiederum auf allen seinen Lebenswegen verfolgen sollte.
Am Tag der Ausschreibung wurde das gesamte Aktienkapital von 11⁄2 Millionen Mark sofort voll gezeichnet. Nach vier Tagen zahlte man für die Papiere bereits ein Aufgeld von 221⁄2 vom Hundert. Auch dieser Vorgang verlieh dem weiteren Vordringen der Eisenbahnen in Deutschland einen kräftigen Schwung.
Obgleich es keinem Zweifel unterliegen konnte, daß Lists Raten und Taten die ausschließliche Ursache dieses glänzenden Erfolgs war, begann man doch von jetzt ab, ihn planmäßig beiseite zu schieben. Die kühne, harte und heißblütige Art des großen Manns behagte den Durchschnittsbürgern im Ausschuß nicht. Es kam in den Versammlungen zu sehr häßlichen Auftritten. Man unterbrach List bei seinen Vorträgen, man lud ihn schließlich zu den Beratungen überhaupt nicht mehr ein und fand es unerklärlich, „daß ein Schwabe, der ohne allen Beruf ins Land gekommen und offenbar nur oberflächliche Kenntnisse über die Sache besitze, sich mehr zutrauen wolle als den Koryphäen des Leipziger Handelsstandes“.
Es war um so leichter, List aus seiner eigenen Schöpfung hinauszudrängen, als dieser mit der ganzen Sorglosigkeit des schöpferischen Geists und eines von seiner Sache tief durchdrungenen Manns sich kein bestimmtes Entgelt für seine Tätigkeit ausbedungen hatte. Er begnügte sich damit, daß ihm in unverbindlichen Besprechungen in Aussicht gestellt worden war, er werde in späterer Zeit, wenn das Unternehmen schon guten Ertrag abwerfe, zwei vom Hundert der sämtlichen Aktien zum Ausgabekurs zeichnen dürfen. Da es List nur um die Sache und gar nicht um seine Person zu tun war, sah er von einer festen Abmachung um so eher ab, als er fürchten mußte, daß die Öffentlichkeit sonst leicht der Meinung hätte sein können, daß er nur zu seinem eigenen Nutzen so warm für das Eisenbahnunternehmen eingetreten wäre.
Sein unbedingter Glaube an die Ehrlichkeit der ihm von hervorragenden Bürgern gemachten Zusagen sollte ihn jedoch aufs bitterste enttäuschen. Man glaubte, genug zu tun, wenn man ihm ein Ehrengeschenk von 2000 Talern anbot, im übrigen aber nur leere Dankesworte spendete. Für die persönliche Lage des so Verratenen waren diese Ereignisse um so schlimmer, als er sein in Amerika erworbenes und drüben untergebrachtes Vermögen durch eine Änderung in der Handelspolitik der dortigen Regierung inzwischen wieder verloren hatte.
Das Ende von Lists aufopfernder und fast beispiellos erfolgreicher Tätigkeit für das Zustandekommen der ersten großen Eisenbahnlinie in Deutschland war, daß er endlich vollkommen verdrängt wurde, daß man einen anderen Streckenzug wählte, als er vorgeschlagen hatte, und daß bei der Eröffnung der Bahn niemand mehr an ihn dachte. Die Auszeichnungen und öffentlichen Belobigungen erhielten andere Ausschußmitglieder; List war schon an diesen Festtagen in Leipzig völlig vergessen.
Welch eine große Seele man hier schmachvoll mißhandelt hat, zeigt am besten die Tatsache, daß List trotzdem nicht davon abstand, weiter für den Ausbau von Eisenbahnen in Deutschland zu wirken, weil er sie als notwendig für sein Vaterland erachtete. Er ging zunächst nach Berlin, um vom König von Preußen die Genehmigung für eine Bahn von dort nach Magdeburg und nach Leipzig zu erlangen. Es kam zu keinem Ergebnis, insbesondere weil auch in Berlin, wo man List zunächst sehr freundlich aufgenommen hatte, bald eine Erkaltung der Gefühle ihm gegenüber eintrat. Man hatte sich in Leipzig nach seiner Person erkundigt, und Gustav Harkort stand nicht an, den Mann, der ihn bei der Eisenbahngesellschaft doch erst in den Sattel gesetzt hatte, zu verleumden, ihn als phantastisch und unzuverlässig zu bezeichnen, von den „extravaganten Plänen des Herrn List“ zu sprechen.
Diesen beschäftigte nach dem neuen Mißerfolg die Anlage einer großen Eisenbahnstrecke von Frankfurt nach Basel, wobei er jedoch auch nichts zu erreichen vermochte, da die beteiligten Staaten die Linie selbst anzulegen gedachten.
