Читать книгу Wie tief kann ein Engel fallen? Teil 1 und 2: Zwei Romane: Redlight Street 64/65 Doppelband - G. S. Friebel - Страница 7

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Ich halte es nicht mehr aus! Das ganze Leben macht mich noch verrückt! Das ist doch kein Leben, das ist doch Wahnsinn. Furchtbar ist das. Man fühlt sich wie in einem Käfig, und dann muss man katzbuckeln und schöntun und sich alles gefallen lassen. Andere haben immer recht, nie ich. Immer muss ich schweigen, die Zähne zusammenbeißen. Soll das immer so weitergehen?

Dies war ein stummer Schrei aus dem Herzen eines jungen Mädchens. Es war gerade siebzehn Jahre alt geworden. Helga Wenda hieß sie, sah nett aus, hatte eine manierliche Figur und konnte sich nach Meinung der Leute gut benehmen.

Helga war in dem Alter, in dem alle aufbegehrten, in dem sie mit der Wirklichkeit nicht einverstanden waren dachten, sie würden etwas vom Leben verpassen. Irgendwo war das Leben für sie schöner, aufregender, einfach anders. Und so waren sie mit nichts zufrieden. Sie dachten und träumten am hellen Tag, und wenn man sie ansprach, und es passte ihnen nicht, begehrten sie sofort auf oder schwiegen einfach verbissen.

Bei Helga kam noch hinzu, dass sie in einer Kleinstadt lebte. Für sie war das nur ein muffiges, trostloses Dorf, in dem wirklich nichts los war. Im Grunde genommen hatte sie recht, denn so viel Abwechslung wie in einer Großstadt gab es nun einmal auf dem Lande nicht.

Man hatte zwar die alte Schule umgebaut; dort konnte sich jetzt die Jugend treffen, Musik machen, diskutieren, zusammen sein. Für Helga war das aber alles muffig, und sie ging nicht hin. Auch wenn ihre Freundinnen, die gern dorthin gingen, sie dazu überreden wollten.

»Lasst mich doch mit dem verdammten Kram in Ruhe! Ich gehe nicht mit. Das ist doch wirklich kindisch.«

»Du weißt ja selbst nicht, was du willst«, antworteten sie ärgerlich.

»O doch, das weiß ich sehr wohl! Wenn man mich nur lassen würde. Aber alle glauben sie, noch an mir herumerziehen zu können. Das sage ich euch; eines Tages werde ich es euch allen zeigen, jawohl! Dann werdet ihr die Augen aufreißen und neidisch sein.«

Die Freundinnen lachten nur und meinten: »Du siehst zu viel in die Röhre, wirklich. Glaubst du etwa an den Schmus, dass du eines Tages entdeckt wirst? Mann, da lachen ja die Hühner! Du bist eine blöde, eingebildete Ziege – mehr nicht. Kommst dir zu schade für alles vor. Aber wie du willst! Du glaubst also, wir sind kein richtiger Umgang für dich; nun ja, dann musst du eben sehen, wo du besseren findest.«

So böse hatte sie eigentlich gar nicht werden wollen, aber es stank ihr wirklich, und sie war wütend – wütend auf die Eltern, den Bruder, das schreiende Baby, auf ihre Chefin und auf sich selbst.

Missmutig hockte sie auf dem Mäuerchen und sah den Mädchen nach, wie sie lachend die Straße entlangwanderten. Hinter ihnen eine Meute Jungen.

Helga schob die Lippen trotzig nach vorn. Nein, dachte das Mädchen wütend und ballte die Hände, nein, ich werde hier nicht versauern, ich werde es nicht. Ich will etwas erleben, das große Leben genießen. Hier ist doch alles so kleinkariert, so doof, so genormt. Ich weiß ganz genau, dass sie hinter den Gardinen sitzen und den lieben langen Tag auf die Straße schielen, die Klatschweiber. Ihnen entgeht nichts. Ich hasse sie alle, alle! Warum lassen sie mich nicht fort? Warum nicht? Lehre fertigmachen! Puh, dachte sie wild. Friseuse, wirklich, das ist ein toller, ausgefallener Beruf, wirklich.

