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15. Oktober 2066 Olympia, Washington, Republik Kaskadien

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Haley war aufgestanden und sah durch die dünne Fensterscheibe nach draußen, welche die kühle Luft am Pudget Sound aus ihrem Wohnzimmer hielt. Sie betrachtete das Kapitol in der Ferne. Dessen Sandsteinkuppel überragte die anderen Gebäude der Stadt, wie es schon seit 138 Jahren der Fall war. Früher fungierte die Stadt als Hauptstadt eines einzelnen Bundesstaats, jetzt war sie der Sitz der Regierung dieses Landes, einer auf Chaos und Zerstörung geborenen Nation.

Sie zwang sich, ihren Blick aus der Distanz loszureißen, um auf das Foto in ihrer Hand zu sehen, und strich über die Köpfe der darauf abgebildeten Personen. Es waren vier strahlende Gesichter, das Porträt einer glücklichen Familie – ihrer eigenen. Tränen kamen ihr, als sie an den Tag zurückdachte, an dem das Foto entstanden war. Sie erinnerte sich lebhaft daran, als sei es erst heute Morgen gewesen. Haley schloss die Augen und drückte das Bild an ihre Brust; die Tränen rannen an ihren Wangen hinab und blieben am Kinn hängen. Sie spürte wieder, wie ihr Vater sie festhielt, während sie auf seinem Knie hockte; wie er sie viele Male auf den Kopf küsste und betonte, wie stolz er auf sie sei, da sie ihre Schuhe an jenem Tag ganz allein geschnürt hatte.

Sie sehnte sich nach dieser unschuldigen Zeit ohne Sorgen und Verantwortungen zurück, wünschte sich die Tage herbei, in denen ihre Familie miteinander vereint und glücklich gewesen war.

Nicht lange, nachdem dieses Foto geschossen wurde, hielt die brutale Realität von Massenmord und Weltuntergangsstimmung Einzug in ihre heile Welt. Diese neuen Umstände sollten ihre Familie gewaltsam trennen, und was übrig blieb, konnte nie mehr so werden wie zuvor.

Ein Klopfen an der Haustür holte sie in die Gegenwart zurück. Rasch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schob das Foto in die Tasche ihres Pullovers. Dann trat sie zur Tür, doch bevor sie öffnete, drehte sie sich zum Wandspiegel um und betrachtete sich selbst. Als sie sicher war, dass sie alle Tränen abgetupft hatte, richtete sie ihr grau werdendes Haar.

»Du schaffst das, Haley«, sprach sie sich zu, in einem Versuch, Selbstsicherheit für die schwierige Aufgabe zu finden, die vor ihr lag.

Sie wandte sich wieder ab und öffnete die Tür. Unter dem Vordach standen drei Männer: John, der Mitte dreißig war und als leitender Reporter für die Cascadian Times arbeitete, sowie zwei Fotografen, die jeweils nicht älter als fünfundzwanzig sein mochten. In jedem Fall handelte es sich um Nachkriegskinder, die den Schrecken und die Grausamkeit der großen Bürgerunruhen nicht erlebt hatten.

»Mrs. Rutledge?«, begann John mit ausgestreckter Hand.

»Richtig, aber bitte nennen Sie mich Haley.« Sie packte fest zu und schüttelte die Hand.

Nachdem sie die beiden anderen begrüßt hatte, gewährte sie ihnen Einlass. Man plauderte zwanglos, während die Fotografen ihre Gerätschaften für die Bilderreihe aufbauten, die sich dem Interview anschließen sollte.

»Mrs. Rutledge, lassen Sie mich wissen, wann Sie bereit sind, damit wir anfangen können«, sagte der Journalist.

»John, bitte nennen Sie mich Haley.«

»Gut Ma'am«, antwortete er mit einem betretenen Lächeln.

Haley war nervös, als sie so dasaß und die Hände auf ihrem Schoß fest ineinander verschränkte. In Erwartung der ersten Frage rieb sie sich die Finger.

