Читать книгу Ein schwieriger Fall: Arztroman - G. S. Friebel - Страница 10
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ОглавлениеZu Dr. Bernstein hatte sie zwar gesagt: »Kann ich gleich beginnen?« Trotzdem wunderte er sich, als sie bereits am Nachmittag vor seiner Praxistür stand. Er forschte in ihrem Gesicht, konnte aber nichts Beunruhigendes finden. Sie war locker und sogar ein wenig fröhlich. Das war sie damals nicht gewesen, eher mehr linkisch und zurückhaltend.
»Setzen Sie sich! Ich bin froh, dass Sie sich so schnell entschließen konnten. Ich brauche Sie wirklich, denn ich habe jetzt meine eigene kleine Klinik.«
Bettina riss die Augen auf.
»Nein!«
»O doch! Lydia Winter, die ehemalige Sängerin, deren Freundin Johanna und noch eine Patientin von früher haben mir das ermöglicht.«
»Wie schön«, flüsterte sie.
»Nachher werden wir rübergehen, damit ich Ihnen alles zeigen kann. Aber ich sage Ihnen gleich: Im Augenblick habe ich nur zwei Patienten dort.«
»Oh, das ...«
Er lächelte.
»Nein, Sie müssen mich nicht bedauern. Ich sehe das alles ganz anders. Aber jetzt erst einmal zu Ihnen. Wo waren Sie denn zuletzt?«
Bettina starrte ihn gedankenverloren an, dann gab sie sich einen Ruck und sagte mit leiser Stimme: »Es wird das Beste sein, wenn ich Ihnen gleich die ganze Wahrheit sage, dann können Sie mir später keinen Vorwurf machen. Ich habe nicht als Ärztin arbeiten können, das heißt ...« Dann erzählte sie dem jungen Arzt die ganze Tragik ihres jungen Lebens.
Dr. Bernstein lächelte sie fröhlich an.
»Und jetzt sind Sie hier?«, fragte er ein wenig ungläubig.
»Und werde bleiben, das heißt, wenn Sie mich wirklich wollen, jetzt, da Sie wissen, wie wenig ich dazugelernt habe. Aber ich werde arbeiten, das können Sie mir glauben. Ich will auch kein großes Gehalt. Ich will nur arbeiten, will alles tun ...«
»Halt, halt, nicht so schnell, Kollegin! Ich bin ja sehr froh, dass alles so ist und nicht anders.«
Und jetzt erzählte er ihr, dass seine Vermutungen in eine ganz andere Richtung gegangen waren.
Bettina lächelte befreit.
»Eigentlich bin ich jetzt erst so richtig normal. Und ich werde mich auch auf Ihre Seite schlagen. Das habe ich ja damals schon getan.«
»Wunderbar! Frau Losse, ich glaube, wir werden ein ausgezeichnetes Gespann.«
Sie reichten sich die Hände.
»Darf ich mein altes Zimmer wieder beziehen?«
Dr. Bernstein sagte: »Sie meinen jenes hier im Haus?«
»Ja.«
»Nun, ich hätte da einen anderen Vorschlag. In der Villa Botanica, so heißt meine kleine Klinik - vielmehr ist es eine Unterkunft für Patienten und keine Klinik - befinden sich zwei Räume, ineinanderliegend, mit Bad und kleiner Küche. Sie sind vorgesehen für einen Arzt. Damit immer jemand anwesend ist. Sie können es sich gern anschauen.«
Bettina atmete tief durch. Nein, sie wollte nicht zeigen, wie enttäuscht sie war, dass sie nicht hier im Haus wohnen durfte. Sie durfte nicht zu viel verlangen.
Dr. Bernstein erhob sich.
»Kommen Sie, gehen wir hinüber! Dann können Sie mir sagen, wie es Ihnen gefällt.«
Da es nicht weit außerhalb des Dorfes war, gingen sie zu Fuß. Achim Bernstein erklärte ihr natürlich, dass man nur zu Fuß ginge, um sich fit und munter zu halten.
Bettina erinnerte sich noch gut an die Villa der reichen Sängerin. Als sie das Tor mit dem hübschen Schild sah, dachte sie unwillkürlich: Hier möchte ich auch Patientin sein.
Aber es sollte ganz anders kommen.
Entzückt stellte sie fest, dass Lydia sie noch kannte und mit herzlicher Freude auf sie zukam.