Sie sprang vom Mäuerchen und schlenderte nach Hause zurück. Als sie das elterliche Grundstück erreichte, fühlte sie sich noch deprimierter. Dieses kleine Einfamilienhaus, das so gar nichts hergab. Ja, dachte sie sehnsüchtig, wenn ich noch auf einem Gut zur Welt gekommen wäre, dann würde ich gern auf dem Lande wohnen. Dann könnte ich reiten und meine Freunde einladen, und wir würden einen Ritt durch den Wald machen. Überhaupt, wenn man reiche Eltern hat, ist das Leben viel angenehmer und feiner. Dann kommt man mit den richtigen Leuten zusammen und vermuffelt nicht so.

Die Eltern besaßen ein kleines Siedlungshaus, nach dem Kriege mit viel Mühe erbaut. Sie waren stolz auf ihr Heim und wussten nichts von den aufbegehrenden Gedanken ihrer jüngsten Tochter. Sie glaubten, sie sei zufrieden.

Helga stand nun am Zaun und schaute missmutig in den Garten: alles so fade, kein bisschen schick. Und dann das Haus selbst. Als Egon, ihr Bruder, sagte, er wolle heiraten, da hatte sie sich gefreut und gedacht: Nun haben wir mehr Platz, und ich richte mir oben eine tolle Bude ein – so richtig nach meinem Geschmack. Ewig verdiene ich ja nicht so wenig. Wenn ich erst mal fertig bin, dann kaufe ich mir einen Wagen und fahre damit in die Stadt und bin nur selten daheim. Ja, sie hatte große Pläne gehabt.

Aber dann waren ihre Pläne zerbrochen. Egon war ein schlaues Bürschchen. Da er das Haus später ohnehin mal bekam, so überzeugte er die Eltern davon, dass er jetzt schon oben einziehen könnte. Dann würde er ja auch mithelfen, die letzte Hypothek zu bezahlen. Den Eltern war das recht. Der Vater war nur ein kleiner Arbeiter, musste jeden Pfennig zusammenkratzen, und so hatte man also den Egon mit seiner jungen Frau aufgenommen. Helga bekam unten die winzige Abstellstube als Zimmer zugewiesen.

Vielleicht wäre auch jetzt noch alles gutgegangen. Aber da war Egons Frau Eva. Sie hatten selbstverständlich heiraten müssen. Helga hatte damals gedacht: Das wird mir nie passieren. Mit einem dicken Bauch vor dem Pfarrer stehen, nee, das nicht. Und überhaupt, ich will keine Kinder. Die belasten nur und vermiesen einem das Leben. Nein, ich will etwas werden.

Eva war erst achtzehn, also nur ein Jahr älter als Helga, als sie das Kind zur Welt brachte. Egon war erst zwanzig, und sie waren gar nicht lange zusammengegangen, als es passiert war. Bestimmt hätten sie nicht geheiratet, wenn das Kind sich nicht angemeldet hätte. Auf dem Lande war ein uneheliches Kind noch eine Schande, und so wurde denn geheiratet. Aber Eva war missmutig und ärgerlich. Und weil sie jetzt ständig das Kind hüten und Egon bedienen musste und sie selbst noch so gar nichts vom Leben hatte, ließ sie ihre Wut an Helga aus. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass diese fortgehen konnte, keine solchen Pflichten hatte.

Alle hackten sie auf Helga herum. Zu Hause war es schon längst nicht mehr gemütlich. Dazu musste jeder Pfennig fünfmal umgedreht werden. Sie brauchte nur mal in ihrem Zimmer zu sitzen und zu lesen, schon war der Vater da und schimpfte, sie würde zu viel Licht verbrennen und knipste es einfach aus.

»In der Stube ist Licht, dort kannst du lesen, basta.«

»Dass man aber mal allein sein will, das begreifst du wohl nicht!«, schrie sie ihm nach.

Aber sie war noch nicht volljährig, und so durfte sie nichts anderes tun als sich zu fügen.

Jeden Morgen musste sie früh aufstehen und in den einzigen, kleinen Frisiersalon des Ortes gehen, um sich zunächst als Putzfrau zu betätigen, denn sie war ja noch Lehrling. Dann musste sie der Meisterin zur Hand gehen. Und dafür sollte sie noch dankbar und froh sein.

»Viele in deinem Alter bekommen keine Lehrstelle. Du kannst wirklich froh sein, dass ich dich genommen habe, Helga. Und jetzt mach mal ein bisschen flott, und mach nicht so ein muffiges Gesicht. Was sollen denn die Kunden denken?«

Die Kunden, das waren die Mamas und Omas von den herumliegenden Höfen und Arbeiterfrauen, die alle drei Monate nur kamen; zu mehr reichte das Geld nicht. Und Trinkgeld, du liebe Güte, damit kam sie wirklich weit!