All das konnte auch jetzt noch Lists eifrigste Tätigkeit für die Ausbreitung des Eisenbahngedankens nicht hemmen. Im Jahre 1835 gründete er eine eigene Zeitschrift, das „Eisenbahn-Journal“, dessen Zweck er selbst folgendermaßen darstellte:
„Die Vorbereitung eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems ist ein Hauptzweck des Blattes, und die Redaktion wird sich daher besonders bestreben, richtige Ansichten über den Nutzen der Eisenbahn, über die zweckmäßigste Bauart derselben und über die Richtung der Hauptrouten zu vertreten. Sie wird die Verhältnisse der einzelnen Routen mit Rücksicht auf ihren Verkehr, ihre Lokalität und ihre Anlage- und Transportkosten und folglich ihre Ertragsfähigkeit beleuchten und denen, die sich für dergleichen Unternehmungen interessieren, mit gutem Rat beistehen. Auch wird sie sich angelegen sein lassen, das deutsche Publikum über Bewegungen und Fortschritte, welche in dieser Beziehung in dem In- und Ausland stattfinden, in fortlaufender Kenntnis zu erhalten.“
Die uneigennützige Arbeit des unermüdlichen Manns für die ihm so wichtig erscheinende Ausbreitung der Eisenbahnen geht also fort. Wirklich hat das Blatt die Gemüter im Listschen Sinn weiter stark beeinflußt und aufgerüttelt. Das unmittelbare Ergebnis aber war, daß das „Eisenbahn-Journal“ schon im Jahre 1837 in Österreich, wo es sehr viele Leser besaß, verboten wurde und deshalb eingehen mußte.
Jetzt verlegte List seine Tätigkeit nach Frankreich. Doch auch hier konnte er nichts Rechtes erreichen, weil man in Frankreich zu jener Zeit die Eisenbahnaktien als geeignete Gegenstände für das Börsenspiel ansah, wodurch der Gegenstand für List nicht mehr verlockend war.
Als er nach Deutschland zurückkehrte, erhielt er davon Kenntnis, daß die geplante Linie von Halle nach Kassel eine Richtung bekommen sollte, die sehr dazu geeignet war, das Gedeihen der thüringischen Länder zu schädigen. Sofort wies er in der ihm eigenen tatkräftigen Art nach, daß es wichtiger sei, Städte wie Eisenach, Gotha, Erfurt und Weimar zu berühren, als eine kürzere Linie unter Vermeidung der alten thüringischen Landesstraße zu schaffen. Wirklich setzte er eine Abänderung der Linienführung in seinem Sinn durch. Zum Dank erhielt er nichts als ein Geschenk von 100 Louisdor für diese Tätigkeit, die, wie man anerkannte, die thüringischen Staaten „von tödlicher Gefahr gerettet hatte“.
Auch in Bayern, wo man jetzt recht lebhaft an den weiteren Ausbau der Eisenbahnen ging, bot List seine Dienste an, überall stellte er seine großen Erfahrungen auf diesem Gebiet zur Verfügung. Er wurde viel befragt, leistete überall Hilfe, aber nirgends kam es zu einer Anstellung, die er nun recht gern gehabt hätte.
Es bemächtigt sich Lists allmählich eine tiefe Verstimmung über den Undank der Welt. Bevor jedoch die Trübsal allzusehr Herr über seinen Geist werden konnte, schuf er noch sein größtes volkswirtschaftliches Werk, das „Nationale System der politischen Ökonomie“. Es erschien 1841 und hat ihn als Volkswirtschaftler unsterblich gemacht.
Ein mit Arbeit bis zum Rand angefülltes Leben hatte List nicht zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Die Sorge um seinen Lebensunterhalt wurde vielmehr immer ärger. Es gesellten sich körperliche Leiden hinzu, die ihn befürchten ließen, daß er bald überhaupt nicht mehr imstande sein würde, geistig zu arbeiten. Immer deutlicher sah der rasch Alternde ein, daß sein Streben für Deutschlands Größe ihm nichts anderes gebracht hatte, als den Verlust seines Vermögens und die Unmöglichkeit des Vorwärtskommens. In einem Brief aus jener Zeit macht er eine recht trübselige Zusammenstellung:
„Als ich im Jahr 1831 aus Amerika zurückkam, hatte ich mir wieder ein unabhängiges Vermögen erworben. Durch mein Bestreben, den Eisenbahnbau und eine nationale Handelspolitik emporzubringen, glaubte ich mich um mein Vaterland verdient zu machen und mich wenigstens bei meinem Vermögen erhalten zu können. Mein Lohn aber war Verfolgung und der Verlust eines großen Teils meines Vermögens.
