Читать книгу Comanchen Mond Band 2 - G. D. Brademann - Страница 12

7. Kapitel

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Summer-Rain erreichte auf ihrem Pony die ersten Tipis. Sie brauchte, genau wie Storm-Rider, nur Augenblicke, um ihre Leute zu mobilisieren. Sie waren bereits von dem ersten Kanonendonner aufgeschreckt worden. Allein dieser Einschlag in der Nähe der ersten drei Tipis hatte seine Wirkung auf alle anderen nicht verfehlt. Weiter flussaufwärts rissen Frauen bereits ihre Tipis nieder, rollten Büffelhäute zusammen, warfen hektisch Sachen auf Decken und ergriffen die Flucht. Alles war in Bewegung.

Storm-Rider schickte Späher aus, während schon die ersten beladenen Travois in Richtung Felsendurchgang unterwegs waren. Kinder griffen sich wahllos Pferde, die bis eben noch grasend in der Nähe gestanden hatten. Die Besitzverhältnisse waren egal. In Windeseile beluden sie sie mit ihren Habseligkeiten. Um ein Tipi abzubauen, brauchte eine darin geübte Frau nicht lange. Wenn ein Weißer die Zeit gestoppt hätte, wäre er auf 15-18 Minuten gekommen. Den Haushalt brachten sie in eigens dafür vorgesehenen Ledertaschen unter. Alles, was sie greifen konnten, kam dort hinein oder wurde in sämtliche Lücken des Travois gestopft. Was wie ein heilloses Durcheinander aussah, entsprang langer Übung. Kleinkinder hingen bereits in Tragewiegen sicher verstaut an der Seite der Pferde. Die letzten Behältnisse mit Vorräten und frischen Nahrungsmitteln warfen Frauen im Laufen noch den größeren Kindern zu, die sich damit auf ihre Ponys hievten. Unnütze Gegenstände blieben zurück.

Das kleine Völkchen rannte, ritt, trug, was es nur konnte, von ihren Heimstätten am Fluss zum Hauptweg hinüber, um von dort aus den Durchgang zwischen dem Canyon und dem Geröllfeld zu erreichen. Schon verschwanden die ersten Flüchtenden dort hindurch, fürsorglich sich nach den Nachfolgenden umblickend. Wenn es nur irgend ging, würde niemand zurückgelassen werden. Das alles geschah ohne Zutun der Krieger, die ihre Waffen geholt hatten und sich vor dem Geröllfeld sammelten. Manch eine Mutter rief laut nach ihren Kindern, die sich – aufgeregt durch das hektische Treiben – etwas entfernt hatten. Wo Hilfe gebraucht wurde, unterstützten sich die Frauen untereinander, griffen dort nach einem Halfter, halfen hier einer Nachbarin beim Befestigen ihres Travois. Oft fand sich ein Kind plötzlich auf dem Pony neben einem Freund, während die eigene Mutter noch nach ihm Ausschau hielt. Junge Mädchen hielten die Pferde fest, dirigierten ihre Geschwister auf zusätzliche Ponys und halfen ihren Müttern. Die halbwüchsigen Jungen ritten zur Pferdeherde hinüber und kamen mit Mustangs im Schlepp wieder zurück.

Währenddessen donnerten bereits die ersten Pferde der großen Herde durch den Canyon. An ihrer Seite ritten die Pferdejungen und weitere die Herde betreuende Männer. Wie sie es schafften, diese gewaltige Anzahl – etwa 700 – heil und geordnet durch den Canyon zu bringen, blieb ihr Geheimnis. Zwei der Männer, die sich auch sonst immer um die Herde kümmerten, kamen mit etwa 20 Mustangs über den Fluss geritten, um sie noch zusätzlich an die Frauen zu verteilen. Es waren Arrow-Head und Raven-Feather, die Haare von der Sonne ausgebleicht, hochgewachsen und von dem Leben in den Plains fast so dunkel wie Comanchen. Kurz darauf preschte auch der Rest der Herde zusammen mit ihnen durch den Canyon hinaus in die Weite.

Sie waren die Götter der Pferde – sie waren Comanchen.

Die den Frauen zugetriebenen Pferde wurden in fliegender Hast beladen. Kleine Kinder – kaum, dass sie laufen konnten – wussten schon ganz genau, was man von ihnen erwartete. Von den älteren Geschwistern unterstützt, hievten sie sich auf die Pferderücken. Summer-Rain kam denen zu Hilfe, die Hilfe brauchten, und ritt eilig von Tipi zu Tipi den Fluss entlang. Sie belud Travois und reichte kleine Kinder, die auf unerklärliche Weise von ihren Müttern getrennt worden waren, in die tröstenden Arme irgendwelcher Verwandte, brachte Nachrichten hin und her. Es wurde nicht laut geschrien, kein unnützer Lärm gemacht, keine Hektik verbreitet. Immer mehr Menschen kamen von flussabwärts, schließlich hatten die Tipis den gesamten Flussabschnitt entlang gestanden. Wer zu viel Hausrat zurücklassen musste, bekam ihn später von der Gemeinschaft ersetzt. Summer-Rain hatte ihre beiden Ersatzpferde bereits abgegeben, so dass damit zwei Travois beladen werden konnten. Das aufgelöste Lager kam im Eiltempo den ausgetretenen Hauptweg entlang. Schützende Bäume hatten sie bisher vor den Augen der Angreifer abgeschirmt.

Drei alte Männer wurden kurzerhand, ohne ihren Protest zu beachten, auf die Travois ihrer Familien gehievt. Sie alle waren geliebte Großväter, einer sogar ein Urgroßvater, die niemand als leichte Beute für die Soldaten zurücklassen wollte – schon gar nicht ihre Enkelkinder. Das alles schafften die Frauen ganz ohne männliche Hilfe. Es war ihre Aufgabe, denn die Krieger hatten anderes zu tun. Bereits als die ersten Tipis zusammenfielen, die ersten Stangen aus dem Boden gerissen wurden, griffen sie zu den Waffen und ritten auf ihren besten Kriegsponys zum Geröllfeld. Für solche Fälle hatte Red-Eagle, der bisher ihr Kriegshäuptling gewesen war, schon bei ihrem Eintreffen hier im Sommerlager Anordnungen getroffen. Jeder wusste also, was er zu tun hatte. Das waren Dinge, die notwendig waren und in die sich jeder bedingungslos fügte. Die Mustangs der Krieger tänzelten unruhig; sie wussten, was vorging. Gut ausgebildet, waren sie begierig auf den kommenden Kampf. In der kurzen Zeit, in der sich die Reiter versammelten, sah so mancher von ihnen von seinem Standplatz aus die eigene Familie flüchten. Erleichtert atmeten sie auf, wenn sie sahen, wie sie mit dem gesamten Hausrat samt Kindern den Durchgang passierten. Sie würden sich mit ihrem eigenen Leben dafür einsetzen, dass sie auch weiter in Sicherheit blieben. Die Krieger, von denen einige gerade einmal fünfzehn, sechzehn Winter zählten, ritten vor dem Geröllfeld auf und ab. Niemand von ihnen wusste, wie stark der Feind, der stetig den Fluss heraufkam, wirklich war. Sie verließen sich auf Storm-Rider. Wie selbstverständlich hatten sie alle seine Anweisungen befolgt. Flüssig, ohne zu zögern oder Unsicherheit zu zeigen, hatte er ihnen gesagt, was zu tun war. Nicht einmal absichtlich – es hatte sich einfach so ergeben.

Jetzt warteten sie hier auf ihn. Die Späher, die er gleich am Beginn des Beschusses ausgeschickt hatte, waren soeben zurückgekehrt. Red-Eagle wandte sich halb zu den Kriegern um, musterte ihre versteinerten Gesichter, die mit keiner Regung anzeigten, was sie dachten. Doch es war offensichtlich, dass sie nach seinem Sohn Ausschau hielten. Unsicher streifte sein Blick Old-Antelope, ihren betagten Häuptling, dann Great-Mountain, der sich ebenfalls auf seinem Kriegspferd eingefunden hatte, und blieb schließlich bei Storm-Rider hängen, der eben herangeritten kam.