»Haley, zunächst einmal danke dafür, dass wir zu Ihnen nach Hause kommen durften. Es ist uns eine Ehre, mit Ihnen zu sprechen, um Ihre persönliche Geschichte und Sichtweise zu erfahren.«

»Keine Ursache, John. Zugegeben: Ich bin ein wenig nervös. Wie Sie wissen, stand ich noch nie gerne im Rampenlicht und führe nur ungern Interviews. Ohne Ihre Verwandtschaftsbeziehungen wären Sie nicht hier; ich kannte Ihren Vater, der ein Freund und Kollege meines Vaters war. Erst als ich hörte, dass Sie derjenige sind, der mich befragt, rang ich mich dazu durch.« Sie hielt sich beim Sprechen sehr gerade und schaute John rundheraus an.

»Ich weiß durchaus, dass in der Vergangenheit Verbindungen zwischen unseren Familien bestanden, also noch einmal danke. Darf ich gleich beginnen?«

Haley nickte zustimmend.

»Nächste Woche markiert den 50. Jahrestag für den Abschluss des Vertrags von Salt Lake. Dieses Abkommen bedeutete den formellen Sieg unserer jungen Republik über den Feind und die Geburt unseres Landes. Ihr Vater wohnte der Unterzeichnung in Salt Lake bei; was können Sie uns über ihn erzählen?«

Haley kicherte kurz, bevor sie antwortete. »Wow, das ist keine leichte Frage. Was ich über meinen Vater erzählen kann … wo soll ich da bloß anfangen?« Sie hielt einen Moment inne. »Möchten Sie wissen, wie er damals war?«

»Ich merke schon, ich habe die Frage zu ungenau gestellt, Verzeihung. Lassen Sie es mich anders formulieren: Ihr Vater spielte eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung dieser Nation; er ist einer unserer Gründungsväter, wie manche Stimmen behaupten. Während er von vielen für seine Opferbereitschaft gelobt wird, halten einige sein Handeln während des Großen Bürgerkrieges für fragwürdig. Wie würden Sie ihn beschreiben?«

»Mir sind ein paar jener Revisionisten ein Begriff, die nun im Schutze unserer hart erkämpften Freiheit die Wege anzweifeln, auf denen ebendiese gewonnen wurde. Ihnen sage ich: Ihr habt es nicht erlebt, ihr wart nicht dabei. Man kann sich leicht ins gemachte Nest setzen, behaglich unter dem blutbesudelten Banner unserer Revolution«, erklärte Haley in entschiedenem Ton. »Falls Sie hier sind, um die Taten meines Vaters infrage zu stellen, sollten wir meiner Meinung nach dort ansetzen, wer er genau war und woher er kam. Ich kannte ihn als liebevollen, behütenden Mann. Er sorgte für mich und den Rest seiner Familie, wobei er sich zu allem bereit zeigte, was unser Überleben sicherte. Viele bewerten die Historie, ohne sich der Umstände bewusst zu sein. Man muss es erlebt haben, um wirklich zu begreifen, was die Menschen zu ihrem Handeln motiviert hat. Mein Vater war ein Mann der Taten und reagierte sofort, wenn es jenen zugutekam, die er zu schützen geschworen hatte. So pragmatisch ist er allerdings nicht immer gewesen.« Haley hielt inne, verlagerte ihr Gewicht im Sessel auf die andere Seite und fuhr mit sanfterer Stimme fort. »Daddy machte keinen Hehl aus seiner Vergangenheit. Oft hörte ich Geschichten darüber. Er erzählte mir davon, wie das Schicksal zuschlagen und unsere Sichtweise auf das Leben verändern kann, dass uns bestimmte Erlebnisse in unseren Grundfesten erschüttern mögen und uns zum Umdenken anregen. Das ist meinem Daddy mehrere Male passiert. Zum ersten Mal, soweit ich mich erinnern kann, als Marinesoldat im Irak, wie er mir anvertraute. Was dort geschah, machte ihn zu einem anderen Menschen und ließ ihn den Weg einschlagen, an dessen Ende wir nun in diesem Wohnzimmer sitzen. Hoffentlich haben Sie etwas Zeit mitgebracht, denn ich werde diese Sache jetzt ein für alle Mal klarstellen.«

THE END - DIE NEUE WELT

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