»Frau Dr. Losse, dass Sie wiedergekommen sind! Das ist wirklich nett.« Sie sah Achim Bernstein an. »Und das haben Sie mir natürlich mal wieder verschwiegen, wie?«
»Ich habe es selbst erst heute erfahren«, rechtfertigte er sich.
Lydia hakte sich gleich bei Bettina unter. Die fühlte sich sofort geborgen und unendlich wohl bei Lydia Winter. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Damals, als sie gemeinsam einen jungen Menschen bis zu dessen Tod begleiteten. Wie sehr hatte Lydia sich für ihn aufgeopfert. Eigentlich alle. Jetzt kam auch Johanna um die Ecke. Ihr weißes Haar leuchtete über dem grünen Rasen.
»Wie hübsch!«, rief sie. »Werden Sie jetzt bei uns wohnen? Aber das ist ja ganz entzückend, Frau Doktor. Dann haben wir ja endlich wieder jemanden zum Verwöhnen.«
»He - und ich?«, rief Dr. Bernstein gespielt ärgerlich.
Lydia lächelte ihn an.
»Pah, Sie haben mich letztens im Schach geschlagen!«
Bettina hätte wieder in Tränen ausbrechen können. Aber diesmal in Freudentränen. Warum konnte ihre Mutter nicht so sein?
»Wir wohnen drüben im Kutscherhaus. Selbstverständlich werden wir Sie verwöhnen. Schon um Dr. Bernstein ein wenig zu ärgern.«
»Meine Damen, das ist eine Kollegin und keine Kranke!«
Johanna ging mit Bettina voran. Lydia blieb mit dem Arzt ein wenig zurück.
»Was ist mit ihr?«, fragte sie ernst. »Es ist mir, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Ist sie wirklich in Ordnung?«
Dr. Bernstein konnte sich auf seine alte Freundin voll verlassen. Er drückte ihr warm die Hand.
»Lydia, Sie haben es richtig begonnen. Sie braucht unsere Liebe. Ich erzähle Ihnen ihre Geschichte später einmal. Sie ist ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Sie ist so schutzlos, und man hat ihr sehr wehgetan.«
»Ein Mann?«, fragte Frau Winter.
Dr. Bernstein war empört.
»Immer sollen wir Männer die Schuld tragen! Nein, meine Liebe, ich muss Sie enttäuschen: ihre Mutter.«
Lydia dachte eine Weile nach. Dann sagte sie leise: »Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Kennen Sie die Losse-Werke?«
»Ach ja, richtig, ist sie mit dieser Familie verwandt?«
»Ihrer Mutter gehören die Werke.«
Lydia lächelte, doch mit harten Augen.
»Jetzt verstehe ich sie vollkommen. Ich habe ihren Vater gekannt, damals, als ich noch sang. Ein bezaubernder Mensch, doch er hatte einen Drachen zur Frau.«
Sie erreichten die beiden anderen vor dem Eingang der Villa. Bettina Losse kam aus dem Staunen nicht heraus. Im Garten sah sie einige Arbeiter, die ein Schwimmbad bauten. Die Villa sah gar nicht wie ein Sanatorium aus, sondern eher wie ein vornehmes Hotel. Auch die Inneneinrichtung war sehr geschmackvoll ausgewählt. Als sie aber den Tagessatz hörte, den man dafür nehmen wollte, blickte sie den jungen Arzt verwundert an.
»Aber das geht doch nicht. Dabei kommen Sie nie auf einen grünen Zweig, das ist ja unmöglich!«
Dr. Bernstein sah ihr ruhig in die Augen.
»Das, liebe Kollegin, möchte ich Ihnen gleich sagen: Reich, also reich werden Sie hier nicht. Jeder soll hier Heilung, mindestens Linderung finden. Und es werden auch nur Patienten aufgenommen, die die Behandlung nicht zu Hause durchführen können. Denn in der Hauptsache sollen sie sich selbst helfen. Wo kämen wir hin, wenn wir ihnen alles leichtmachen. Kranksein kann auch so etwas wie eine Droge sein. Sie kann den Menschen aushöhlen und gefügig machen. Sie sollen aber leben, verstehen Sie, leben!«
»Ich glaube, ich muss noch sehr viel lernen«, bekannte Bettina leise.
»Ich lerne auch immer noch hinzu. Keine Sorge, wenn Sie wirklich den Mut haben, neue Wege zu gehen, dann sind Sie hier genau richtig.«
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so großes Vertrauen in mich setzen, Kollege Bernstein.«
»Aber ich bitte Sie! Sie haben mich doch schon einmal vorzüglich vertreten.«
Sie errötete leicht.