Die vom Signalhorn ausgestoßenen grellen Töne, dieses Hoch und Runter, konnten sie bis hierher hören. Ruhig, nur ruhig, bedeutete ihnen Storm-Rider mit einer Hand und glitt von seinem Mustang, um die Meldung der unberittenen Späher entgegenzunehmen. Einschläge, noch weit weg, aber stetig näherkommend, kündeten von einem Angriff auf ihr Zuhause.

Grey-Wolf, der fürsorglich die Pferde und die Waffen der Späher mitgebracht hatte, übergab sie ihnen, ohne etwas zu sagen. Mochte er auch manchmal übermütig wie ein Kind sein – er war ein umsichtiger, weitsichtiger Mann. Die Späher ordneten sich in die Reihe der Krieger ein. Storm-Rider schwang sich in den Sattel seines Lieblingspferdes Summer-Wind. In der Armbeuge hielt er Summer-Rains Winchester, geladen mit 17 Patronen. Stumm blickten sich Vater und Sohn einen Herzschlag lang an – Gedankenübertragung. Red-Eagle nickte zuerst ihm und dann den Kriegern zu. Na los, schien er zu sagen; es ist gut so. Die Männer hatten beide nicht aus den Augen gelassen. Jeder Einzelne von ihnen traf seine Wahl – im Hinterkopf die Gefahr, die immer näher kam. Niemand brauchte noch zu überlegen, es war längst entschieden. Dann ritt der älteste der Krieger zu Storm-Rider hinüber. Weitere folgten, bis sich schließlich fast alle neben ihm auf ihren Kriegsponys einfanden. Drei zögerten noch, Icy-Wind unter ihnen; doch auch sie lösten sich nur Augenblicke später aus ihrer Starre und ritten an Storm-Riders Seite. Red-Eagle kam als Letzter. Er zog sich den Riemen, an dem die Kriegspfeife hing, über den Kopf, um damit zu zeigen, dass er die Verantwortung für die Antilopenbande an seinen Sohn weitergab. Und so war es beschlossen. Die Würde des Kriegshäuptlings war auf Storm-Rider übergegangen. Das alles hatte nicht lange gedauert.

Ein zufriedenes Murmeln hing in der Luft. Dieser Mann auf seinem Schimmelhengst hatte ihr Vertrauen. Sie würden ihm folgen, seinen Befehlen gehorchen. Solange dieser Kampf dauerte, war keiner von ihnen mehr ein Einzelkämpfer. Storm-Rider hatten sie zu ihrem Anführer gemacht, weil er schon immer jemand war, der die Bewunderung aller auf sich zog – der mit seinem starken Charakter und seinen Führungsqualitäten nicht nur die jungen Männer mit sich reißen konnte. Auch die älteren Krieger blickten zu ihm auf. Manch einer wünschte sich, einen Sohn wie ihn zu haben oder einen Schwiegersohn. Storm-Rider war ein Mann, wie ein Mann sein sollte, trotz seiner Jugend oder der Geschichten, die man sonst noch über ihn wusste. Jetzt spielte das keine Rolle mehr. Durch sein umsichtiges Handeln hier und jetzt hatte er seine Fähigkeiten längst bewiesen.

Wie als wäre das schon immer sein Platz gewesen, ritt er vor die Männer. Während der Zeit, die das dauerte, hatte er schon einen Plan entwickelt. Ohne das vor ihnen liegende Gelände noch einmal betrachten zu müssen, wusste er, was zu tun war. In seinem Kopf stand die Schlachtordnung fest – wo und wie sie angreifen mussten und wo die Schwächen des Feindes lagen. Die große Pferdeherde, ihr ganzer Stolz und ihre Lebensgrundlage, befand sich in Sicherheit, dafür hatte er bereits gesorgt. Das Geräusch der Hufe auf den Gesteinsplatten des Canyons – dort, wo das Wasser des Flusses an den Seiten darüberströmte – war das einzige Geräusch, das man noch von ihnen hörte.

Der junge Kriegshäuptling war sich durchaus seiner Verantwortung bewusst. Rasch ritt er die Reihe seine Männer ab, jeden mit einem prüfenden Blick musternd. Diese Zeit musste sein. Erst wenn er wusste, dass wirklich alle hinter ihm standen, konnte auch er ihnen voll vertrauen. Auf seinem nackten Rücken wippte der Köcher mit dem bereits eingehakten Bogen. Summer-Rains Winchester steckte jetzt griffbereit an der Seite von Summer-Wind. Die dazugehörige Patronentasche hing ihm über der Brust. Er hatte es vorhin überprüft. 17 Patronen passten hinein. Erst nach 17 Schüssen würde er nachladen müssen. Neben dem Köcher ragte der Griff des scharf geschliffenen Schlachtbeils auf seinem Rücken hervor. Er hatte das bei Icy-Wind gesehen. Wenn er unter dem Bauch seines Mustangs hindurch musste, war das praktischer, als das große Schlachtbeil im Gürtel zu tragen.

Nach dem raschen Vorbeiritt an seinen Männern hielt Summer-Wind. Wie aus Stein gemeißelt stand das treue Tier völlig still. Alle Kriegsponys ignorierten den Pulverqualm, der vom Fluss heraufwehte, ignorierten die näherkommenden Einschüsse, den Aufbruch des Volkes. Ja, sogar die ihnen völlig unbekannten schrillen Töne der Trompete. Jedes von ihnen wusste, was ihm abverlangt werden würde, noch bevor sein Reiter ihm ein Zeichen gab. Mann und Pferd bildeten eine vollkommene Einheit. Nicht umsonst verbrachten sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen.

Storm-Riders offene Haare flatterten im aufkommenden Wind. Genau wie die anderen Krieger trug er keinerlei Kriegsbemalung, keinen Schmuck – auch die Pferde nicht. An ihren Lanzen, wenn sie denn Zeit gehabt hatten, sie aus ihren Verstecken zu holen, wehten keine Skalps. Sie vertrauten einzig und allein auf ihre Medizin. Jeder von ihnen hatte seinen Tiergeist angerufen, um Unterstützung gebeten und – sollte er sterben – um eine freundliche Aufnahme. Jetzt blickten sie zu Storm-Rider und warteten auf sein Zeichen. Was auch immer er von ihnen verlangte, sie waren bereit, es zu tun.

Der junge Häuptling ließ Summer-Wind, sein liebstes Kriegspony, neben dem seines Vaters halten.

Stumm griff er hinüber nach der Hand seines Vaters und drückte sie kurz. Dann beugte er sich nach vorn zu Summer-Wind, löste den Zügel vom Halfter und ließ ihn auf den Boden gleiten. So würde er die Hände zum Kämpfen frei haben. Andere folgten seinem Beispiel. Sich im Sattel zu seiner vollen Größe aufrichtend, drückte er seinen Oberkörper durch, griff über den Rücken und riss sein Schlachtbeil mit einem einzigen Ruck aus der Halterung. Mit der anderen Hand führte er die Kriegspfeife an die Lippen. Der schrille Laut vermischte sich mit dem Schmettern der Trompete, wurde eins mit ihm, verklang. Noch einmal und noch einmal, aber jetzt allein die Luft zerteilend, unüberhörbar das Donnern der Kanonen überlagernd. Die Mustangs schnaubten aufgeregt, und ihre Köpfe flogen in die Höhe. Den Klang der Kriegspfeife kannten sie, waren vertraut mit jedem Signal und kaum noch zu halten. Im nächsten Moment, aus dem Stand heraus, preschten sie in einer einzigen Formation los. Und so führte Storm-Rider sie mitten hinein in die Reihen der Feinde.

