Читать книгу Wie tief kann ein Engel fallen? Teil 1 und 2: Zwei Romane: Redlight Street 64/65 Doppelband - G. S. Friebel - Страница 8
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ОглавлениеHelga schob ihr blondes Haar aus dem Gesicht. Sie war noch nicht ganz fertig, noch nicht ganz Frau. Im Wachstum hatte sie noch ein wenig von dem Babyspeck, und irgendwie wirkte das noch rührend und hilflos. Überhaupt hatte sie ja so gar keine Erfahrung, hatte nur im Dorf gelebt, im Trott mit den übrigen ihr Leben gelebt.
Als sie nun so allein auf dem Stein saß, ein wenig unglücklich und böse, wusste sie selbst nicht, was sie so recht wollte. Bestimmt wäre sie auch wieder um acht Uhr wie an jedem Abend pünktlich zu Hause gewesen, denn wo hätte sie denn sonst hingehen können – wenn nicht in diesem Augenblick ein elegantes Auto neben ihr gehalten hätte.
Wie konnte Helga Wenda auch ahnen, dass es sich bei dem schicken Mann um einen Zuhälter handelte? Ja, wenn man ihr gesagt hätte, er ist ein Zuhälter, dann hätte sie mit diesem Wort nicht einmal etwas anfangen können. Wenn die Aufklärungswelle auch sämtliche Großstädte überschwemmt hatte, so war auf dem Lande doch vieles ruhiger und normaler verlaufen. Man sprach noch immer nicht über gewisse Dinge – schon gar nicht in Gegenwart von Kindern und Jugendlichen. In der Großstadt hatte man längst herausbekommen, dass es der beste Schutz war, wenn man darüber offen sprach, die Jugendlichen auf diese Gefahren hinwies. Wie konnte man ihnen entgehen, wenn man so ahnungslos war wie Helga?
»Hallo!«, sagte der Mann. Er sah wirklich fabelhaft aus: braungebrannt, mit blitzenden Zähnen, ein todschicker Anzug, und dann erst das Auto!
Helga dachte spontan: Du liebe Güte, das ist bestimmt einer vom Film. So schick sehen die Leute im Fernsehen aus, da kenne ich mich aus.
»Hallo«, erwiderte sie zaghaft und überlegte dabei blitzschnell, wer er wohl sein könnte.
»Machst du Anhalter?«
Helga war verlegen aufgestanden und sah ihn an. Mit einem Blick sah der Zuhälter, dass er es hier mit einer Naiven zu tun hatte. Im Augenblick brauchte er wieder frisches Personal, und er sagte sich: Warum nehme ich die nicht gleich mit? Das ist wirklich ein leckeres Mädchen, und ich will wetten, dass sie noch Jungfrau ist.
Helga dachte sehr schnell nach: Wieder sah sie die Landstraße zurück. Im Augenblick war niemand zu sehen. Wie ausgestorben lag sie in der Sonne. Wieder musste sie an ihr Zuhause denken. Wenn sie heute Abend zurückkam, würde es wieder Krach geben – und morgen wieder diese triste Arbeit. Hatte sie vorhin nicht daran gedacht, schon jetzt fortzugehen? Aber brauchte man dazu nicht Kleider und etwas Geld?
»Ich möchte nach Köln und mir Arbeit suchen«, sagte sie hastig und wurde noch rot dabei.
»Was hast du denn bis jetzt gemacht?«
»Friseuse«, lispelte sie.
Er hatte ein mokantes Lächeln in den Mundwinkeln. Nun ja, dachte er, ich hab es schon mal schlimmer getroffen.
»Als was willst du denn arbeiten?«
Helga sagte: »Das ist mir egal. Hauptsache, ich verdiene Geld damit und kann mich selbst ernähren.«
»Du willst also durchbrennen?«
Sie hatte jetzt ganz heiße Backen und sah zu Boden. Dann sagte sie aber trotzig: »Das geht Sie nichts an.«
»Nein, das geht mich nichts an«, sagte er zweideutig, aber sie bemerkte es natürlich nicht.
»Ich bräuchte jemanden, der mir meine Wohnung sauber macht. Würdest du dir das zutrauen?«
Helga starrte ihn an. »Sie würden mich wirklich nehmen?«, rief sie voller Begeisterung.
»Aber ja doch, Kleine! Ich wäre wirklich froh, wenn du es tun würdest.«
Sie schwamm in Seligkeit. O du meine Güte, dachte sie bei sich. Das ist ja wie im Film, nein, wie im Märchen. Vorhin haben mich meine Freundinnen noch ausgelacht. Und jetzt ist hier ein Schauspieler, und ich soll bei ihm arbeiten – wenn auch zuerst nur seine Wohnung rein gehalten werden soll. Du meine Güte, das kann ich ja nun wirklich! Aber bestimmt werde ich viele tolle Leute kennenlernen und eines Tages …
Ihr war richtig schwindlig.