»Danke.«
Dann sah sie die entzückende kleine Wohnung, die man ihr zur Verfügung stellen wollte.
»Versuchen Sie es, meine Liebe!«, meinte Johanna freundlich. »Weglaufen kann man immer noch. Aber ich wäre enttäuscht, ehrlich.«
Alle lachten.
Dann wurden die Patienten vorgestellt.
Ein älterer Mann, der wirklich nicht reich zu nennen war, brauchte auch nicht viel zu zahlen. Nur gerade so viel, wie man auch für einen Urlaub anlegen würde. Die Behandlungskosten übernahm glücklicherweise seine Krankenkasse. Allmählich wurden die Kassen wach. Sie erkannten: Wenn man nicht neue Wege ging, würde bald wohl nichts mehr gehen. Die Kosten stiegen ins Unermessliche, und kein Ende war zu erkennen. Sie hatten bereits bemerkt, dass Patienten, die zu Dr. Bernstein gingen, für lange Zeit gesund blieben, sich also keine neue Krankheit ankündigte, was oft an der Tagesordnung war, denn alle Medikamente haben ihre Nebenwirkungen.
Dieser Patient war ein verschmitzter lustiger Mensch; er lachte den Arzt freundlich an.
»Er ist erst vier Tage bei uns!«
»Ei, ehrlich?«, fragte der Mann.
»Ja, Paul!«
»Und was fehlt Ihnen?«, wollte die junge Ärztin wissen.
»Ach, das ist so eine Sache. Ich habe da einen offenen Fuß, verstehen Sie. Das Biest will und will nicht heilen. Hab’ selbst schon ewig daran herumgedoktert. Mein Hausarzt meint, das würde für immer so bleiben. Aber ich will das nicht glauben. Wozu haben die Herren denn so lange studiert? Tja, und dann hab’ ich von Dr. Bernstein gehört und bin also jetzt hier.«
Dr. Losse sah ihren Chef an.
»Ich versuche die Wunde mit Spitzwegerich und Zinnkrautwaschungen, Salben aus Ringelblume und Schwedenbitter - Sie haben schon mal davon gehört? - zu heilen.«
»Aber ...«
Paul, der lustige Patient, mischte sich ein.
»Und das Zeug muss ich auch noch selber suchen«, klagte er der jungen Ärztin sein Leid.
Bettina war sprachlos. Das hatten sie doch früher nicht tun müssen.
»Damit er nicht faul herumsitzt und dick wird, unser Paul«, erklärte Dr. Bernstein lachend. »Mein Vater hat ihm das Pflänzchen gezeigt, und jetzt wandert er jeden Tag durch die freie Natur und sucht es.«
Bettina musste unwillkürlich lachen.
»Das ist ja ungeheuerlich!«
»Ja, das hat sich mein Vater ausgedacht.«
»Ja, dieser alte Gauner«, meinte Paul fröhlich. »Aber ich sage Ihnen: Das macht richtig Spaß. Was man doch noch alles lernen kann! Ich bin schon ganz grün im Kopf.«
Bettina lachte hell auf und wirkte jetzt direkt ein wenig hübsch.
»Ja, dann muss ich jetzt weiter. Nach dem Abendessen muss ich wieder Kräuter anbringen. Immer frisch! Aber ich weiß ja jetzt, wo sie wachsen.«
Die Gruppe ging weiter, als Frau Dr. Losse sich wieder an den Chef des Hauses wandte.
»Das ist sehr ungewöhnlich, Herr Kollege. Meinen Sie nicht, dass man damit Unmut ernten wird?«
»Ich habe einen breiten Rücken. Niemand wird gezwungen, hier zu leben. Wer es nicht möchte, der kann gehen.«
Bettina glaubte einfach nicht an einen Erfolg. Lag es vielleicht daran, dass sie noch nach altem Schema dachte? Wie so viele?
Der zweite Patient war eine Dame. Und die konnte zahlen. Sie hatte Rheuma wie Johanna und wurde von dieser auch betreut. Auch sie schien sich hier ganz wohlzufühlen, obwohl sie nicht danach aussah, dass sie sonst arbeiten müsste.
»Nun?«, fragte der junge Arzt seine Kollegin abschließend.
»Werden immer so wenige Patienten hier sein?«
»Ich kann nicht in die Zukunft schauen, Frau Losse. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss zurück.«