Es waren ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Großväter und -mütter, ihre Familien, die sie bereit waren, mit ihrem Leben zu beschützen. Manch eine Frau, die zu ihrem Ehemann schaute, war stolz und gleichzeitig wurde ihr weh ums Herz. Würde er noch hier sein, wenn alles vorbei war? Jedem der flüchtenden Comanchen war klar, um was es hier ging. Das Leben der Krieger – der Preis für das ihre.

Ein Ton aus der Kriegspfeife, und die Formation der Pferde löste sich auf. Vier Herzschläge später stießen sie in die Reihen der Angreifer – wie ein Raubvogel auf seine Beute. Für die Soldaten völlig überraschend, zerteilten sie deren Reihen, brachten sie durcheinander und waren wieder verschwunden. Dann kamen sie zurück. Wie der Flügelschlag eines Adlers fächerte sich die Formation in einer einzigen fließenden Bewegung zu einem umgekehrten V. Sich wie in einer Umarmung hinter der überraschten Kavallerie schließend, hinterließen sie einen ungefähren Eindruck, was es bedeutete, sich mit Comanchen-Kriegern anzulegen. Der Wind hätte nicht schneller sein können.

Das Schlachtfeld vor sich im Blick, gab Storm-Rider das nächste Zeichen. Den Rückzug ihrer Familien zu schützen, das war ihre vorrangige Aufgabe. Hier ging es nicht um Töten oder Skalps – nicht um Ruhm, nicht um Ehre. Es ging um das Überleben ihres Volkes. Wie ein Sturm, der über die Ebene fegt, kamen sie über die Soldaten. Ihr Ziel war es, den Feind aufzuhalten. Und das taten sie. Mit waghalsigen Wendemanövern und todesverachtenden Einsätzen verhinderten sie immer wieder, dass der ihnen zahlenmäßig weit überlegene Feind vorrücken konnte.

Die Lippen fest aufeinandergepresst, ihre Angst niederkämpfend, hatte Summer-Rain endlich Großmutter gefunden. Jetzt war alles gut. Aufatmend rutschte sie von ihrem Pony. Überall herrschte hektisches Treiben. Immer noch trieben Frauen ihre beladenen Pferde mit den Travois im Schlepp durch den Felsenüberhang zwischen dem Geröllfeld und dem Canyon. Jetzt waren sie am verwundbarsten. Niemand schaute zurück – auch Summer-Rain nicht. Sie eilte auf Großmutter zu, umarmte die alte Frau und lehnte sich an ihre schmale, knorrige Schulter. Kurz dachte sie an Storm-Rider, sah ihn wieder vor sich, sah, wie er auf sie zukam. Seinen ihr so vertrauten Gang, die Art, wie er den Kopf hob, sein schiefes Lächeln – alles. Sie hätte ihn aus Tausenden herausgefunden.

Großmutter, dachte sie und fühlte ihre Knochen durch das Kleid. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, als sie bemerkte, wie die alte Frau zitterte. Dark-Night fiel ihr ein. Sie hatte sie bisher nicht finden können, auch Dream-In-The-Day nicht. Wo waren ihre beiden Freundinnen? Lebte Dark-Night überhaupt noch? Großmutter musste es wissen. Bevor sie sie jedoch fragen konnte, hörte sie die Männer auf ihren Kriegsponys herandonnern. Sie erkannte Gray-Wolf, Red-Eagle, Icy-Wind – sogar Great-Mountain und Old-Antelope. Dann ihren Bruder Light-Cloud. Er musste verletzt sein, registrierte sie erschrocken, denn er trug einen Verband um den Oberkörper und hielt sich seltsam gebeugt auf seinem Mustang. Da tauchte Storm-Rider in ihrem Blickfeld auf. Der Wind griff in seine Haare. Sie konnte nicht hören, was er rief, doch der Klang seiner Stimme griff ihr ans Herz – als gelte es, daraus zwei Hälften zu machen. Der Schmerz traf sie völlig unvorbereitet. Im nächsten Augenblick waren die Krieger vorbei.

Summer-Rain stand wie erstarrt, merkte nicht einmal, dass jemand ihren Namen rief. Es war Großmutter, die auf sie einredete. „Summer-Rain, Summer-Rain, mein Kind, mein Liebling, mein Alles. Du bist da, du bist wirklich da!“ Außer Atem schob sie sie vor sich her. „Alle haben mir schon gesagt, dass du zurück bist“ – sich unterbrechend – zeigte sie aufgeregt auf eine kleine Baumgruppe in einer flachen Mulde vor einem der Hügel. „Dream-In-The-Day bekommt ihr Baby. Ausgerechnet jetzt. Komm, du musst mir helfen!“ Das war alles, was sie hervorbrachte.

Doch Summer-Rain verstand sofort, was sie meinte, und eilte, ihr Pferd am Halfter, hinter ihr her. Die Baumgruppe bestand aus dichtem Haselnussgesträuch und bot ausreichend Schutz. Dream-In-The-Day lehnte an einem dahinter aufragenden Eichenstamm. Neben ihr kniete Dark-Night, die ihr Gesicht jetzt den Ankommenden zuwandte. Erschrocken über ihren Anblick wollte Summer-Rain zuerst Fragen stellen, unterließ es dann aber. Es war unverkennbar: Jemand hatte der kleinen Mexikanerin die Hälfte ihrer Nase abgeschnitten.

„Warum seid ihr nicht längst fort?“, war alles, was sie sagen konnte. Eben noch musste sie verarbeiten, dass ihre beste Freundin hochschwanger war – und dann das. Dark-Night, die ihren Blick wohl bemerkt hatte, zog sich die heruntergerutschte grüne Binde wieder über die Nase. Ihre schwarzen Augen musterten sie etwas erstaunt. Sie hatte sie hier nicht erwartet. Summer-Rain schluckte bei ihrem Anblick unwillkürlich – so verhärmt und hohlwangig sah Dark-Night aus. Es war ein ungewohnter Anblick; als sie sie verlassen hatte, war sie noch eine Schönheit gewesen. Was war passiert? Inzwischen hatte sich Dark-Nights Blick verändert. Jetzt lächelte sie Summer-Rain freundlich an. Dann beantwortete sie ihre Frage. „Ging nicht mehr. Dream-In-The-Day hatte bereits schlimme Wehen, während wir ihr Tipi abrissen.“

Das Lächeln verschönte ihr eingefallenes Gesicht auf wunderbare Weise. „Du weißt es sicherlich noch nicht, Schwägerin“, meinte sie, das letzte Wort besonders betonend. „Ich bin jetzt Light-Clouds Ehefrau.“ Sie zeigte in die Richtung, in die die Krieger geritten waren. „Hast du ihn gesehen? Ich musste ihm einen dicken Verband anlegen, denn er wollte unbedingt mit den Kriegern reiten. Du kennst ja unseren Light-Cloud!“

Großmutter warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Als ob sie nichts Wichtigeres zu tun hätten, als über solche Dinge zu plaudern, sollte das wohl heißen. Vielleicht wollte sie aber auch nur nicht, dass Summer-Rain sich Sorgen machte.

Das Mädchen drehte sich zu Dream-In-The-Day um, die unter Stöhnen die nächste Wehe wegatmete.

„Und wer, bitte schön, ist dein Ehemann? Ich scheine ja ziemlich viel verpasst zu haben!“ Damit zeigte sie auf den hochgewölbten Bauch der Freundin.

Dream-In-The-Day lächelte schief. Natürlich, Summer-Rain konnte das ja nicht wissen. „Gray-Wolf ist mein Ehemann, Summer-Rain“, sagte sie sichtlich stolz.

„Weiß er, dass du hier bist und euer Kind bekommst?“

Großmutter und Dark-Night wechselten einen wissenden Blick.