»Was ist jetzt?«, sagte er und täuschte Eile vor. »Ich hab nicht viel Zeit, Kleine.«
»Ich hab aber nichts bei mir. Ich meine, keinen Koffer und so. Und zurück kann ich auch nicht, meine Eltern …«
»Du liebe Güte, Kleinchen, glaubst du wirklich, in Köln gibt es keine Geschäfte? Morgen machen sie auf, und wir kaufen dann für dich alles ein.«
»Das wollen Sie wirklich tun?«
Helga schwebte auf Wolken. Und sie dachte keinen Augenblick daran, dass ein wirklich vielbeschäftigter Schauspieler sich bestimmt nicht mit einer total fremden Person abgeben würde, und erst recht nicht jemanden in sein Haus aufnehmen würde, den er nicht kannte. Helga dachte gar nicht. Im Augenblick hatte sie nur Stroh im Kopf.
Selig stieg sie in den todschicken Wagen und ließ sich genüsslich in die weichen Polster gleiten. Sie träumte von der ganz großen Welt.
Und der Zuhälter? Was dachte er? Leichter kann es wirklich nicht gehen. Wenn ich das den anderen erzähle, werden sie es mir nicht glauben, wirklich nicht. Und dazu noch ganz unverdorbenes Gemüse! Also, die ist wirklich so blöd, wie sie lang ist. Na ja, bald werden ihr die Augen aufgehen. Aber dann, Püppchen, dann ist es zu spät für dich. Pech für dich, Glück für mich. Die erste Zeit wirst du das große Geld für mich scheffeln, und wenn du aufsässig wirst, setze ich dich beim nächsten Pokerspiel ein, und dann kann ein anderer mit dir machen, wozu er Lust hat.
»Ist es sehr weit bis nach Köln?«
»Fünfzig Kilometer. Warst du denn noch nie dort?«
»Doch, mit der Schule, einmal. Da haben wir dort den Dom und Museen besucht.«
»Also, dort war ich noch nie«, sagte der Zuhälter.
»Es war auch furchtbar langweilig«, sagte Helga und lachte.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Helga Wenda«, sagte sie eifrig wie ein kleiner Hund, der gehorsam alles tut, was von ihm verlangt wird.
»Mein Name ist Roger«, sagte der Zuhälter. Er sprach es natürlich englisch aus.
Die Kleine war hingerissen. Sie hatte es ja gleich gewusst, er war eine Berühmtheit. In ihrem Dorf hieß keiner Roger. Hänschen und Josef, Paul, Peter – wenn’s ganz hoch kam, dann wohl mal Martin oder Andreas. Roger, himmlisch, wie hübsch das doch klang.
»In Köln ist das Leben wohl aufregend, wie?«
Voll Vertrauen blickte sie ihn an. Und der Mann kannte kein Erbarmen und auch kein Mitleid. Die ganze Zeit ödete ihn das dumme Gerede der Kleinen an, aber er hielt sich zurück. Zuerst wollte er sie fest im Griff haben, dann würde sich sein Wesen ändern. Sie würde schon noch Augen machen.
»Erzähl doch von zu Hause«, sagte er. Schließlich musste er wissen, was auf ihn zukam. Aber vorläufig würde man die Kleine nirgends finden. Und niemand hatte sie beobachtet, als sie in seinen Wagen eingestiegen war. Die Bullen konnten sich die Augen aus dem Kopf suchen. Er hatte es aber auch mal mit Eltern zu tun gehabt, die nicht locker gelassen hatten. Sie hatten sich selbst auf die Suche gemacht und alles in Köln, das hieß die berüchtigten Kneipen, Straßen und Bars abgesucht. Zum Glück hatte er sofort einen Hinweis bekommen, so hatte er das Gänschen gleich nach Frankreich bringen lassen. Das war ein richtiges Verlustgeschäft gewesen. Aber immer noch besser, auf Geld zu verzichten, als im Knast zu landen. Dazu war das Leben viel zu schön und er außerdem noch zu jung.
Unbefangen erzählte Helga von daheim – von der Eintönigkeit des Lebens, von den einfachen Eltern, dem zankenden Bruder und ihrer Chefin. Der Zuhälter wusste nun, dass die sich nicht auf die Strümpfe machen würden, um ihre Tochter in Köln zu suchen. Dazu waren sie zu einfach und zu unbeholfen. Sie würden der Polizei eine Nachricht geben, die würde ein wenig suchen, und dann würde Gras über die Sache wachsen. In drei bis vier Wochen also hatte sich alles beruhigt. Und dann konnte er sie auf die Straße schicken und das große Geld verdienen lassen. Vorher würde sie im Geheimen für ihn auf Anschaffe gehen. In Köln gab es die geheimen Clubs, von denen nicht mal die Polizei etwas wusste. Nur Eingeweihte und deren Begleiter hatten Zutritt zu diesen Hinterräumen oder Kellergewölben.