„Jetzt den Sechzigern nahe und von körperlichen Übeln heimgesucht, sehe ich nur mit Besorgnis in die Zukunft, ja ich traue mir nicht einmal mehr die Kraft zu, zum zweiten Male nach Nordamerika auszuwandern, wohin mich meine dortigen Freunde rufen, und wo ich leicht in einigen Jahren mich wieder erholen könnte.“
Es ist zu einer neuen Übersiedlung nach Amerika wirklich nicht mehr gekommen. Als List, von Kopfschmerzen und anderen Leiden gequält, eine Reise nach Meran antrat, gelangte er nur bis Kufstein. Dort brach er körperlich zusammen, und eines Tags, am 30. November 1846, fand man seine Leiche halb verweht im Schnee. Er hatte sich erschossen.
Im äußersten Winkel des großen Deutschen Reichs, für das sein Herz sein Leben lang geschlagen hatte, mußte dieser Mann verlassen und verzweifelt ein trauriges Ende finden. Er hat einen echten Märtyrertod erlitten.
„Armer Freund,“ so rief ihm Heinrich Laube ins Grab nach, „ein ganzes Land konntest du beglücken, aber dies Land konnte dir nicht einen Acker Erde, konnte dir nicht ein warmes Haus geben für die traurige Winterzeit des Alters! Dieser Fluch des zerrissenen Vaterlands, in welchem man so kinderleicht heimatlos werden kann, in welchem das Genie selbst niemand angehören darf, dieser Fluch hat dich im Schneesturme oberhalb Kufsteins in den Tod gejagt, und unsere Tränen, unsere Lorbeerkränze, was sind sie deiner verwaisten Familie?!“ —
Die Strecke Leipzig-Dresden war nach Lists Fortgang aus seinem Wirkungsort weiter gebaut worden. Wie schon angedeutet, hatte man die von dem geistigen Urheber vorgeschlagene Linienführung verworfen und, nach dem Rat eines englischen Fachmanns, die von dem Oberingenieur Kunz empfohlene Strecke ausgeführt. Diese erforderte eine schwierige Überschreitung der Elbe und viele andere Kunstbauten, wodurch sehr große Ausgaben entstanden. Auch den Rat Lists hatte man verworfen, zunächst möglichst billig zu bauen, um später, wenn das Unternehmen selbst schon Ertrag abgeworfen hätte, einen teureren Unterbau auszuführen. So kam es, daß das Aktienkapital unter großen Schwierigkeiten von 11⁄2 auf 41⁄2 Millionen Mark erhöht, also verdreifacht werden mußte.
Von Leipzig bis Wurzen wurde der Bau mit Flacheisen auf Langschwellen nach der auf wiedergegebenen Form ausgeführt. Diese Bauart bewährte sich jedoch so schlecht, daß man bereits für die Fortsetzung zu schwereren Schienen in der Breitfußform nach Vignoles überging. Auch die Anfangsstrecke mußte nach 31⁄2 Jahren für diese Schienen umgebaut werden, da damals bereits alle Langschwellen verfault waren. Die Hauptkunstbauten auf der Strecke waren der tiefe Einschnitt von Machern, die Elbbrücke bei Riesa, die Talüberbrückung bei Röderau und der Tunnel bei Oberau. Dies war der erste Tunnelbau in Deutschland. Seine Länge betrug nur 500 Meter.
Am 24. April 1837 war das Teilstück von Leipzig bis Althen fertiggestellt. Erst am 8. April 1839, später als andere durch sie veranlaßte deutsche Linien, wurde die ganze Strecke unter lebhafter Teilnahme der Bevölkerung eröffnet. Sie hatte eine Länge von 115 Kilometern. Im Anfang fuhren täglich nur zwei Personen- und zwei Güterzüge zwischen Dresden und Leipzig hin und her.
Dennoch trug die Linie zur Belebung des gesamten Verkehrs in Mitteldeutschland sehr lebhaft bei und zog die Ausführung anderer Eisenbahnstrecken unmittelbar nach sich. Die Dresdner Gasthöfe, die im Jahre 1838 nur 7000 Fremde beherbergten, hatten im genannten Eröffnungsjahr bereits mehr als 40 000 Gäste aufzunehmen. Auch der Güterverkehr entwickelte sich bald sehr lebhaft.
Die Fahrgäste der dritten Klasse wurden in offenen Wagen befördert, die der zweiten in solchen mit einem Dach, aber ohne Fenster; nur wer eine Fahrkarte erster Klasse gelöst hatte, durfte in einem gänzlich geschlossenen Wagen Platz nehmen. Es kamen auch große offene Güterwagen zur Verwendung, auf welche die Fuhrleute ohne weiteres mit ihren Pferden hinauffuhren, ohne diese auszuspannen. So gelang es der Eisenbahn recht rasch, auch die Lastenförderung auf der Straße an sich zu ziehen, da die Zeitersparnis außerordentlich war und die Kosten der Fahrt kaum mehr betrugen als die Abgaben, die beim Vorbeifahren an den vielen Schlagbäumen zwischen Leipzig und Dresden zu entrichten waren.