„Weiß er nicht“, presste Dream-In-The-Day hervor, nach Atem ringend. „Muss er auch nicht, ich komme schon klar. Das hier ist Frauensache, da hat ein Mann nichts zu suchen.“

Wie zur Bekräftigung ihrer Worte deutete Großmutter mit einer knappen Kopfbewegung unter einen der Haselnusssträucher. Dort kauerten zwei Frauen, die Summer-Rain erst jetzt bemerkte. Die eine war Dream-In-The-Days Mutter und die andere, eine etwas ältere, die von Gray-Wolf. Innerlich stöhnte Summer-Rain auf. Auch das noch! Einen Blick auf ihr Pferd werfend, wandte sie sich ihnen zu. „Ihr beiden“, unmissverständlich wies sie mit dem Finger. „Ihr nehmt jetzt sofort mein Pferd und reitet hinter den anderen her.“

Weiter kam sie nicht, denn Gray-Wolfs Mutter richtete sich kerzengerade auf. Hinter ihren Rücken langend, holte sie ein ziemlich mitgenommen aussehendes Gewehr hervor. Eine Munitionstasche hing an ihrem Gürtel; sie fingerte darin herum, dann ergriff sie eine Handvoll Munition und schüttelte sie Summer-Rain entgegen. „Ich gehe nirgendwohin, ich kann meine Tochter beschützen!“ Entschlossen hielt sie die Waffe hoch, um sie dem Mädchen zu zeigen.

Einen Moment lang war Summer-Rain sprachlos angesichts so viel Dummheit, dann stieß sie wütend hervor:

„Wem willst du denn damit Angst einjagen?“

Die Frau blickte zuerst auf ihre Waffe, dann auf Summer-Rain. „Wie meinst du das?“

Wieder hielt sie ihr die Waffe entgegen, jedoch schon etwas unsicherer. Ihr bei einem Jagdunfall verunglückter Mann hatte sie immer in Ehren gehalten. Es musste eine gute Waffe sein!

Ungehalten schüttelte Summer-Rain den Kopf. Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. „Steigt auf mein Pferd, alle beide“, forderte sie erneut, diesmal lauter. „Das Gewehr ist so alt, dass du daraus keinen einzigen Schuss mehr abfeuern kannst. Außerdem gehört die Munition, die du da hast, nicht zu diesem Gewehr.“ Noch während sie das sagte, war sie dem alten Trapper dafür dankbar, ihr so viel über Waffen beigebracht zu haben. „Großmutter und ich“, fuhr sie fort, „wir werden uns um Dream-In-The-Day kümmern. So, wie es jetzt aussieht, kann deine Tochter nicht einmal mehr auf einem Travois reisen, was wir im Übrigen auch gar nicht hier haben. Und reiten geht erst recht nicht. Wir müssen hier bleiben. Je weniger wir sind, umso leichter finden wir einen Ort, an dem wir vor den Soldaten sicher sind.“ Ihr Ton war jetzt milder. Sie hatte durchaus Verständnis für die beiden besorgten Mütter. Energisch griff sie nach dem Arm der älteren Frau und schob sie auf ihr Pferd zu. Die jüngere, die bisher ruhig geblieben war, legte ihre Hand auf den Rist des Ponys. „Ist schon gut – komm, hör auf sie. Dein Sohn würde das auch so wollen!“ Sich nach einem Bündel, das zusammengezurrt vor ihr lag, bückend, wuchtete sie es über den Rücken des Pferdes. Während sie es mit flinken Händen so befestigte, dass noch Platz für sie beide blieb, half Summer-Rain ihr dabei.

Flüchtig musterte die Frau das Fell, das darauf lag, während ihnen Dark-Night ein weiteres Bündel reichte. Die Miene der kleinen Mexikanerin bedeutete nichts Gutes – hatte sie Summer-Rains Worte doch gehört. Sie und Großmutter würden sich um Dream-In-The-Day kümmern? Schließlich war sie ja auch noch da!

„Dark-Night kann sich den Nachzüglern anschließen“, kam es auch schon prompt von Summer-Rain. „Jemand wird sie schon mit auf sein Pferd nehmen“, kommandierte sie mit energischem Ton.

„Du hast mir gar nichts zu sagen“, schnappte Dark-Night und stemmte beide Fäuste in die Seiten. In ihren kugelrunden schwarzen Augen blitzte es drohend auf.

Summer-Rain betrachtete sie nur kurz; dann kam sie zu dem Schluss, dass es besser war, sich nicht mit ihr anzulegen. „Also gut, wenn du darauf bestehst, dann bleib eben.“

Großmutter verzog den Mund; sie hatte nichts anderes erwartet. Diese beiden würden sich nichts schenken.

Zufrieden trat Dark-Night zu Dream-In-The-Days Mutter und half ihr beim Aufsteigen. „Ich weiß ein gutes Versteck“, sagte sie dabei mit ihrer angenehmen, melodischen Stimme, ohne sich den Ärger von eben noch anmerken zu lassen. „Dort wird deine Tochter sicher sein, bis das Baby da ist. Da oben, in den Höhlen zwischen den Felsen, wird uns niemand finden.“ Kurz zögerte sie – dann, an alle gewandt: „Ich kenne mich dort aus. Lasst mich euch die Höhle zeigen, wo wir am unsichtbarsten sind. Hier jedenfalls können wir nicht mehr bleiben.“

Großmutter kniff die Lippen ein wenig boshaft zusammen. Wie gut sie sich da oben auskannte, war schließlich zur Genüge bekannt. „Wir kommen nach“, meinte sie jedoch nur, an die beiden Frauen auf dem Pferd gewandt. Dann betrachtete sie ihre Nichte, die mit der Hand leicht über das Fell strich, und ihr wurde klar, wie viel inzwischen geschehen sein musste. Ihre Augen begegneten sich – sie würden einander eine Menge zu erzählen haben.

Dream-In-The-Day blickte den beiden sich rasch entfernenden Frauen hinterher, sichtlich froh, die Sorge um sie endlich los zu sein. Die Verantwortung für ihr Baby lastete schon schwer genug auf ihr. Sie wollte sprechen, doch es verschlug ihr den Atem, als die nächste Wehe kam.

„Los, Kind, wir müssen uns beeilen“, übernahm Großmutter das Kommando. Entschlossen raffte sie die Decken, die neben der Schwangeren auf dem Boden ausgebreitet lagen, zusammen, griff sich ein kleineres Bündel, das dort lag, und reichte alles Dark-Night. „Zeig uns den kürzesten Weg bis zu deiner Höhle. Dream-In-The-Day wird nicht laufen können. Fass mit an, Summer-Rain, wir beide tragen sie.“ Gemeinsam hoben sie die Schwangere hoch und nahmen sie in die Mitte. Das Baby wollte unbedingt jetzt in diese gefahrvolle Welt hineingeboren werden. Dream-In-The-Days Atem ging flach und sie versuchte, die stärker werdenden Wehen wieder wegzuatmen. Mit einem verkrampften Lächeln täuschte sie über ihre Schmerzen hinweg.

Der Geschützdonner kam näher. Über dem Fluss hing schwarzer Rauch. Auch die Geräusche der miteinander kämpfenden Männer konnte man bis hierher hören. Noch waren die Soldaten zu weit weg, als dass sie sie sehen konnten. Trotz ihrer Last kletterten die Frauen schnell das steinige Geröllfeld hinauf; sich hinter jedem großen Stein oder Gebüsch versteckend.

Dark-Night führte sie. Ganz oben, hinter Dornensträuchern verborgen, zeigte sie ihnen die Höhle, die sie hemeint hatte. Sie war nicht sehr groß, doch wenigstens war sie trocken und bot vorläufig Schutz. Bei Dream-In-The-Day kamen die Wehen jetzt bereits schnell hintereinander. Großmutter hatte recht gehabt. Hoffentlich waren die beiden anderen Frauen inzwischen in Sicherheit. Gut, dass Summer-Rain sie weggeschickt hatte. Für noch mehr Leute wäre es hier oben zu eng geworden. Sie richteten sich mit den mitgebrachten Decken einigermaßen ein.