Ganz klar und deutlich sah sie die weitere Zukunft vor sich: Mit Ach und Krach würde sie die Prüfung bestehen, das wusste sie jetzt schon. Und dann war sie Gesellin mit einem mickrigen Lohn. Sie würde einen Mann kennenlernen, so einen wie Egon, und man würde eine Zeitlang miteinander gehen, paar Feste mitmachen, und dann verlobte man sich und zog in eine kleine Wohnung, man bekam einen dicken Bauch, Kinder und lebte so wie Mutter. Sie nannten es Glück. Ein Mädchen, das nicht verheiratet war, das hatte auf dem Land einen schweren Stand.

Helga wollte mehr, viel mehr! Nein, sie würde sich nicht so einpacken lassen. Sie würde rausziehen, in die große, weite Welt und das wirkliche Leben genießen.

Wie sie nun so am Zaun stand und grübelte, da kam ihr plötzlich der Gedanke: Warum soll ich eigentlich so lange warten, bis ich volljährig bin? Diese verdammte Lehre! Das Frisieren hängt mir zum Halse heraus. Ich will nicht mehr! Wenn, dann mache ich mich selbst schön.

Ich hasse sie alle, und ich kann sie nicht mehr ausstehen. Wenn ich gehe, dann haben sie mehr Platz im Haus. Froh können sie sein. Jawohl, und das schwöre ich ihnen, ich komme erst zurück, wenn ich etwas geworden bin. Mit einem großen Wagen werde ich vorfahren, und einen Pelz werde ich tragen und rauchen.

Wenn sich erst mal ein Gedanke in ihrem Gehirn festgesetzt hatte, dann ließ er auch nicht mehr so schnell locker. Helga öffnete die kleine Gartentür und ging in den Garten. Sie setzte sich auf die Bank und dachte weiter nach.

Doch dabei störte sie das Geschrei des Babys. Es war einfach zum Verrücktwerden!

Oben wurde das Fenster geöffnet, und Egon rief: »Kannst du den Kleinen nicht mal ausfahren? Du hast doch nichts zu tun.«

Helga gab keine Antwort.

Da kam die Mutter in den Garten.

»Wirklich«, sagte sie müde. »Es muss dir doch Freude machen, und außerdem ist das eine gute Übung für dich.«

»Wie bitte?«, keuchte Helga verblüfft. »Was ist das?«

»Gott, tu doch nicht so! Es wird nicht lange dauern, dann hast du auch Kinder. Du könntest Egon wirklich den Gefallen tun. Er muss die ganze Woche arbeiten und möchte sich am Sonntag ausruhen.«

»Muss ich vielleicht nicht auch in der Woche arbeiten?«, gab sie hitzig zurück.

»Du hast keine Familie, das ist etwas ganz anderes«, sagte die Mutter.

»Ich habe ihn zu dieser Heirat nicht getrieben!«, schrie sie wütend. »Wenn er Ruhe haben will, soll er sein Balg selbst ausfahren!«

»Helga, du benimmst dich wirklich unmöglich. Schrei nicht so laut. Was sollen denn die Nachbarn von uns denken.«

»Das ist mir egal, völlig egal. Ich will auch meine Ruhe haben!«

Sie rannte zum Zaun.

»Wo willst du hin?«

»Das weiß ich noch nicht«, gab sie wütend zurück. »Auf jeden Fall komme ich so schnell nicht wieder.«

»Um acht Uhr bist du spätestens zu Hause!«, rief die Mutter ihr nach.

Voller Zorn rannte sie los, einfach die Hauptstraße hinunter. Helga wusste selbst noch nicht, wohin sie gehen sollte. Vielleicht doch zum Jugendtreff? Sie biss die Zähne zusammen. Nein, sie würde sich doch nicht lächerlich machen!

Als sie zur Besinnung kam, war sie schon weit außerhalb des Ortes auf der Landstraße. Auf einem dicken Findling machte sie erst einmal halt, um zu verschnaufen. Immer noch sehr wütend, blickte sie zum Dorf mit der kleinen Kirchturmspitze zurück.

Sie sollte wirklich sehr lange fortbleiben. Aber das wusste sie jetzt noch nicht.

Wie tief kann ein Engel fallen? Teil 1 und 2: Zwei Romane: Redlight Street 64/65 Doppelband

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