Summer-Rain kniete in dem niedrigen Eingang und versuchte, durch das davor wuchernde Gesträuch etwas zu erkennen. Großmutter hockte neben ihr, während sich Dark-Night jetzt um Dream-In-The-Day kümmerte. Lange schwieg die alte Frau. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste erfahren, wie es ihrem Liebling ergangen war. Besonders die Frage nach dem Fell lag ihr auf der Zunge. Ungeachtet der Schüsse, die von unten bis hier herauf zu hören waren, und der Sorgen um ihre Leute wollte sie alles wissen. Es würde vielleicht ein wenig ablenken. Summer-Rain begann also, ihnen von ihren Erlebnissen zu erzählen, während Dream-In-The-Days Wehen schnell nacheinander kamen. Angefangen von ihrem Aufbruch, dann die Sache mit den Apachen bis hin zu John Black und seinem Hund. Keine der Frauen unterbrach auch nur einmal ihre Erzählung. Ja, es war eine gute Methode, sich von dem Geschehen unter ihnen abzulenken.

Sogar Dream-In-The-Day schien sich beim Klang ihrer Stimme zu entspannen – oder das Kind, wie Großmutter behauptete.

Am Ende musterte die alte Frau aus dem Dunkel heraus Summer-Rain. Nachdenklich legte sie den Kopf auf ihre dünnen, sehnigen Arme. In ihren Gedanken tauchte ein Bild auf, das sie lieber nicht heraufbeschwören wollte. Insbesondere nicht vor Summer-Rain, schon gar nicht jetzt. Sanft berührte sie den von Brandnarben gezeichneten Arm des Mädchens und war dankbar, sie wieder hier bei sich zu haben. Als Summer-Rain ihr das Gesicht zuwandte, fragte sie sie leise, so dass es die anderen nicht hören konnten: „Glaubst du, dass dieser Hund eine Verbindung zu deinem Tiergeist hat und er ihn zu dir schickte, um dich zu beschützen?“

Summer-Rain, die sie nur erstaunt über eine solche Frage anstarren konnte, erschauerte. Es war ihr plötzlich, als berührte sie ein Schatten. Sie wusste zunächst keine Antwort. Dann aber, nach kurzem Besinnen, lächelte sie und schüttelte das, was sie bedrücken wollte, ab. „Diese Erklärung hätte dem alten Trapper gefallen, Großmutter“, sagte sie.

Die alte Frau nickte. „Ich bin froh und dankbar, dass sich dieser alte Mann um dich gekümmert hat – sehr froh …“ Schwer seufzend lehnte sie sich zurück an die Felsenwand der Höhle. Das Schweigen, das sich danach auf alle legte, wurde nur durch Dream-In-The-Days unterdrückte Schmerzenslaute unterbrochen.

„Was denkt ihr? Haben sie es alle rechtzeitig geschafft? Und unsere Männer – die Krieger – können sie diesen Feind dort unten besiegen?“, unterbrach Dark-Night leise die nur zäh dahinfließende Zeit.

Großmutter beugte sich zu ihr hinüber, sanft die Binde über ihrer Nase berührend. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie ebenso leise. „Wir können es nicht wissen. Bis dahin sollten wir uns diese Fragen nicht einmal stellen.“

Das war zwar nicht das, was Dark-Night hören wollte, doch bevor sie sie weiter damit beunruhigen konnte, legte die alte Frau ihr sanft die Hand auf den Mund. Bis auf Dream-In-The-Days unterdrücktes Stöhnen herrschte lange Zeit wieder Schweigen. Dann meinte Großmutter, als hätte Dark-Night ihre Frage eben erst gestellt: „Wenn sie es nicht geschafft hätten, würden die Soldaten dort unten jetzt jubeln; aber sie sind still.“

Damit hatte sie natürlich recht. Nur war das bisher niemandem außer ihr aufgefallen. Tatsächlich – draußen war es merkwürdig still geworden. Der Beschuss hatte aufgehört. Es drängte alle, aus der Höhle zu kriechen, um sich davon zu überzeugen, doch das wäre sehr dumm gewesen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass niemand außer Dream-In-The-Days Mutter und Schwiegermutter von ihnen hier oben etwas wusste. Sie waren also völlig auf sich allein gestellt. Um die Zeit, bis das Baby käme, zu überbrücken und keine unnütze Grübelei aufkommen zu lassen, begann Großmutter, Geschichten aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. Dream-In-The-Day hatte sich ein Stück Holz zwischen die Zähne geschoben, damit niemand sie jetzt, wo es vielleicht unten von Soldaten nur so wimmelte, hören konnte. Weil die Wehen stärker wurden, biss sie fest darauf. Während Großmutters Stimme leise dahinplätscherte, rückte die Geburt ihres Babys immer näher. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Summer-Rain hielt es vor Ungeduld kaum noch aus. Sie wollte endlich wissen, was unter ihnen vorging. Ihre Gedanken eilten bereits weit voraus. Schließlich mussten sie von hier weg. Dafür brauchten sie Pferde. Woran keine der anderen Frauen dachte, schwirrte ihr bereits seit einiger Zeit im Kopf herum. Um Gewissheit zu erlangen, wagte sie sich ungefragt ein Stück aus der Höhle. Inzwischen war es dunkel geworden, und der Mond stand schräg über ihnen im Osten. Ein Trompetensignal war zu hören; also waren die Soldaten noch in der Nähe. Summer-Rain sah die Feuer brennen, und ihr Herz klopfte laut. Die Soldaten hatten unter ihnen ihr Lager errichtet. Das hieß, dass sie noch eine Weile bleiben wollten. Auch auf der anderen Seite des Flusses waren Feuer zu sehen. Unruhig schaute sie auf die Menge der Zelte, auf die Wimpel und Fahnen, die sich im Nachtwind bewegten. Soldaten liefen dazwischen hin und her, einige waren zu Pferde, andere saßen um Feuer. Was sollten sie machen? Ratlos wandte sie sich zurück und suchte im Halbdunkel der Höhle die Augen von Großmutter, die jedoch gerade mit Dream-In-The-Day beschäftigt war.

Wieder blickte sie hinunter. Es half nichts – ihr musste etwas einfallen. Sie hatte gehofft, die Soldaten würden abziehen. Wie es aussah, dachten diese aber nicht daran. Bis zum Fluss hinunter breitete sich das Lager aus. Immer mehr Feuer brannten und erhellten die Dunkelheit. So viele Soldaten auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Manche von ihnen trugen Verbände, einige hinkten oder stützten sich auf ihre Kameraden. Die meisten saßen an ihren Feuern, hatten aber ihre Waffen in Reichweite neben sich liegen. Schräg unter ihr erblickte Summer-Rain ein großes Zelt vor einer Senke. Davor ging ein Posten auf und ab. Soeben ritten vier Männer vom Fluss herauf auf das große Zelt zu.

Pawnee-Scouts. Wütend ballte sie die Fäuste. Pawnee und Comanchen hatten sich noch nie vertragen. Unbehelligt ritten sie durch dieses Lager, trugen Uniformjacken, sogar Soldatenmützen, und benahmen sich wie Sieger. Sie tat diese Gedanken mit einem Kopfschütteln ab. Viel wichtiger war die Frage: Wie lange hatten die Soldaten vor, hier zu bleiben?

Während Dream-In-The-Day ihr Baby zur Welt brachte, blieb Summer-Rain auf ihrem Beobachtungsposten. Soeben ritten einige Soldaten mit einer größeren Anzahl Pferde unten am Geröllfeld vorbei nach Osten und entschwanden ihren Blicken. Sie musste unbedingt wissen, was sich dort befand. In ihrem Kopf begann sich eine Idee zu entwickeln. Bevor sie die Pawnee gesehen hatte, war sie davon überzeugt gewesen, es länger hier oben aushalten zu können. Nun war sie beunruhigt. Der kleinste Hinweis würde genügen, und die Pawnee würden hier heraufkommen. Weiße waren leicht in die Irre zu führen – da genügte eine einfache List. Diese Pawnee würden nicht so leicht zu täuschen sein. Und wenn es hell wurde, kam vielleicht einer von ihnen auf den Gedanken, hier hochzusteigen. Sie wandte sich um und bemerkte die Erschöpfung in Großmutters Gesicht. Die Frauen froren und es gab kein Wasser. Das letzte hatten sie Dream-In-The-Day gegeben. ‚Hier können wir nicht bleiben‘, dachte sie gerade, als das Baby geboren wurde. Deam-In-The-Day drückte es an ihre Brüste, damit seinen ersten Schrei unterdrückend. Obwohl die Geburt im Dunkeln stattgefunden hatte und das Umfeld nicht gerade geeignet für ein Willkommen war, kam es ihnen doch wie eine große Freude vor. Es war ein Mädchen. Großmutter hob das winzige Menschlein hoch und kurz in das spärliche Licht, das der Mond durch den Eingang warf. Dabei hielt sie dem Baby die Nase zu, damit es durch den Mund atmen musste und nicht schreien konnte. Das war das Erste, was Comanchenkinder lernten: nicht zu schreien.

Dann bat sie den Großen Geist, es zu beschützen. Es wurde nicht viel gesprochen. Leise murmelten sie Gebete, dann wickelten sie das Kind rasch in eine der Decken, die sie dafür mitgenommen hatten. Das Mädchen schien gesund zu sein – mehr war nicht wichtig. Schon nach kurzer Zeit nahm Summer-Rain wieder ihren Beobachtungsposten ein. Jetzt jedoch, da sie die Pawnee fürchten musste, mit noch mehr Aufmerksamkeit. Bei dem großen Zelt vor der Senke tat sich etwas. Großmutter hatte ihr gesagt, dass dort vor gar nicht langer Zeit Light-Cloud mit Icy-Wind gekämpft hatte.

Die vier Pawnee warteten anscheinend auf jemanden. Dann sah sie einen weißen Mann mit diesem Ding an der Seite, von dem John Black gesagt hatte, dass das ein Säbel sei. War das ihr Kriegshäuptling? Jemand brachte ihm ein Pferd, und er ritt mit den Pawnee unter dem Geröllfeld entlang. Gebannt beobachtete sie die Reitergruppe. Auf einmal hörte sie das Neugeborene hinter ihr. Nur ein kleiner, unterdrückter Schrei – mehr ein Luftschnappen. Sofort drückte Dream-In-The-Day ihrer Kleinen die Hand auf den Mund. Summer-Rain starrte erschrocken nach unten auf die Reitergruppe, denn der Wind wehte genau in ihre Richtung. Einer der Pawnee schaute hoch. Hatte er etwas gehört? Wie zur Bestätigung ihrer Befürchtung zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf die Felsen.

Summer-Rains Herz schlug schneller. Drei der Pawnee ritten mit dem weißen Soldaten weiter. Schon wollte sie aufatmen, doch da fiel ihr ein, dass es zuvor vier gewesen waren. Wo aber war dieser Pawnee? Er musste direkt unterhalb von ihnen sein. Eine Warnung zu den Frauen hin flüsternd, zog sie sich etwas zurück. Sie war sich sicher, dass er immer noch unter ihnen war. Wenn sie sein Misstrauen erregt hatten, konnten sie nicht länger hierbleiben. „Wir müssen weg“, hauchte sie in die Dunkelheit. „Sofort“, flüsterte sie bestimmt. „Bei den weißen Kriegern sind Pawnee. Einer wartet direkt unter uns. Wenn die Sonne den neuen Tag begrüßt, ist es für eine Flucht zu spät. Dann werden sie heraufkommen.“

Sie hatte sich um einen sachlichen Ton bemüht, um die Frauen nicht unnötig zu ängstigen.

Großmutter warf einen besorgten Blick auf Dream-In-The-Day. Die lag – in eine der Decken gewickelt, ihr Baby an der Brust – gegen die Felswand gelehnt und bemühte sich, in eine bequemere Stellung zu kommen. Ihr Gesicht war entspannt; die roten Flecken, die noch vor kurzem dort zu sehen waren, hatten sich aufgelöst. Für diese Verhältnisse hier und angesichts der erst vor kurzem überstandenen Geburt sah sie sogar hübsch aus. Nach vorn gebeugt, mit dem Gesicht im Mondlicht, konnten alle sie sehen, als sie sich mit schwacher Stimme an Summer-Rain wandte. „Dann müssen wir gehen. Comes-Through-The-Summer-Rain, du warst schon immer die Mutigere von uns allen. Sag du uns, was wir tun sollen.“

In der Höhle konnte man nur das leise schmatzende Geräusch hören, das das Baby beim Trinken machte. Zärtlich strich Dream-In-The-Day ihm über das kleine, mit dunklem Flaum bedeckte Köpfchen. Summer-Rain dachte kurz nach. Konnte sie das, was ihr, seit sie die Pawnee entdeckt hatte, durch den Kopf ging, den Frauen zumuten? Ihrer Großmutter würde das überhaupt nicht gefallen. „Wir brauchen Pferde“, raunte sie. Dann, sich wieder auf ihren Beobachtungsposten begebend, doch nach hinten gewandt: „Ich werde sie für uns besorgen.“

Niemand sagte etwas, auch Großmutter nicht. Summer-Rain schaute wieder nach unten. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor. Jetzt war der Schatten des Pferdes mit dem Pawnee zu sehen. Jedes kleinste Steinchen, das den Abhang hinunterrollte, würde sie verraten. „Ich gehe runter“, flüsterte sie, ihren Zeigefinger hebend. Niemand sollte ihr widersprechen, nicht einmal Großmutter.

„Wenn ich unten bin, werde ich nach Sonnenaufgang gehen“, erklärte sie ihnen ihren Plan. „Ich habe gesehen, wie die Soldaten Pferde nach dort gebracht haben.“ Dieses Sommerlager hier war ihr nicht vertraut. Deshalb wandte sie sich jetzt an Dark-Night, die am nächsten von ihr hockte. „Sag mir, was dort unten ist; beschreib mir alles, und ich brauche außerdem einen sicheren Ort, wo ich drei Pferde verstecken kann.“

Dark-Night rückte noch näher an sie heran und begann, ihr die Gegebenheiten zuzuflüstern. „Hinter dem Wald, auf der anderen Seite, gibt es einen kleinen Birkenhain“, kam sie zum Schluss. „Dort kannst du die Pferde verstecken.“

Summer-Rain nickte. Niemand wagte einen Einwand, und doch wussten alle, welches Wagnis sie einzugehen bereit war. Es blieb ihnen nur diese eine Nacht zur Flucht. Wenn die Sonne aufging, wäre es längst zu spät. Summer-Rain machte es kurz. „Ich muss versuchen, die Soldaten und besonders diesen einen Pawnee, abzulenken, damit ihr hinten an den Felsen vorbei in den Wald und dann auf die andere Seite zu den Pferden gelangen könnt.“

Großmutters Gesicht fiel in sich zusammen. Ihre weit aufgerissenen Augen starrte Summer-Rain entsetzt an. Es war dunkel in der Höhle; trotzdem spürten die Frauen, dass sie damit ganz und gar nicht einverstanden war. Doch niemand fragte nach ihrer Meinung. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss sie ihn wieder. Angesichts ihrer jetzigen Situation blieb ihnen keine Wahl.

„Der Pawnee“, fuhr Summer-Rain ungerührt fort, „wird sich nicht von der Stelle rühren. Niemand von euch wird von hier fortkönnen, solange er dort Wache hält.“ Fürsorglich griff sie nach Großmutters Hand und drückte sie fest. „Ich verspreche dir, so vorsichtig zu sein wie eine Wildkatze – wie mein Bruder mich manchmal nennt. Ich habe schon einmal die Pawnee überlistet. Mir, Comes-Through-The-Summer-Rain, wird das auch diesmal gelingen. Diese Pawnee sind nur Büffelscheiße – und vor Büffelscheiße habe ich keine Angst.“

Trotz ihrer Bedenken nickte die alte Frau. „Ich weiß, Kleines“, flüsterte sie in die Dunkelheit. „Dein großer Bruder Light-Cloud hat dir mehr beigebracht, als ich hätte zulassen dürfen. Nie hast du um Erlaubnis gefragt. Statt dich zu bestrafen, habe ich deine Wunden verbunden. Nun, das habe ich nun davon. Sei vorsichtig, mein Kleines – etwas anderes zu sagen bleibt mir nicht übrig. Zeig dieser Büffelscheiße dort unten, dass Summer-Rain eine Comanche ist.“ Zwar seufzte sie schwer und war doch ein bisschen stolz auf ihr Mädchen.

Summer-Rain wandte sich wieder den Anderen zu. „Wenn ihr dreimal den Ruf einer Eule hört, dann macht euch bereit. Wartet nicht auf mich – nehmt die Pferde und reitet so schnell ihr könnt; ich werde nachkommen.“ Nach dem Messer in ihrem Stiefel tastend, überzeugte sie sich, dass es noch dort steckte. Schnell zurrte sie ihre Haare mit einem der Bänder von Sally Kamp hinten im Nacken zusammen, damit sie sie nicht verraten konnten, wenn der Wind hineinfuhr. Ein letztes Mal blickte sie sich nach den anderen Frauen um – prägte sich ihre Gesichter ein, schloss die Augen, vertraute sie und sich selber dem Schutz ihres Tiergeistes an. Dann strich sie dem Baby, das warm und geborgen an der Brust seiner Mutter lag, zärtlich über die Wange. So nahm sie Abschied von ihnen allen. „Egal, was auch passiert, ihr schaut nicht zurück“, schärfte sie ihnen noch einmal ein. „Reitet so schnell ihr könnt – ich will, dass ihr mir das versprecht.“

In die Stille, die darauf folgte, konnten die Frauen nur nicken. Die aufkommenden Tränen hinunterschluckend, vertrieben sie die Angst aus ihren Köpfen.

Wortlos schlüpfte Summer-Rain aus der Höhle. Der Mond stand jetzt so dicht hinter den Wolken versteckt, dass er die Felsen mit der Höhle hinter ihr nicht mehr erreichte. Trotzdem musste sie sichergehen. Das Geröllfeld war hier, so weit oben, besonders dicht mit kleinen Steinen bedeckt. Mit äußerster Vorsicht auftretend, tastete sie sich Schritt für Schritt voran. Erst, wenn sie festen Halt fand, ging sie weiter. Sie wünschte sich Flügel wie ein Schmetterling, ein Nachtfalter oder wäre wenigstens so leicht wie ein Grashüpfer oder eine Grille. Trotz aller Vorsicht konnte sie nicht verhindern, dass einige Steinchen abwärts rollten. Nach einigen Schritten bis zu den Rand des Geröllfeldes begrenzenden Felsen musste sie sich, um in den Wald nach Osten zu gelangen, wie es Dark-Night ihr beschrieben hatte, nach links wenden. Hier lagen größere Steine, war ein festerer Untergrund. Auch machte es ihr dichtes Dornengestrüpp leichter, Deckung zu finden. Sie traute dem Pawnee durchaus zu, seinen Standort zu wechseln, um mit mehr Abstand weiter nach oben blicken zu können. Hinter einem Dornenbusch verharrte sie, um zu lauschen. Die herabrollenden Steinchen hatten irgendwo Halt gefunden. Und doch war es ihr vorgekommen, als hätte sie einen Steinschlag losgetreten.

Das war der Zeitpunkt, als der Pawnee abermals aufmerksam wurde und nach oben horchte. Summer-Rain konnte ihn nicht sehen – nicht einmal mehr seinen Schatten. Doch dort unter ihr musste er noch immer sein.

Genau so war es. Er saß auf seinem Pferd, den Kopf nach oben gerichtet, die Militärmütze abgesetzt und unter seinen Sattel gesteckt, jetzt als Pawnee zu erkennen. Das Geräusch der Steine war verebbt. Enttäuscht schnaubte er durch die Nase, als da nichts mehr nachkam. Doch sein Misstrauen war abermals geweckt.

Summer-Rain, die ihn sich vorstellen konnte, sich in ihn hineinversetzte, griff zu einer List. „Unterschätze niemals einen Gegner“, hatte Light-Cloud ihr immer wieder eingeschärft. „Wenn du sein Misstrauen erregt hast, verwirre ihn, lasse seine Gedanken andere Wege gehen.“ Also griff sie nach einem großen Stein, wog ihn abschätzend in der Hand und warf ihn nach dem bogenförmigen Durchgang, in eine andere Richtung, als sie gehen wollte. Dort prallte er gegen einen der Felsen.

Es wirkte. Im selben Moment hörte sie das Pferd des Pawnee sich mit ihm nach dort in Bewegung setzend. Die Zeit, die er dafür brauchte, nutzte sie, indem sie oben an den Felsen entlanghuschte. Der Mond kam wieder hinter der Wolke hervor, aber das war nicht mehr von Bedeutung. Unten hielt der Scout jetzt vor dem Bogen. Sie stellte ihn sich vor, wie er nach der Ursache suchte – vielleicht sogar den Stein, der dort eigentlich nicht hingehörte, fand. Als ihr dieser Gedanke kam, biss sie sich auf die Unterlippe. Na gut, dann hatte sie eben einen Fehler gemacht. Das Geröllfeld lag bereits hinter ihr, und sie tauchte im angrenzenden Wald unter. Kurz darauf fand sie einen Abhang, an dem sie hinunterglitt. Hier brauchte sie nicht mehr so vorsichtig zu sein, denn es waren keine Wachen aufgestellt, wie sie mit einem Blick in die Runde feststellen konnte.

Noch immer stand der Pawnee nachdenklich vor dem Durchgang. Er konnte die Ursache des Geräusches nicht finden. Vielleicht war es doch nur ein Tier auf der Jagd gewesen? Also ritt er zurück und begab sich abermals auf seinen Wachposten.

Unterdessen befand sich Summer-Rain bereits unterhalb des Waldes vor der von Dark-Night beschriebenen flachen Mulde, in der brackiges Wasser stand. Gebückt lief sie weiter, die vom Mondschein beleuchtete Ebene hinter dem Wald absuchend. Unruhiges Schnauben und Stampfen kündigten ihr an, dass sie hier richtig war. Die Soldaten hatten etwa 20 ihrer Pferde in eine Koppel gebracht, die sie aus zerbrochenen Zeltstangen und Seilen errichtet hatten. Einige Pferde waren jedoch außerhalb untergebracht. Ihnen hatte man die Vorderfüße gefesselt oder sie mit einem langen Zügel an die dort stehenden Bäume gebunden.

Summer-Rain schaute sich wieder nach einer Wache um. Vorsichtig durchquerte sie das hohe Gras am Rande eines kleinen Walls, der bis hinunter in die Mulde reichte. Beinahe wäre sie einem der drei Männer, die dort in ihre Decken gehüllt lagen, auf die Füße getreten. Sie hatten sich die Mützen tief in die Stirn gezogen, und zwei von ihnen schnarchten.

Der dritte lag auf der Seite; das glühende Ende einer Zigarette erhellte kurz sein bärtiges Gesicht.

Summer-Rain kroch in einem weiten Bogen an ihnen vorbei. An der nächsten Baumgruppe aus schlanken Kiefern erhob sie sich und suchte drei Pferde aus. Über den Ästen hingen Halfter und Zügel – wahrscheinlich hatte die Wache sie ihren Pferden abgenommen und dort aufgehängt. Sie griff sich drei Halfter, um sie den erbeuteten Pferden umzulegen, löste die Seile, mit dem zwei andere an einen Baum gebunden waren, und verband ihre damit. Ungehindert kam sie mit ihrer Beute bis zu dem versteckt liegenden Birkenhain. Sie konnte nicht anders – sie musste noch einmal zurück, um auch die Seile der anderen angebundenen Pferde zu lösen und die Koppel zu öffnen. Kurz sah sie zu, wie sich die Pferde gemächlich hinter den Hügeln zerstreuten. Dann schlich sie im Schutze der Dunkelheit unten am Wald entlang bis zur Senke mit dem Geröllfeld. Es war ganz einfach gewesen.

Während sie hinter Gebüsch am Rande Deckung suchte, konnte sie den Pawnee auf seinem Pferd sitzen sehen.

Die Zelte, in acht Reihen hintereinander aufgereiht, reichten bis hinunter zum Fluss. Noch immer brannten einige Feuer, aber nicht mehr so viele wie zuvor. Soldaten sah sie kaum noch. Die meisten schienen bereits zu schlafen – schließlich hatten sie alle einen harten Tag hinter sich. Die lauten Geräusche des Lagers waren verstummt. Einige ruhelose oder vielleicht sogar betrunkene Soldaten, die noch immer unterwegs waren, würden sich auch bald zur Ruhe begeben. Soeben bog Oberstleutnant Smith mit einem ihn begleitenden Pawnee-Scout um ein Dickicht, das sein großes Zelt von der Senke etwas abschirmte. Sie ritten in geringer Entfernung an ihr vorbei. Der weiße Soldatenhäuptling sagte etwas zu dem Pawnee, der sich daraufhin entfernte. Sein Pferd einem vor dem großen Zelt stehenden Mann übergebend, schlüpfte er hinein.

Summer-Rain ließ den Pawnee nicht aus den Augen, bis er zum Fluss hinunter verschwunden war.

Erst dann schlich sie bis an den Rand der Senke. Als hätte man sie für sie bereitgelegt, griff sie nach einem der dort liegenden Äste. Zehn Schritte weiter glomm noch ein Feuer vor einem der Zelte. Es dauerte nur Augenblicke, dann brannte der Ast. Ein letzter prüfenden Blick – niemand war zu sehen – schon hockte sie vor einem Zelt, zündete es an, lief zum nächsten, zum übernächsten und so weiter. Während sie das tat, drehte sie sich in Richtung Geröllfeld und ahmte dreimal den Schrei einer Eule nach.

Die ersten Männer sprangen aus den brennenden Zelten, aber da war sie bereits verschwunden. Augenblicke später war das halbe Lager alarmiert. Die brennenden Zelte zu löschen, war verlorene Mühe. Also versuchte man nur noch, die in der Nähe stehenden zu retten. Von überall eilten Soldaten herbei. Oberstleutnant Smith erschien vor seinem eigenen Zelt. Nicht gerade erfreut, in seiner Nachtruhe gestört zu werden, erteilte er überflüssige Befehle.

Summer-Rains Plan war, in dem Aufruhr auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Dark-Night hatte ihr die Furt beschrieben. Dort, wo der Fluss aus dem Canyon kam, konnte sie unbemerkt verschwinden. Es war der Weg, den auch die Pferdeherde genommen hatte. Hinter einem bis ins Wasser ragenden entwurzelten Baum fand sie Deckung. Doch wo war die Furt? Dark-Night hatte gesagt – aber hier war sie anscheinend falsch. Jetzt wusste sie nicht mehr weiter. Sie hatte zu viel Zeit verloren – inzwischen war auch das Lager auf der anderen Flussseite hellwach. Von ihrem Versteck aus sah sie, wie eine Handvoll Soldaten mit zwei Pawnee-Scouts von Zelt zu Zelt durch das Lager ritten. Der Oberstleutnant, dem jetzt nicht mehr nach Schlaf zumute war, rief immer noch laute Befehle. Summer-Rain beobachtete hinter ihrer Deckung im Schein der huschenden Fackeln, wie der vor dem Geröllfeld wachende Pawnee zu ihm ritt. Da entschloss sie sich, durch den Fluss zu schwimmen. So eine weite Strecke hatte sie noch nie geschafft. Zögernd hielt sie abermals nach einer flachen Stelle Ausschau – hoffend, dass ihre Lieben längst in Sicherheit waren – Großmutter, Dark-Night, Dream-In-The-Day und das Baby. Gerade, als sie sich von einer der in die Luft ragenden Wurzeln des Baumes lösen wollte, ertönte durch den Tumult des Lagers eine laute Männerstimme, die nach einer Fackel rief. „Hierher, Männer, hierher! Bringt Fackeln mit, hier hoch.“

Summer Rain erstarrte. Aus Richtung Geröllfeld kamen deutliche Geräusche, wie wenn große Mengen Steine herunterrollten. Soldaten, die in der Nähe waren, liefen mit brennenden Fackeln los. Wo waren die Frauen? Waren sie noch immer dort oben? Sich zur Ruhe zwingend, wartete sie und horchte – unsicher, was sie tun sollte, denn sehen konnte sie nicht viel. Schüsse krachten. Der helle Schein von Fackeln zerriss das Dunkel, zog das Geröllfeld hinauf. Kurz darauf riefen Männer von dort aus nach unten. Da schrie eine Frau. Dream-In-The-Day. Das war unverkennbar Dream-In-The-Day. Dann war alles still. Ohne auf ihre Sicherheit zu achten, reckte sich Summer-Rain aus ihrer Deckung heraus. Es hörte sich so an, als kletterten jetzt weitere Männer den steinigen Abhang aufwärts. Der Schein hin und her schwingender Fackeln markierte ihren Weg. Was auch immer dort gerade passierte, es klang nicht gut. Den Gedanken an ihre eigene Sicherheit verwarf sie. Zuerst musste sie wissen, was mit Großmutter und den anderen Frauen passiert war. Also watete sie geduckt zurück ans Ufer, fest davon überzeugt, dass sie alle bei ihrer Flucht entdeckt worden waren. Es blieb nur eine Möglichkeit, ihnen jetzt noch zu helfen. Sie musste die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Hoffend, dass ihr Plan doch noch funktionieren würde, richtete sie sich auf. Mit dem Mut der Verzweiflung begann sie die ihr zunächst stehende Gruppe Soldaten laut zu beschimpfen. Sie schrie ihre Beleidigungen nicht auf Comanche, sondern fluchte auf Taibo-Tekwapu, amerikanisches Englisch – radebrechte, was ihr gerade einfiel.

Sofort verstummten die Männer. Die ersten kamen vom Geröllfeld zurück, andere, die weiter weg waren, griffen sich ihre Pferde und ritten auf sie zu. Oberstleutnant Smith versuchte, Ordnung in seinen Haufen zu bekommen – vergeblich; niemand achtete auf ihn. Summer-Rain, die erkannte, dass die Fackeln wieder den Abhang herunterkamen, watete so schnell sie konnte zurück in den Fluss, hinein in die Dunkelheit – und hoffte und hoffte. Bis zu den Augen im Wasser liegend, sah sie, wie sich die leuchtenden Punkte der Fackeln auf das Ufer zubewegten, weg von dem Geröllfeld. Vielleicht hatte die Zeit doch gereicht, um den Frauen durch ihre Aktion einen Vorsprung zu verschaffen. Vielleicht hatten die Soldaten auch oben nichts entdeckt. Diese Vielleichts im Kopf, horchte sie weiter in die Nacht hinein, denn viel sehen konnte sie nicht. Stimmen näherten sich und entfernten sich wieder. Dann verlosch eine Fackel nach der anderen flussabwärts, und auch die Stimmen ließen nach. Erleichtert watete sie durch das flache Wasser in entgegengesetzter Richtung, zurück auf ihre erste Deckung zu. Der Pawnee fiel ihr wieder ein. Würde er so einfach aufgeben? Wohl kaum. Er hatte die ganze Zeit über Hartnäckigkeit bewiesen; sie sollte ihn also nicht unterschätzen.

Comanchen Mond Band 2

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